Arif Sagdic, Überlebender der NSU-Morde, erzählt von seinen Erfahrungen vor und nach dem NSU-Prozess

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27.10.2019

Arif Sagdic

„Jeder muss erfahren, was geschehen ist“

Arif Sagdic hat die Terroranschläge des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) überlebt. Es gibt nur wenige Menschen, sagt er, die mit den Überlebenden des NSU gesprochen und ihnen zugehört haben.

Dabei ist das Attentat in der Kölner Keupstraße, das er überlebte, fünfzehn Jahre her und es vergeht kein Tag, an dem er nicht daran denken muss. Vor allem deshalb, weil der Rassismus, den er als Ursache erlebt, vertuscht wird. Aus Opfern rassistischer Gewalt sollten Täter gemacht werden, ein Verhalten, mit dem der Staat sich trotz anderslautender Aussagen aus der Verantwortung zu ziehen versuchte. Auch nach dem Ende des Münchner NSU-Prozesses im Sommer 2018 sind nach wie vor mehr Fragen offen als beantwortet. Das Versagen der Behörden ist auch hier – wie immer in solchen Fällen – für die Opfer und Überlebenden beinahe noch schlimmer als der Anschlag selbst. Dass hinter den Morden und ihrer Aufklärung eine Kraft steckt, gegen die man nur gemeinsam gewinnen kann, dessen ist sich Arif Sagdic sicher. Er gibt trotz der Verletzungen und Enttäuschungen nicht auf und fordert alle auf, angesichts rassistischer Gewalt nicht zu schweigen, sondern dagegen anzukämpfen.

Daniela Collette, Ärztin aus Bochum, hat Arif Sagdic in Köln für den Fritz Bauer Blog interviewt. Wir danken der Initiative „Keupstraße ist überall“ für ihre Unterstützung des Interviews.

DC: Hallo, Arif, vielen Dank für das Interview. Du wurdest in der Türkei geboren und Du hattest mir erzählt, dass Deine Mutter Türkin ist und Dein Vater Kurde. Kannst Du uns etwas über Deine Jugend und Deinen Weg nach Deutschland erzählen?

AS: Mein Vater ist kurdischer Abstammung, meine Mutter ist türkischer Abstammung, ich selbst bin jemand, der Rassismus verabscheut und ich trete Menschen generell positiv gegenüber und habe Respekt vor jeglicher Ethnie, Religion, Sprache und Kultur. Ich bin 1993 nach Deutschland gekommen und habe angefangen, bei meinem älteren Bruder zu arbeiten. Die Tage sind halt so vergangen. Deutschland habe ich als ein tolles Land erachtet, in dem es eine wahrhafte Demokratie gab, Menschenrechte geachtet werden, ich war glücklich. Dann habe ich geheiratet, wir haben Kinder bekommen, ich habe gearbeitet, alles war gut. (…) Als ich gekommen bin, war alles sehr gut, die Arbeit lief gut, unser Geschäft lief gut, alles war wunderbar. Ich habe neue Leute kennengelernt, (…) die in unsere Keupstraße gekommen sind, egal ob Deutsche oder Türken oder Personen aus anderen Ländern, unsere Keupstraße war voller Leben, keinerlei rassistische Begegnungen oder Ähnliches. Alles lief sehr schön, die Menschen waren uns gegenüber positiv eingestellt, die Arbeit lief immer besser, wir haben ständig neue Kunden dazugewonnen, so lief es halt.

„Die gesamte Schuld wurde uns angelastet“

DC: Wir machen jetzt einen Sprung in der Zeit: 1993 bist Du nach Deutschland gekommen und hast Dein Geschäft hier aufgebaut, und dann kam es zu dem schrecklichen Ereignis. Am 9. Juni 2004 explodierte um 15:56 Uhr ein Sprengsatz mit großer Sprengkraft und 800 Zentimeter langen Zimmermannsnägeln vor dem Friseursalon direkt gegenüber von Deinem Geschäft. Mindestens 23 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt: Wie hast Du den Tag erlebt?

AS: Also wir saßen gerade draußen, wir waren drei Freunde, es waren Kunden da, das Wetter war schön, es war ungefähr einen Monat, bevor die Menschen alle in den Urlaub fahren würden. Sofort, nachdem wir in den Laden gegangen sind, dreißig bis 35 Sekunden später, ist die Bombe hochgegangen. Ich habe mich sofort auf den Boden gelegt, die anderen waren auf der anderen Seite im Bereich der Kasse. Ich wollte natürlich aufstehen, aber weil ich befürchtete, dass eine zweite Bombe explodieren könnte, bin ich liegengeblieben. Meine Freunde hatten auch alle Angst und lagen auf dem Boden. Ich habe Stimmen gehört, die „Hilfe!“ gerufen haben. Als ich meinen Kopf anhob, sah ich, dass das Fenster ganz zersprungen war. Nach zwei Minuten bin ich aufgestanden, aber ich habe auf meinem linken Ohr, wegen des enormen Geräusches, das die Bombe auslöste – ich habe sie in meinem Körper gespürt – erstmal zehn bis fünfzehn Sekunden auf diesem Ohr nichts gehört. Wir sind dann ungefähr nach zwei Minuten aufgestanden, die Vitrine vom Laden, die relativ dick war, war zersprungen. Dieses Geschrei draußen, dieses Blut überall, war ein sehr schmerzhafter Anblick. Als ich die Menschen gesehen habe, wurde mir ganz komisch, alles war voller Blut, Menschen haben geschrien, nach Hilfe gerufen. Und wir konnten natürlich wegen der Befürchtung, dass eine weitere Bombe explodieren könnte, auch nicht rausgehen, wir konnten nicht zu Hilfe eilen, wir hatten Angst. Nach achtzehn bis zwanzig Minuten kamen Kranken- und Feuerwehrwagen, die eingegriffen haben. Da waren wir noch immer im Laden drin.

