Ich sende Euch meine innigsten Wünsche für Gesundheit, Lebensmut und Lebensfreude

Adele Halberstam

Größer als die Not waren die Menschen, die sie ertrugen.

Lore Hepner, Enkeltochter von Adele und Wilhelm Halberstam
* 14. Dezember 1871 in Breslau
† 17. November 1943 in Polen, im KZ Auschwitz
Staatsangehörigkeit bei Geburt: Deutsch
Staatsangehörigkeit bei Tod: Deutsch
Ehemann

Wilhelm Max Halberstam

* 6. Dezember 1866 in Leipzig
† 4. Oktober 1943
Tochter

Käthe Hepner Halberstam

* 1898 in Berlin
† 1982 in Santiago de Chile
Schwiegersohn

Dr. Heinrich Hepner

* 1885 in Berlin
† 1958 in Santiago de Chile
Enkeltochter

Lore Hepner Arriagada

* 1929 in Berlin
Enkelsohn

Ernst Hepner

Enkelsohn

Klaus Hepner

Land des Kampfes für die Menschenrechte: Deutschland, Niederlande
Ort des Kampfes für Menschenrechte: Amsterdam (Jüdisches Viertel), KZ Westerbork

Jüdische Gemeinde

Ort: Berlin
Eintrittsgrund: -
Funktion / Tätigkeit: -

Die Hoffnung, ihre Kinder und Enkel wiederzusehen, denen es gelungen war, vor den Nazis nach Chile zu entkommen, bestärkte den Lebensmut und die Widerstandskräfte von Adele und Wilhelm Halberstam solange, bis sie in das KZ Westerbork deportiert wurden. Im Konzentrationslager zerbrachen ihre Hoffnungen und ihr Lebenswille.

Menschenwürde
Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit
Asylrecht

EINLEITUNG

“Geliebte Kinder!”, so begannen die Briefe von Exil zu Exil, die Adele und Wilhelm Halberstam von 1939 bis 1943 an ihre Kinder und Enkel in Chile schrieben. Tag für Tag habe sie sich vorgenommen, schrieb Adele Halberstam, in wenigen Worten zu schreiben, um eines Tages den Brief abzuschicken, der die Kinder genau über das Leben ins Amsterdam unterrichten würde.

Adele und Wilhelm Halberstam zählten zu den als als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens Verfolgten, denen nach jahrelanger Diskriminierung und Ausgrenzung das von den Nazis angestiftete Pogrom vom 9. November 1938 (die so genante Reichskristallnacht) endgültig vor Augen führte, dass es für sie keine Überlebensmöglichkeit in Deutschland mehr gab. Ihre Briefe sind außergewöhnliche historische Dokumente, im Grunde ein Tagebuch ihres Überlebenskampfes und großen Durchhaltevermögens, das in der doppelten Isolation von Exil und Ghetto entstand. Adele und Wilhelm Halberstam schrieben von einem verlorenen Zuhause, von der Erfahrung, das Land und die Menschen verlassen und ziehen lassen zu müssen, die sie als Zentrum ihres Lebens betrachteten. Gleichzeitig bezeugen ihre Briefe einen starken Lebensmut in dem Versuch, sich in der Fremde ein neues Leben einzurichten. All das geschah der Hoffnung, selbt in ihrem fortgeschrittenen Alter in Südamerika noch einmal neu beginnen zu können – bei den “geliebten Kindern”.

DIE GESCHICHTE

Adele Halberstam und Wilhelm Halberstam
Größer als die Not waren die Menschen, die sie ertrugen


Adele und Wilhelm Halberstam gehören zu den Unglücklichen, aus deren Kindern in der Zeit des Nationalsozialismus Briefe wurden. Ihr Leben als Geflüchtete in den Niederlanden, deren Kinder sich nach Chile retten konnten, ist ebenfalls nur durch ihre Briefe rekonstruierbar. Einem Tagebuch gleich bezeugen die Briefe den Überlebenskampf zweiter alter Menschen gegenüber der Übermacht der Nazis, denen sie verzweifelt zu entkommen versuchten.

