Politische
(Erinnerungs-) Kultur

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08.08.2018

“Bitte keine Gedenktafel für meine Großeltern”
Mit einem neuen Erinnerungssystem aus silber-goldenen Plaketten und Stelen will München 10.000 jüdischen NS-Opfern gedenken

Wäre nicht manchmal Weniger mehr?

In einem offenen Brief hat sich Shraga Elam (Zürich) gegen das Münchner Vorhaben gewandt, aller jüdischen NS-Opfer in München durch gold-silberne “Erinnerungszeichen” zu gedenken – insgesamt in Form von rund 10.000 Plaketten und Stelen.

Schon vor über 25 Jahren wandte sich eine Überlebende gegen diese Art von Gründlichkeit. “Ironischerweise”, schrieb damals die Auschwitz-Überlebende Lucille Eichengreen, “haben ausgerechnet die Deutschen selbst die Beweise geschaffen“, die die Zweifel an dem tatsächlichen Geschehen des Holocaust beantworten. Während Eichengreen ihre Erinnerungen aufschrieb, entdeckte sie 1991 bei einer Besuchsreise in Deutschland, “dass die deutschen Behörden sorgfältige, detaillierte Auflistungen mit den Namen, Orten, Deportationsdaten, Transporten und Nummern fortführen, ebenso wie sie die Zahlen, Todesdaten und Beerdigungen der gleichen Menschen erfasst hatten, die die Deutschen in jüngster Vergangenheit – mit gleicher Gründlichkeit – von der Erde zu eliminieren versucht hatten.” “Die Frage,” schrieb Eichengreen damals, “ist bis heute unbeantwortet; sie muss jedoch im Namen der Menschheit immer wieder gestellt werden: Wie ist die große Achtung der Nazis für Dokumente und Statistiken bei gleichzeitiger Missachtung gegenüber dem Leben der Menschen zu verstehen, die sie für die ‘Endlösung’ bestimmten?”[1]

Mit Blick auf die nationale deutsche “Kultur der Erinnerung” sind Lucille Eichengreens Frage und Shraga Elams Bitte, auf diese letztendlich statistische Weise nicht seinen Großeltern zu gedenken, heute viel akuter noch als im Jahr 1991. Das Gedenken hat sich in vieler Hinsicht verselbständigt, es wird nicht nur durch nationale Gedenktage wie den an die Opfer des Nationalsozialismus oder an das Pogrom vom 9. November 1938 ritualisiert, sondern zu nationalistischen und eigenen Zwecken missbraucht. Erinnerungsplaketten dienen gewiss der Illustration von Leid und bekräftigen das Gedächtnis an das schlimmste Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Doch dass diese Bekräftigung auch äußerst ambivalent und insofern zweifelhaft sein kann und sich in ihrer äußersten Konsequenz sogar gegen die richten kann, denen gedacht werden soll, weil das Verbrechen lediglich äußerlich zementiert wird, wollen die Verantwortlichen weder hören, noch sehen, noch wissen. Sie ziehen sich mit ihrem umfassenden Anspruch (BBC news spricht bereits von einem neuen Münchner “memorial system”), allen oder jedenfalls möglichst vielen (jüdischen) NS-Opfern auf gold-silbernen Plaketten und Stelen zu gedenken, aus der Affäre. Um den Preis, dass der neue/alte Nationalismus mit seinen Kehrseiten von Rassismus und Antisemitismus währenddessen ungestört weiter wachsen kann.