Die ersten vier bis fünf Minuten, nachdem die Bombe explodiert war, habe ich im Laden die Nägel gefunden, ungefähr fünf bis sechs Stück. Sie haben uns nach dem Bombenanschlag nach zwei bis drei Tagen der Untersuchung wieder in den Laden gelassen. Nachdem ich drinnen aufgeräumt hatte, habe ich circa zehn Nägel gefunden und draußen vor dem Laden habe ich auch noch welche gefunden, insgesamt habe ich um die fünfzig Nägel gefunden. Jeder um die zehn Zentimeter lang, manche waren gebogen, einige wie abgebrannt.

DC: Obwohl für viele der Anschlag in der Keupstraße als offensichtlich rassistisch motiviert erkennbar war, ermittelte die Polizei bis zur Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 gegen Migrant_innen. Der damalige Innenminister Schily schloss bereits einen Tag nach dem Anschlag einen terroristischen Hintergrund aus und sprach von einem kriminellen Milieu in der Keupstraße. Was hat das, diese Verdächtigung, in Dir und den anderen Betroffenen ausgelöst? Wie hast Du diese jahrelangen Verdächtigungen erlebt?

AS: Mit den Aussagen von Schily waren wir eindeutig die Verdächtigten. Diese Aussagen kamen wirklich unerwartet. Könnt Ihr Euch das vorstellen, die gesamte Kleinhändlerschaft in der Keupstraße wurde beschuldigt. Indem er sagte, dass es kein rassistisch motivierter, gegen Ausländer gerichteter Anschlag war, hat er uns zerstört. Die gesamte Schuld wurde uns angelastet. Das haben wir nicht verdient. Dass der damalige deutsche Innenminister so etwas von sich gegeben hat, hat uns fertig gemacht. Wir haben fast schon angefangen uns gegenseitig zu verdächtigen. Dass der Innenminister von Deutschland so etwas gesagt hat, war wirklich dramatisch. Das hatten wir nicht erwartet. Es hat uns sehr traurig gemacht. Ich habe jeden Tag meine Frau, als sie von der Arbeit kam, gefragt, ob die Täter schon gefunden worden sind. Meine Frau hat auf ihrer Arbeit am PC nachgesehen, wir konnten natürlich auf der Arbeit die Nachrichten nicht mitverfolgen. Wenn ich abends dann zum Essen nach Hause kam, habe ich meine Frau gefragt, ob er gefunden wurde. „Nein, er wurde nicht gefunden,“ sagte sie immer. Man muss offen sagen, ich möchte jetzt natürlich nicht der gesamten deutschen Gesellschaft und dem gesamten deutschen Volk Vorwürfe machen, aber man wusste, wer es war, es wurde aber verheimlicht. Dass man uns all die Jahre von 2004 bis 2011 beschuldigte, daran trägt der Staat eine ganz große Mitschuld. Wir waren niedergeschmettert von den Worten des Innenministers.

„Ich hatte Angst vor den zivilen Polizisten“

AS: Ich möchte dem noch hinzufügen: Damals, zwischen 2004 bis 2011, während der gesamten Zeit, in der die Täter nicht ausfindig gemacht wurden, wurden immer wir beschuldigt und haben uns deswegen fast schon gegenseitig misstraut. „Wer könnte es gewesen sein?“, haben wir uns gefragt. Jedoch kann ich offen sagen, dass ich an dem Tag, an dem die Bombe explodierte, in genau jener Stunde, als ich mich auf den Boden gelegt habe, gewusst habe, wer es war. Aber natürlich traut man sich nicht, es offen zu sagen. Ich wurde dreimal von der Polizei verhört, ich konnte es die ersten zwei Male gar nicht offen ansprechen, ich hatte Angst vor den Polizisten, vor den zivilen Polizisten. Man traut sich einfach nicht. Je mehr die Tage vergingen, haben wir uns untereinander gefragt, ob es einer von uns war, wir wussten es, aber wir konnten es nicht aussprechen. Das war ein sehr großer Schmerz, wir haben unter der Nicht-Auffindung der Täter sehr gelitten. Wenn die Täter Ausländer gewesen wären, da bin ich mir sicher, wären sie innerhalb von zwei bis drei Tagen gefasst worden. Sie haben es künstlich in die Länge gezogen, ich wiederhole noch einmal, ich möchte nicht das gesamte deutsche Volk beschuldigen, aber weil es ein Deutscher war, der all das getan hat, wurde er extra nicht gefasst. Es gibt in Deutschland eine dunkle fragwürdige Macht, die nicht wollte, dass sie gefasst werden, seien es Abgeordnete im Parlament, rassistische Medien, Zeitungen. Es gab Leute, die wollten einfach nicht, dass sie gefasst werden. Der deutsche Geheimdienst ist in dieser Hinsicht sehr stark, aber weil es einer aus dem eigenen Volk war, haben sie es leider so künstlich in die Länge gezogen.

DC: Wie hast Du die polizeilichen Ermittlungen und die Berichterstattung in der Presse, als von „Dönermorden“ die Rede bei den Mordanschlägen war, wo noch gar nicht bekannt war, dass es einen Zusammenhang gab zwischen dem Anschlag in der Keupstraße, wie hast Du das erlebt?