Adels und Wilhelms Enkeltochter Lore Hepner, deren Mutter Käthe die Tochter der Halberstams war, bewahrte die Briefe der Großeltern jahrzehntelang auf. Zum Zeitpunkt ihrer Flucht war Lore gerade einmal zehn Jahre alt. Sie sah ihre Großeltern zum letzten Mal in Amsterdam. In einer kleinen, mit ihrem Berliner Mobiliar vollgepackten Wohnung im „jüdischen Viertel“ hatten die beiden alten Leute alles untergebracht, was sie aus Deutschland retten konnten.

Lores Eltern gelang auf der Flucht ein kurzer Zwischenaufenthalt bei den Großeltern in Amsterdam, bevor sie mit ihren Kindern in England auf das Schiff nach Südamerika gingen. Ihre ungewollte Reise wurde zu einer gefahrvollen Odyssee, während Adele und Wilhelm Halberstam, weil sie kein Visum für Chile bekommen hatten, mit ihrem Sohn Albert in Amsterdam zurückbleiben mussten.

Vom Tag des Abschieds an schrieben sie rund 250 Briefe an die „Geliebten Kinder“, die knapp zwei Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in der chilenischen Hafenstadt Valparaiso an Land gingen: die Tochter Käthe, der Schwiegersohn Heinrich Hepner, der das KZ Sachsenhausen überlebte und noch vor Kurzem ein angesehener Anwalt in Berlin gewesen war, und die Enkel Klaus, Ernst und Lore Hepner.

Chronisten des eigenen Überlebenskampfes

Adele und Wilhelm Halberstam hatten sich, wie so viele als Juden verfolgte Deutsche, die ihr Schicksal teilen mussten, lange der bitteren Erkenntnis widersetzt, dass die so genannte nationalsozialistische Machtergreifung im Jahr 1933 der Anfang vom Ende ihres Lebens in Deutschland war. Auch im Exil sprachen sie in ihren Briefen noch von der Hoffnung, eines Tages nach Deutschland zurückkehren zu können. Gleichzeitig schilderten sie eine Welt in Auflösung, der die nationalsozialistische „Endlösung der Judenfrage“ wenig später den letzten Schlag versetzte. Buchstäblich in letzter Minute war es ihnen im April 1939 gelungen, in die Niederlande zu fliehen. Hier erlebten Adele und Wilhelm bald nach ihrer Ankunft in Amsterdam, wie sich Ausgrenzung und Gewalt auf fatale Weise wiederholten, als die Nazis das Land überfielen. Wilhelm Halberstam nannte dies in seinen Briefen die „Duplizität der Ereignisse“.(1)

In der Einleitung seines Buches über die Jahre der Judenverfolgung 1933 bis 1939 betont Saul Friedländer, die Stimmen der Opfer seien unverzichtbar. Sie offenbarten uns, „was man wusste und was man wissen konnte“ (Hervorhebung im Orig.). Die Stimmen der Opfer seien „die einzigen, die sowohl die Klarheit der Einsicht als auch die totale Blindheit von Menschen vermittelten, die mit einer völlig neuen, zutiefst entsetzlichen Realität konfrontiert waren“, schreibt Friedländer.(2) Briefe wie die der Halberstams oder auch die zur gleichen Zeit verfassten Tagebücher der jungen Anne Frank oder der knapp dreißigjährigen Slawistik-Studentin und begabten Schriftstellerin Etty (Esther) Hillesum oder auch des bekannten Journalisten und Buchautors Philip Mechanicus (geboren 1889), die alle drei in den Niederlanden lebten und später nach Auschwitz deportiert wurden, offenbaren die innere Zerrissenheit, die die Verfolgung durch die Nazis auslöste.(3) Sie sind Zeugnisse des Widerstands von Menschen, die brutal aus ihren Sicherheiten herausgerissen wurden, sich aber nicht beugten, sondern um ihr Recht auf Leben und Freiheit kämpften. Sie wollten die Wahrheit bezeugen.