Das von Lucille Eichengreen und jetzt wieder von Shraga Elam kritisierte “Übermaß” ist das Gegenteil von einer kritischen, das heißt offenen Auseinandersetzung über die tabuisierten Fragen in unserer Geschichte. Aus dem Scheitern der Entnazifizierung, die zuerst in einen misslungenen Fehlschlag umgedeutet wurde, soll eine nationale Erfolgsgeschichte “deutsche Erinnerungskultur” werden. In München hat diese Form der Geschichtslosigkeit, die sich im „NS-Verbrechen-Erinnern“ oberflächlich erschöpft, durchaus Tradition. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass, nachdem die Verlegung von “Stolpersteinen” des Künstlers Gunter Demnig aufgrund einer Intervention von Charlotte Knobloch in München offiziell abgelehnt wurden, diese jetzt durch silber- und goldfarbene Plaketten und Stelen ersetzt werden, BBC news berichtete wie bereits gesagt: “The city says the new memorial system will commemorate 10,000 Munich men, women and children murdered by the Nazi dictatorship in 1933-1945.”

Tatsächlich muss man sich mit Lucille Eichengreen und Shraga Elam fragen, welchen Grund es dafür geben könnte, auf Antrag hin pauschal allen von den Nazis umgebrachten jüdischen und anderen NS-Opfern Münchens zu gedenken und welches Erkenntnisinteresse damit wohl verbunden sein könnte? Und müssten dann nicht auch pauschal Plaketten und Stelen für alle weiteren ermordeten NS-Opfer und vor allem die Gegner des Nationalsozialismus angebracht werden, das negative Gedächtnis mit dem Gedächtnis an die Wenigeren, die mutig handelten, konfrontiert werden?

Hier der “Offene Brief” von Shraga Elam an das Münchner Projekt “Erinnerungszeichen”:

Bitte keine Gedenktafel für meine Grosseltern!

 

Offener Brief an die
Koordinierungsstelle | Erinnerungszeichen
Stadtarchiv München
Winzererstr. 68

80797 München

Zürich, den  6. August 2018

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte gegen das Vorhaben protestierenaller jüdischen NS-Opfer durch “Erinnerungszeichen” zu gedenken.

Die Eltern meines Vaters Julius Yechiel Sündermann, Regina Malka und Ferdinand Shraga Sündermann, die an der Häberlstrasse 12/II wohnten, wurden am 20.11.1941 zusammen mit anderen Münchner Juden deportiert und am 25.11.1941 in Kaunas/Litauen von Nazis und ihren Helfern ermordet (siehe Anhang).

Seit Jahren bemühe ich mich um die Geschichte meiner in Bayern alteingesessenen Familie. Die initiierten Gedenktafeln finde ich allerdings völlig falsch, kontraproduktiv und verlogen. Wie haben meine Grosseltern diese Ehre verdient? Was haben sie Besonderes geleistet, außer von Nazis umgebracht zu werden? Warum sollen sie aus der Fülle von Opfern, die nicht nur aus Juden, anderen zahlreichen NS- und weiteren Opfern besteht, hervorgehoben werden?

Ist es nicht das Übermaß einer falschen Erinnerungskultur, die kaum neue Erkenntnisse verschafft, währenddem wichtige grundlegende Tatsachen über die NS-Judenvernichtung, trotz mehrerer Berichte, kaum in der Öffentlichkeit wahrgenommen bzw. tabuisiert werden?

Degradiert solche Erinnerungskultur nicht zu einem kostspieligen Arbeitsbeschaffungsprogramm für Historiker, Architekten und Künstler?

Von dieser unhaltbaren Situation profitieren nicht zuletzt Holocaustleugner und die AFD.

Mir wäre es lieber, wenn z. B. die Akten des Bundesnachrichtendienstes über seine NS-Mitarbeiter endlich voll offengelegt würden, anstatt dass diese Gedenk-Alibiübungen in München und anderen Städten betrieben werden.

Aus diesen Erwägungen bitte ich Sie, von Ihrem Projekt abzusehen und meiner Grosseltern nicht auf diese Weise zu gedenken.

Ich hoffe auf Ihr Verständnis und grüsse Sie freundlich.

Shraga Elam

Israelisch-schweizerischer Journalist und Buchautor
mit Schwergewicht NS-Judeozid-Forschung

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