AS: Vor dem Bombenanschlag haben wir natürlich auch von den vorherigen Anschlägen auf Dönerverkäufer, Blumenverkäufer gehört, ich war deshalb auch misstrauisch. Manchmal habe ich mich gefragt: Kann uns so etwas auch passieren? Ich habe extra darauf geachtet, die Täter waren acht, ich wusste natürlich nicht genau, wie viele Menschen sie vor unserem Anschlag 2004 getötet haben, aber ich war misstrauisch. Ich habe mir auch gesagt, dass es bei uns in der Keupstraße vielleicht eher nicht passieren würde, weil wir hier sehr viele türkische Läden dicht nebeneinander haben. Die Getöteten waren immer in so kleinen Döner- oder Blumenläden, die die einzigen in ihren Straßen waren, da hat man sich das getraut. Ich habe nicht gedacht, dass man sich auch trauen würde, das in unserer Keupstraße zu tun, dass dort Menschen umgebracht werden, dass alles auf einmal in Schutt und Asche liegt. Weil die Geschäfte bei uns dicht an dicht stehen, habe ich mir eingebildet, dass sie das nicht tun könnten, dass es unmöglich sei. Aber ich hatte auch eine gewisse Angst in mir, ob das nicht doch auch uns angetan wird. Die Medien haben natürlich darüber berichtet, aber ich sage mal, die wahren Medien, die gegen diese Leute waren, ich sage mit Gewissheit, sie wussten, wer es war, aber die rassistischen Medien haben immer gesagt, dass es einer von uns war. Wenn wir ganz ehrlich sind, wussten sie alles, aber natürlich hat man nicht darüber berichtet.

DC: Kam es nach der Selbstenttarnung des NSU zu irgendeiner Entschuldigung oder Worten des Bedauerns von öffentlicher Seite, zum Beispiel des Innenministeriums?

AS: Ich persönlich habe keine Entschuldigung erhalten, aber einige Freunde von mir wurden vom Bundespräsidialamt eingeladen, ich jedoch nicht. Ich weiß nicht, ob man sich bei ihnen entschuldigt hat, aber in die Keupstraße ist kein staatlicher Vertreter gekommen, um sich bei uns zu entschuldigen.

„Jeder muss erfahren, was geschehen ist, insbesondere die deutsche Öffentlichkeit“

DC: Jetzt machen wir nochmal einen Sprung in der Zeit: Im Mai 2013 begann der Prozess gegen Beate Zschäpe und die NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben, Carsten Schulze, Holger Gerlach und André Eminger. Du warst von Anfang an als Nebenkläger dabei, zusammen mit Frau S., und ihr wurdet gemeinsam von dem Anwalt Alexander Hoffmann vertreten. Das Gericht wollte Dich und Frau S. aber gar nicht als Nebenkläger zulassen und in der Anklageschrift taucht ihr auch nicht auf, ihr musstet Euch da erst reinkämpfen, in den Prozess. Woher hast Du den Willen und die Kraft genommen, an dieser Stelle noch weiterzukämpfen?

AS: Ich möchte so sagen, was wir in der Zeit zwischen 2004 und 2011 erlebt haben, hat sich innerlich in uns angestaut. Ich könnte tagelang darüber reden, was wir alles ertragen mussten. Das hat uns eine gewisse Kraft gegeben. Auch die Einrichtung der Initiative Keupstraße hat natürlich viel dazu beigetragen, ich möchte an dieser Stelle jedem einzelnen von ihnen danken. Wäre die Initiative schon damals da gewesen, als die Anwälte uns angeworben haben, wäre es bestimmt noch besser gewesen. Wir wussten damals nämlich gar nicht, was wir tun sollten. Dann hat irgendwann der Prozess angefangen. Dass sie uns nur als Nebenkläger gesehen haben, hat uns verletzt, wir waren die Menschen, die den Anschlag selbst erlebt hatten, was wir für ein Leid ertragen mussten, wie die Polizei mit uns umgegangen ist, die Verfolgungen, wie die Polizei mich angewiesen hat, still zu sein, als ich gesagt habe, dass es Neonazis gewesen sind, dass ich vier bis fünf Monate bis vor meine Haustür verfolgt wurde, die psychischen Belastungen, die Beeinträchtigungen meines sozialen Lebens, das hat sich alles angestaut. Zusammen mit der Initiative sind wir dann stärker geworden. Wären sie nicht gewesen, hätten wir wirklich allein dagestanden. Auch mein Anwalt Alexander Hoffmann, der als mein zweiter Anwalt mit großem Mut miteingestiegen ist, aus der Initiative insbesondere Selda, Julian, nachdem Julian gegangen ist Fabian, sie haben uns alle sehr geholfen und uns ermutigt. Dass sie immer mit uns gewesen sind, wenn wir nach München gefahren sind, das hat uns sehr viel Kraft gegeben. Nur so konnten wir durchhalten. Ich danke diesen Menschen vielmals.

DC: Hast Du in dem Prozess Aufklärungswillen beobachtet? Wie hast Du den Prozess erlebt?

AS: Ich habe mit meinen ganzen Ressourcen alles dafür gegeben, um die deutsche Öffentlichkeit, die Medien, das deutsche Volk über all das zu informieren, was wir erlebt haben. Ich wollte, dass sie es erfahren. Ich wollte, dass ganz Deutschland davon weiß, gerade deswegen wollte ich bei Gericht aussagen, mich verteidigen. Ich wollte allen Leuten darüber berichten, allen Leuten, die in uns nicht nur den Ausländer sahen und aufrichtig über unsere Erlebnisse berichten wollten. Ich habe alles dafür gegeben, um über die verstorbenen Menschen, über das Leid der Betroffenen zu informieren. Deswegen habe ich versucht, diesbezüglich an allen möglichen Veranstaltungen teilzunehmen. Ich wollte auch, dass man außerhalb von Deutschland davon erfährt, und ich gebe bis zum heutigen Tage immer noch alles, was in meiner Macht steht, um das zu verbreiten. Jeder muss darüber erfahren, was geschehen ist, insbesondere die deutsche Öffentlichkeit. Ich möchte, dass das gesamte deutsche Parlament meine Stimme hört. Ich hätte mir auch gewünscht, dass zumindest zehn  bis fünfzehn Parlamentsabgeordnete an den Verhandlungen teilgenommen hätten, aber leider ist das nicht passiert.