Adele und Wilhelm Halberstam beschrieben in ihren Briefen den täglichen Überlebenskampf der Geflüchteten, obwohl manchmal schon das Schreiben ihre Kräfte zu übersteigen schien. Den Großteil ihrer Nachrichten an die „geliebten Kinder“ verfassten sie nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Niederlande in dem Bewusstsein, dass ihre Post ab jetzt der Zensur unterlag. Peinlich genau wurden von den Nazis „verräterische“ Zeilen aus dem hauchdünnen Luftpostpapier herausgeschnitten. Einige der Briefe der Halberstams wurden kassiert, manche sind wohl auch im Chaos des Krieges verlorengegangen. Anfang Januar 1942 brach die Postverbindung nach Chile vorübergehend ab, im November 1942 endgültig. Die letzten Nachrichten der Großeltern erreichten ihre Empfänger erst nach dem Ende des Krieges. Zu diesem Zeitpunkt lebten sie beide nicht mehr, ohne dass die Empfänger ihrer Briefe das wussten.

Anders als die Halberstams mussten die damaligen Tagebuchschreiber die akribische Zensur der Nazis nicht fürchten, wohl aber die Entdeckung. Für Anne Frank war das Tagebuch Ersatz für eine beste Freundin, die sie Kitty nannte.(4) Etty Hillesum diente das Schreiben zur Selbstanalyse und war zugleich schriftstellerische Vorübung. Am 28. Juli 1942 notierte sie: „Ich möchte später die Chronistin unseres Schicksals sein“.(5) Philip Mechanicus wollte ebenfalls Chronist sein. Am 4. September 1942 nahm er an einem „Revue-Abend“ im KZ Westerbork teil und schrieb: „Ich gehe hin, schließlich muß ich als Chronist nicht nur wissen, was geschieht, sondern wie es geschieht.“

Obwohl sie ständig mit der Zensur rechnen mussten, sind die Briefe der Halberstams eine höchst aufschlussreiche Quelle über ihren Überlebenskampf in Amsterdam – vielleicht sogar gerade deswegen. Aus ihren Andeutungen lässt sich herauslesen, was offen niemand sagen konnte. Die Briefe bezeugen eine ständige Eskalation der Ereignisse, die zunächst von Monat zu Monat und am Ende tatsächlich Tag für Tag an Dramatik zunahmen. Entsprechend schwerer fiel ihnen das Briefeschreiben.

Einerseits mussten die Halberstams ihren Kindern schon bald nach ihrer Abreise klarmachen, wie dringend sie Visa nach Chile brauchten, um nicht ins KZ abtransportiert zu werden. Andererseits konnten sie kaum offen über das Schreiben, was sie gerade in Amsterdam erleben mussten, wollten sie sich nicht unmittelbar in Gefahr bringen oder riskieren, dass die Briefe der Zensur zum Opfer fielen. Während die Tagebücher ähnlich den heimlichen Aufzeichnungen in den Konzentrationslagern, die von Häftlingen vergraben oder herausgeschmuggelt wurden, offen die Wahrheit darüber festhielten, was den Verfolgten angetan wurde, konnten die Halberstams diese Wahrheit nur verklausuliert ansprechen. Manche Details ließen sich auch nur im Nachhinein zusammen mit ihrer Enkeltochter Lore Hepner und unter Zuhilfenahme anderer Quellen rekonstruieren.

Die Jahre 1939/40

Adele und Wilhelm Halberstam flüchteten nach der „Reichskristallnacht“ vom 9./10. November 1938 aus Berlin.(6) Sie reisten per Schiff nach Rotterdam und fuhren von dort mit dem Zug nach Amsterdam, wo sie im April 1939 eintrafen und wo ihr Sohn Albert bereits im November 1933 Zuflucht gefunden hatte.

Wilhelm Halberstam, 1866 geboren und erfolgreicher Kaufmann, war zum Zeitpunkt der Flucht 72 Jahre alt, seine Frau Adele fünf Jahre jünger. Ihre Tochter Käthe, Chemielaborantin von Beruf, hatte 1920 den Rechtsanwalt Dr. Heinrich Hepner kennengelernt, der zum jüngsten am Berliner Kammergericht zugelassenen Anwalt avanciert war. Seit 1912 war er Sozius in der Kanzlei des damals bekannten Berliner Anwalts Eugen Fuchs, vormals Präsident des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Käthe Halberstam und Heinrich Hepner heirateten 1921 in der Großen Synagoge in der Berliner Fasanenstraße, 1929 wurde ihre Tochter Lore geboren – die Aufbewahrerin der Briefe.