„Ich wusste, dass niemand wirklich wollte, dass die Sache vollständig aufgeklärt wird“

AS: Als ich zum ersten Mal den Gerichtssaal betreten habe und die Atmosphäre dort gespürt habe, habe ich mich unwohl gefühlt, die Polizisten dort, die Richter, die Staatsanwälte. Die Atmosphäre da drin, dass diese Frau mir direkt gegenübersaß, ich habe an diesem Tag schon gespürt, dass der Prozess nicht zu unserem Gunsten ausgehen würde. Dass da Polizisten drin waren, diese Blicke der Richter uns gegenüber, die Medien draußen. Ich habe es gewusst. Ich wusste, dass abgesehen von den Leuten, die mit uns gekommen waren, uns unterstützt haben, niemand wirklich wollte, dass die Sache vollständig aufgeklärt wird.

DC: Der Prozess ging fünf Jahre und zwei Monate, das ist eine lange Zeit, der Sohn des Mordopfers Enver Simsek hat die Prozesszeit als verlorene Lebenszeit bezeichnet, würdest Du das auch so sehen? Und wer hat Dich in der Prozesszeit unterstützt?

AS: Wir als die Opfer des NSU und insbesondere die Familien der Ermordeten, natürlich ist deren Leid viel schwerwiegender als das unsere, ich möchte sagen, dass wir vom Tag des Anschlags an im Jahre 2004 bis zum Ende des Prozesses kein richtiges Leben mehr hatten. Wir haben jeden Tag gelitten. Von 2004 bis 2011 und dann noch die fünf Jahre, das sind alles verlorene Jahre aus meinem Leben. Wir haben kein richtiges Leben geführt in diesen Jahren, nur Angst, Sorge, Druck, das haben wir erlebt. Nicht nur die fünf Jahre, sondern von 2004 bis zum Ende des Prozesses habe ich gelitten.

Ich sah das Gericht als eine Art Theaterspiel, um ehrlich zu sein: Du da hin, du dort hin. Die ganzen Anwälte, die Medienvertreter, oben die Zuschauer, fünf bis sieben Richter, wir Betroffenen, die Ermordeten, die Übersetzer. Ich will ganz ehrlich sein, ich sah den Prozess wirklich als ein Theater, als ein vorbereitetes Szenario, das da abgespielt wurde, dessen Ergebnis auch schon klar war, wir kannten das Ergebnis auch schon.

„Das Lächeln der Leute aus der Initiative hat mich motiviert“

AS: Bevor wir in den Prozess eingestiegen sind, hat die Initiative (Keupstraße, d. red.) uns schon im Vorfeld sehr geholfen, sie haben uns organisiert, unsere Hin- und Rückfahrten zum Beispiel, ich habe deren Unterstützung vollends gespürt, die Unterstützung des deutschen Staates hingegen nicht. Wir haben überhaupt keine Unterstützung vom Staat erfahren. Nur von den zivilgesellschaftlichen Organisationen, von der Initiative haben wir Kraft gekriegt. Alleine hätten wir überhaupt nichts bewirken können. Diese ganzen Veranstaltungen, die sie organisiert haben, dass sie hinter uns standen, dass sie an den Prozesssitzungen teilnahmen, ich habe ab und zu wirklich zu ihnen herübergeschaut und habe mich dann stark gefühlt. Sonst habe ich von niemandem Kraft geschöpft. Außer noch von meinem zweiten Anwalt. Diese Blicke von den Richtern und den Polizisten uns gegenüber, diese ganzen Beamten dort, wir haben überhaupt keine Unterstützung erfahren. Ich bin jedes Mal verängstigt in den Prozessaal gegangen. Ich habe einen Druck auf mir gespürt. (…)

Und außerdem noch: Die Toleranz, die dieser Frau (der Hauptangeklagten Beate Zschäpe, d. Red.) entgegengebracht wurde, ihre Gelassenheit, das gab es für uns Opfer nicht. Da möchte ich um Gottes Willen doch fragen: Sie ganz gelassen, wir ganz verängstigt – warum? Sie ist die Täterin, wir die Opfer. Dieser Freiraum, der ihr gewährt wurde, wurde uns nicht gegeben. Sie ganz gelassen, vor ihr ein Laptop, ein Getränk, und wir sind immer voller Angst und unter Druck in den Verhandlungssaal eingetreten. Soll das um Gottes Willen Gerechtigkeit sein?

DC: Wie war das mit Deiner Frau und Deiner engen Familie oder engen Freunden? Haben die nicht irgendwann gesagt: Komm, Arif, lass’ es sein, wir können nicht mehr. Oder haben sie die ganze Zeit über mit Dir Seite an Seite gestanden?

AS: Lass es mich so sagen, zum Beispiel war mein Sohn, als die Bombe explodierte, drei Jahre alt, meine Frau arbeitete, ich arbeitete, aber unsere Tage vergingen sehr düster. Ich konnte mich nicht einmal um mein Kind kümmern, die schlimmste Phase waren für mich die ersten sechs Monate nach dem Anschlag, da habe ich sehr gelitten. Ich bin beispielsweise oft nachts um drei aufgestanden und bin 45 bis sechzig Minuten rumgelaufen, weil ich nicht schlafen konnte. Das habe ich natürlich meiner Frau nicht erzählt, sie wusste zunächst nichts davon, aber danach hat sie es irgendwann gemerkt und wollte mit mir mitkommen. Ich komm’ mit Dir, sagte sie. Aber meine Frau musste immer früh aufstehen, sie ist um 6:30 Uhr immer zur Arbeit, ich wollte sie nicht stören. Ich habe meiner Frau auch nicht erzählt, dass ich vier bis fünf Monate verfolgt wurde. Ich habe es ihr erst dreieinhalb Jahre später gesagt. Ich wollte es ihr nicht sagen, damit nicht auch ihre Psyche beeinträchtigt wird. Mein Sohn war drei Jahre alt, ich konnte mich nicht um ihn kümmern. Ich bin nachhause gekommen, mein Kind wollte mich umarmen, wollte meine Aufmerksamkeit, aber ich konnte sie ihm nicht geben. Manchmal habe ich auch geschrien, alles wegen den Folgen des Anschlags. Das waren sehr schmerzhafte Tage, wir haben stark gelitten. Ich konnte es meiner Frau nicht sagen. Aber ich habe auch große Unterstützung von meiner Frau erfahren, sie war mir eine große Stütze. Sie hat wegen der Ohr-Sache auch immer gesagt, dass ich zum Arzt gehen solle, ich wollte aber nicht. Geh’ zum Psychiater, sagte sie, ich ging aber nicht. Wir hatten Angst, natürlich. Ich möchte wieder nicht falsch verstanden werden, aber wo auch immer wir hingegangen sind, was mit staatlichen Institutionen zu tun hatte, habe ich die Leute dort verdächtigt, einer von ihnen zu sein. An diesem Punkt war ich angelangt. Ist der auch einer von ihnen? Ist der Arzt, die Ärztin vielleicht auch eine oder einer von denen?“, habe ich mich dann gefragt. Jeden, den ich gesehen habe, habe ich verdächtigt. Ich war voller Angst. Meine Familie hat wegen mir stark gelitten. Die ersten fünfzehn bis zwanzig Tage wollte ich mir wirklich ein Ticket holen und Frau und Kind zurücklassen und in die Türkei gehen. So dramatisch war mein Zustand. Das habe ich meiner Frau auch erst später erzählt. Ich wollte alles zurücklassen und gehen. Ich bin fast zum Flughafen, um mir ein Ticket zu holen, und dann einfach zu gehen. So war mein Zustand. Meine Frau wusste nichts davon, ich habe mich da selber reingesteigert, habe mich gefragt, ob ich gehen oder nicht gehen soll. Danach habe ich mir gesagt: Du hast ein Kind, du hast einen Sohn, den kannst du nicht einfach zurücklassen. Das habe ich alles erlebt.

2011, als das Ganze aufflog, haben wir natürlich eine Erleichterung verspürt, dass muss ich schon sagen. Dieser Druck, den ich verspürte, ist ein bisschen leichter geworden, aber Vertrauen in den Staat hatte ich nach wie vor keines.

„Die Richter wussten schon, wie das Urteil am Ende ausgehen würde“

AS: Als ich das erste Mal beim Prozess war, nicht um eine Aussage zu tätigen, sondern um meine Freunde zu unterstützen, habe ich direkt schon gespürt, dass am Ende dieses Prozesses nichts Gutes rauskommen wird. Schon am ersten Tag hatte ich dieses Gefühl. Dann habe ich ausgesagt und bin nach meiner Aussage immer wieder hingegangen, um Freunde zu unterstützen, um eine weitere Rede zu halten. Der Richter hat mir dabei nicht diejenige Toleranz entgegengebracht, die er den Angeklagten entgegengebracht hat. Also ich habe zu hundert Prozent innerlich gefühlt, dass der Staat diese Leute unterstützt, ich sage nicht, dass alle das tun, aber es gibt definitiv eine Kraft, die diese Leute unterstützt. Glauben Sie mir, auch die Richter wussten schon, wie das Urteil am Ende ausgehen würde. Ich habe ihnen das angesehen. Sie wussten, dass es am Ende nicht zu unseren Gunsten, sondern zu ihren Gunsten ausgehen würde. Das haben auch die deutschen Medien gewusst, das hat so gut wie jeder gewusst. Glauben Sie mir, wen auch immer ich auf der Straße gefragt hätte, der hätte gewusst, dass diese Sache am Ende sein gelassen wird, dass diese Leute geringe Strafen kriegen und wir am Ende traurig sein würden, das wusste auch das deutsche Volk, da bin ich mir sicher. Das habe ich alles auch schon zu Beginn des Prozesses vorhergesagt; am Ende wird nichts dabei rauskommen, wir werden nur traurig sein.

Aber ich habe trotzdem bis zum Ende durchgehalten, habe an allem teilgenommen, habe Freunde unterstützt, habe meine Verteidigung gemacht, habe Reden gehalten, der Richter hat, als ich eine Rede vorbereitet hatte, dann auch mal gesagt: Du kannst nicht über die Angeklagten auf diese Art und Weise reden. Ich kannte also von Anfang an das Ergebnis des Prozesses.

DC: Es gab neben dem Prozess auch die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, zum Beispiel den NSU-Untersuchungsausschuss NRW, wo Du auch ausgesagt hast. Hast Du da mehr Unterstützung erfahren, eher die Hoffnung bekommen, dass hier Aufklärungswille besteht?

AS: Als sie uns zum parlamentarischen Untersuchungsausschuss eingeladen haben, da habe ich tatsächlich eine Art kleines Licht gesehen. Als der parlamentarische Untersuchungsausschuss in Düsseldorf uns eingeladen hat, habe ich mir gedacht, dass diese Leute keine Abgeordneten aus Berlin sind, sondern welche aus unserem Bundesland und sie sich deswegen besser um uns kümmern werden. Wir sind dahin gegangen, sie haben uns zugehört, haben sich um uns gekümmert. Aber danach, als sie weiter ins Detail eindringen wollten, weil hier insbesondere linke Politiker vertreten sind, haben sie stärker gefordert, dass die Sache aufgeklärt wird. Aber ihnen stand dann natürlich der Staat gegenüber, der Verfassungsschutz hat ihnen beispielsweise die betreffenden Akten nicht übergeben. Wir haben ihnen wirklich vertraut, ich habe da wirklich Licht gesehen, aber natürlich stand ihnen halt hier der Verfassungsschutz, der Staat, gegenüber. Jetzt haben wir auch noch kein Ergebnis und ich weiß auch nicht, wie es ausgehen wird, aber wir haben ihnen vertraut, das kann ich sagen, aber jetzt haben wir noch kein Ergebnis.

DC: Kommen wir nochmal zu dem Prozess zurück; am 11. Juli 2018 verkündete der Vorsitzende Richter Götzel das Urteil lebenslange Haft für Beate Zschäpe mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld, das war nicht überraschend, aber milde Strafen für die unterstützenden Neonazis Carsten S., Holger G., Ralf Wohlleben und André Eminger, die zum Teil das Gericht als freie Männer verlassen konnten – unter dem Jubel der dort anwesenden Neonazis. Was löst so eine Situation in den Betroffenen aus? Die jubelnden Neonazis und der schnodderige Richter, NSU-Watch hat ihn ja als sehr schnodderig dargestellt.

AS: Also ich möchte es so sagen, ich hatte sowieso schon gespürt, dass sie am Ende keine harten Strafen verhängen werden. Weil in Deutschland lebenslang ohnehin fünfzehn Jahre oder so bedeutet, also richtiges lebenslang gibt es hier nicht. Dann haben sie auch noch die Jahre, die sie schon abgesessen hat, angerechnet. Ich glaube, sie war seit 2011 in Haft, diese Jahre haben sie angerechnet, dann fünfzehn Jahre gegeben, und wenn jetzt dann noch strafmildernde Umstände dazukommen, weiß ich nicht, wie viel Jahre sie am Ende dann überhaupt wirklich im Gefängnis bleiben muss. Aber dieses Ergebnis hatten wir definitiv schon vorausgesehen, dass man ihr keine zwanzig bis dreißig Jahre geben wird. Es wurde eine viel zu geringe Haftstrafe verhängt. Ich persönlich finde es sehr anormal, dass Personen, die solch eine Tat begangen haben, so viele Menschen ermordet haben, Bombenanschläge verübt haben, Banken ausgeraubt haben, am Ende frei und ganz locker den Gerichtssaal verlassen können. Der Staat hat diese Personen beschützt, das kann ich offen sagen. Es wurden viel zu geringe Strafen verhängt. Ich war danach wirklich niedergeschmettert.

DC: Ich stelle mir die Situation auch sehr bedrückend oder unerträglich vor, dass die überhaupt mit einem zusammen im Raum sitzen, also Menschen, die einem nach dem Leben trachten oder solche Menschen unterstützen, dass die mit mir zusammen in einem Raum sind, das stelle ich mir schon unerträglich vor.

„Das habe ich noch in keinem Land erlebt, dass solch eine Täterin so lässig dasitzen kann“

AS: Das habe ich jedes Mal, als ich im Gerichtssaal war, erlebt. Sie saß mir jedes Mal direkt gegenüber, kannst Du Dir das vorstellen, sie hat zehn Menschen ermordet, die Bombenanschläge, die Opfer, sie saß da ganz lässig, ganz schick angezogen. Wir niedergeschmettert, sie ganz cool, weil sie wusste, weil sie spürte, dass eine große Kraft hinter ihr stand. Sonst wäre das doch gar nicht möglich gewesen. Ich zum Beispiel habe diese Kraft hinter mir ganz und gar nicht gespürt, das kann ich offen sagen. Insbesondere dass sie so eine geringe Strafe bekommen hat, das hat uns wirklich zerstört, dass sie da so ganz lässig saß, dass sie zum Beispiel als sie den Saal betrat immer ihre Haare so gemacht hat, das hat uns echt wehgetan, das kann ich offen sagen, diese lässige Art, das habe ich noch nie in irgendeinem Land erlebt, dass solch eine Täterin so lässig dasitzen kann. Zehn Menschen wurden ermordet, so viele Betroffene, die Familien der Ermordeten zum Beispiel, die zum Prozess gekommen sind, und dann ihr Verhalten, das tut einem wirklich weh. Dass sie dann auch noch solch eine geringe Strafe bekommen hat, zeigt mir, dass hinter ihr große Kräfte stehen. Sie trat auch deswegen ganz selbstbewusst auf. Wir hingegen haben kein Vertrauen von irgendwo schöpfen können.

Ich weiß nicht mehr genau, wann, aber ich hatte mal eine Schrift angefertigt, die ich vorgelesen habe, in der ich mit ‚Guten Morgen an alle außer dieser Mörderin und ihrer Unterstützer’ anfing, da hat der Richter mir gesagt: Passen Sie auf, sie ist noch keine Mörderin. In dem Moment habe ich gemerkt, sowohl der Staat als auch der Richter schützen diese Personen.

DC: Jetzt nach dem Prozess sind mehr Fragen offen als beantwortet, viele Beweisanträge der Nebenklage wurden abgeschmettert, die Rolle des Verfassungsschutzes, das Ausmaß des rechten Unterstützernetzwerks wurden nicht geklärt, Akten wurden vernichtet oder auf 120 Jahre gesperrt, die Versäumnisse in den Ermittlungsbehörden wurden nicht aufgearbeitet, jetzt geht die Verteidigung von Frau Zschäpe in Berufung, es war auch mal die Rede von einem zweiten NSU-Prozess, glaubst Du, dass weitere Prozesse zu mehr Aufklärung führen? Oder ist hier eher eine starke Zivilgesellschaft gefragt?

AS: Hier trifft die Presse eine gewisse Verantwortung, und die Journalisten, die Medien und die Abgeordneten, die gegen solche Taten sind. Das Problem ist, dass die Fernsehsender nicht darüber berichten, die Menschen nicht darüber aufklären. Als wir beispielsweise nach Bochum gegangen sind, hat mich ganz traurig gemacht, dass ein älterer Herr dort gesagt hat: „Ich höre zum ersten Mal einen Betroffen hier reden.“ Da habe ich ihm gesagt: „Das ist nicht Ihre Schuld, das ist die Schuld des Staates. Die Medien berichten nicht darüber, die Zeitungen auch nicht, niemand sorgt dafür, dass darüber aufgeklärt wird, deswegen habt Ihr über die rassistischen Geschehnisse, die in Deutschland stattfinden, überhaupt keine Ahnung.“ Hier trifft die Medien eine sehr große Verantwortung, die anständigen Medienvertreter, die gegen Rassisten sind, müssen darüber berichten, was wir für ein Leid ertragen müssen, wie die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland gestiegen ist. Für mich gibt es in Deutschland zwei Formen des Rassismus: einerseits den institutionellen Rassismus und den Rassismus auf den Straßen. Damit darüber aufgeklärt wird, trifft die Öffentlichkeit und die zivilgesellschaftlichen Organisationen eine große Verantwortung. Sie müssen ständig darüber berichten. Solange sie das nicht tun, gewinnen die Parteien der Rassisten immer mehr an Zulauf.

Der institutionalisierte Rassismus verhindert einerseits, dass man einen Job kriegt, es gibt das Problem, dass Migranten keine Jobs bekommen, obwohl ein Migrant beispielsweise top qualifiziert ist, wird der aus dem „eigenen“ Volk bevorzugt, der „Ausländer“ bleibt außen vor, obwohl er vielleicht sogar die bessere Note hat. Der Rassismus innerhalb der Gesellschaft, der Rassismus auf der Straße führt andererseits zu Gewalt und Chaos. Aber über all das wird nur so nebenbei geredet, wenn sie darüber aufrichtig berichten und die Leute darüber aufklären würden, dann würde die Gesellschaft  darauf reagieren. Aber die Medien und die Zeitungen berichten einfach nicht darüber.

DC: Wie sehen Deine Zukunftspläne aus? Wirst Du weiterkämpfen? Und wie kann man Dich da unterstützen?

AS: In Deutschland gilt so die allgemeine Regel: Beschäftige dich nicht zu sehr mit dieser Sache. Wenn du dich nicht mit dieser Sache beschäftigst, dann gefällst du ihnen, dann gefällst du dem Staat, die denken sich dann: Ach, die wehren sich doch eh nicht, machen wir einfach so weiter. Je mehr Leute wir sind, je mehr wir unsere Stimme erheben, zusammen mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen, desto weniger wird das dem Staat gefallen. Die denken sich dann: Sie geben alles dafür, um für Aufklärung zu sorgen. Genau das müssen wir also tun. Wir müssen an jedem Meeting, an allen Veranstaltungen diesbezüglich teilnehmen. Damit unsere Stimme erhört wird, müssen wir eins sein, wir müssen mehr Leute sein, wir sind angewiesen auf aufrichtige Leute, wir brauchen alle Leute, die diese Sache aufklären wollen. Im Türkischen sagt man so ungefähr: „Eine Hand alleine kann keine Töne erzeugen, zwei Hände hingegen schon.“ Der Staat will nicht, dass wir unsere Stimme erheben. Aber wir müssen unsere Stimme erheben, wir müssen handeln.

„Unser Schweigen würde nur den Rassisten in die Hände spielen“

AS: Ich möchte auch noch sagen, das, was ich von Euch erwarte, ist, dass ihr uns zur Seite steht. Wir sind auch die Bürger dieses Landes, wir zahlen hier Steuern, meine Frau und ich, wir arbeiten beide, mein Sohn ist hier geboren, wir sind nun auch ein Teil dieses Landes. Wir betrachten Deutschland als eine zweite Heimat. Wir erwarten von den zivilgesellschaftlichen Organisationen, dass sie uns zur Seite stehen, dass sie uns unterstützen. Ich versuche an allen möglichen Veranstaltungen, die Rassismus zum Thema haben, teilzunehmen, soweit es mir möglich ist, weil ich arbeite, kann ich leider nicht immer an den weiter entfernt stattfinden Veranstaltungen teilnehmen, beispielsweise war letztens eine Veranstaltung in Frankfurt, an der konnte ich wegen meiner Arbeit leider nicht teilnehmen. Aber ich gebe mein Bestes, um an möglichst vielen teilzunehmen. Ich sichere Euch diesbezüglich auch immer meine volle Unterstützung zu, sei es eine Rede zu halten oder Sonstiges, ich werde Euch immer helfen und erwarte im Gegenzug auch Eure Hilfe.

DC: Es gab ja in Köln zwei Anschläge, einmal der Anschlag in der Probsteigasse mit der Sprengfalle in der Christstollendose und der Nagelbombenanschlag hier in der Keupstraße. Ist in Köln, wo es zwei Anschläge gegeben hat, eine zentrale Mahn- oder Gedenkstätte vorgesehen?

AS: Wir Betroffenen waren an dem Ausschreibungsprozess von Anfang an beteiligt, Künstler sind gekommen, Bildhauer sind gekommen, haben uns ihre Werke vorgestellt. Wir haben uns dann gemeinsam für ein Werk entschieden. Wir finden die Idee der Errichtung eines Mahnmals gut. Die Leute, die in die Keupstraße kommen, sollen über die Bombenanschläge und allgemein darüber, zu was Rassismus führt, informiert werden. Ich glaube, das Mahnmal soll irgendwo in der Nähe der Keupstraße errichtet werden. Hoffentlich klappt es. Wir hatten uns eigentlich gewünscht, dass das Mahnmal direkt in der Keupstraße errichtet wird. Aber die Stadtverwaltung möchte uns das ausreden, ich glaube, es wurde bis jetzt immer noch kein ein endgültiger Ort festgelegt. Ein Mahnmal ist ein Symbol, es ist für die Leute gedacht, die daran vorbeilaufen. Ob jetzt ein Mahnmal da steht oder nicht, ich erlebe ohnehin jeden Tag, wenn ich morgens die Keupstraße betrete, den Bombenanschlag wieder. Ich denke 24 Stunden daran, solange ich in der Keupstraße lebe, ich muss da nicht daran erinnert werden.

„Wenn es um ein anderes Thema ginge, wäre das Mahnmal längst errichtet worden“

AS: Dann kommt noch hinzu: Das hier ist die Keupstraße, hier leben und arbeiten viele Migranten. Ich bin mir sicher, dass wenn es um ein anderes Thema gehen würde, dann wäre das Mahnmal schon längst errichtet worden. Wenn es eine vermehrt deutsch-bewohnte Straße gewesen wäre, dann wäre das Mahnmal schon errichtet. Weil das hier eine stark türkisch geprägte Straße ist, kommt es immer zu Problemen in diesem Mahnmalerrichtungsprozess. Als würde die Keupstraße nicht zu Köln gehören. Die Keupstraße ist sehr wohl ein Teil von Köln, ein Teil von Deutschland, warum kriegen wir keinen Platz für unser Mahnmal? Weil das eine überwiegend von Migranten bewohnte Straße ist, wollen sie hier kein Mahnmal errichten, das ist klar. Hier tritt Rassismus zum Vorschein.

DC: Wenn es dann diese Mahn- oder Gedenkstätte gibt, und da kommen dann offizielle Vertreter der Bundesregierung und legen Kränze nieder oder äußern öffentliche Worte der Entschuldigung, jetzt so viele Jahre später, würde das den Betroffenen noch helfen? Oder ist das jetzt auch egal?

AS: Die Errichtung eines Mahnmal würde für uns Händler in der Keupstraße nicht viel ausmachen, aber es ist eben wichtig für die Leute, die in Zukunft in die Keupstraße kommen werden. Sie werden sich fragen, warum dieses Mahnmal hier steht, und somit wird dann der Anschlag nicht vergessen. (…) Die Keupstraße ist mit ihren Restaurants et cetera in Köln ein bekannter Ort, es ist ein kosmopolitischer Ort, es kommen auch Touristen. Wenn die Leute dann hierher kommen, dieses Mahnmal sehen und sich dann fragen, was das sein soll, dann wird automatisch über diesen fremdenfeindlichen Anschlag berichtet. Aber für uns, für mich bedeutet so ein Mahnmal nicht viel, das kann ich offen sagen, es ist nur wichtig für die kommenden Leute.

Wenn hochrangige Leute herkommen wollen, die es wirklich ernst meinen, dann sollen sie kommen. Aber wenn sie nur aus symbolischen Gründen kommen wollen, dann sollen sie es lieber sein lassen. Dass jemand, der eigentlich rassistisch eingestellt ist, nur kommt, um gut dazustehen, das brauchen wir hier nicht. Es sollen wirklich nur Leute kommen, die unser Leid aufrichtig teilen, nicht welche, die nur so tun und das Ganze für ihre Zwecke ausnutzen wollen. Was soll uns das bringen? Das bedeutet uns nichts. Es ist wichtig, dass wirklich nur Abgeordnete kommen, die wirklich dieses Leid mit uns teilen.

Wenn es wirklich zu einer Denkmalerrichtung kommt, dann würden wir uns natürlich wünschen, dass eine feierliche Eröffnung gemacht wird, an der Abgeordnete teilnehmen, das Fernsehen anwesend ist, in der genau erklärt wird, warum dieses Denkmal hier errichtet wird. Das muss alles erzählt werden. Das würden wir uns natürlich wünschen.

DC: Vielen Dank für das Interview. Wir werden natürlich auch das Buch, an dem Du mitgeschrieben hast, beziehungsweise wo Dein Plädoyer veröffentlicht ist, Kein Schlussstrich, in der Fritz-Bauer-Bibliothek verlinken. Möchtest Du noch etwas ansprechen, liegt Dir noch etwas auf dem Herzen?

AS: Nein, wie schon gesagt, ich bin überall mit dabei, wo dieses Thema angesprochen wird. Ich danke Euch auch, dass Ihr das hier mit mir gemacht habt. Steht immer an unserer Seite. Wir werden Euch auch unterstützen. Wir müssen anstreben, den Rassismus in Deutschland so kleinzukriegen, dass er quasi überhaupt nicht mehr existiert. Ich danke Euch allen ebenso.

Das Interview wurde aus dem Türkischen übersetzt.

Kontaktinfo@fritz-bauer-blog.de
Fotos und Film: Jakob Gatzka (BUXUS FILMS)
Lektorat: Dr. Irmtrud Wojak

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