Lore Hepner und ihre beiden älteren Brüder Klaus und Ernst wurden am 7. Februar 1939 mit einem Kindertransport von Berlin nach Rotterdam geschickt. Dort wurden sie in einem Lager für Flüchtlingskinder untergebracht. In den ersten Maitagen holten ihre Eltern sie zur Weiterfahrt nach London ab. Diese waren bis zur Genesung von Lores Vater Heinrich, der sich vom KZ erholen musste, in Berlin zurückgeblieben. Heinrich Hepner war am 10. November 1938 im Zuge des Judenpogroms verhaftet, ins KZ Sachsenhausen deportiert und schließlich mit der Auflage, zu emigrieren, freigekommen. In Amsterdam kam es, wie bereits erwähnt, im Mai 1939 zum letzten Zusammentreffen der Hepner-Halberstams.

Die Hepners fanden, wie etwa 13.000 deutsch-jüdische Emigranten, Asyl in dem Andenstaat Chile. Die Fürsprache eines Diplomaten beim Präsidenten der Volksfront-Regierung bewirkte die Einreiseerlaubnis.(7) Adele und Wilhelm Halberstam, die mit ihrem Sohn Albert in Amsterdam zurückblieben, hingegen gehörten fortan, wie Wilhelm am 11. Mai 1939 an die Tochter Käthe schrieb, zu den von ihm immer Bedauerten, „aus deren Kindern Briefe geworden sind“. Sehnsüchtig warteten sie Woche für Woche auf Nachricht, während die zermürbende Unsicherheit über ihr eigenes Schicksal sich immer länger und unerträglicher hinzog. Der einzige Kontakt nach Chile bestand in den Briefen. Ihre Chronik, die sie auch fortsetzten, als die Verbindung nach Südamerika Anfang 1942 erstmals abbrach, begann mit folgenden Zeilen:

„…erhielten (…) eben den sehnsüchtig erwarteten Brief aus Liverpool und beeilen uns, Euch einen Abschiedsgruß nach La Rochelle zu senden. Daß Euch der Aufenthalt in London nicht zum Dortbleiben ermutigt hat, ändert nichts an dem Trennungsschmerz und der großen Sorge, mit der wir Euch (…) ohne eine Existenzsicherheit in die unbekannte Fremde ziehen sehen. (…). Die Schuhe von Klaus und Lore sind natürlich nicht gekommen. Leider habe ich versäumt, Dir (Käthe) das ausgetrennte Winterfutter aus Lores Mantel mitzugeben. (…) Die Kinder sollen Omi Dele nicht vergessen. Ich sende Euch allen meine herzlichsten Grüße und innigsten Wünsche für eine gute, erholsame Reise und für stete Gesundheit, Lebensmut und Lebensfreude“. (11. Mai 1939)

Adele und Wilhelm Halberstam erlebten das erste Jahr ihres Exils noch in einem freien Land. Dass es ihnen gleichwohl fremd blieb, hing nicht zuletzt mit der schwierigen äußeren Umstellung zusammen. Anstelle ihrer geräumigen Berliner Wohnung mussten sie sich nun in Amsterdam-Süd mit beengten Verhältnissen arrangieren. Das Wohnviertel war gepflegt und eben erst in den zwanziger Jahren zu beiden Seiten des Amstelkanals entstanden. In den dreißiger Jahren entwickelte es sich zu einer deutsch-jüdischen Enklave. Hier gab es „deutsche Mode und deutsche Buchhandlungen, deutsche Restaurants und deutsche Konditoreien, Geschäfte mit deutscher Wurst und deutschem Brot“, erinnerte sich Miep Gies, die Anne Frank und ihre Familie in ihrem benachbarten Versteck versorgte.(8) Anne Frank, ihre Schwester Margot und ihre Eltern wohnten nicht sehr weit von den Halberstams entfernt. Auch sie hatten – wie Albert – 1933 in Amsterdam-Süd eine Wohnung bezogen.

Trotz ihrer sozusagen „deutschen Umgebung“ mussten die Halberstams alle Kräfte mobilisieren, um mit den eingetretenen Verlusten zu leben. „Die Psyche der Holländer ist von der meinen so himmelweit verschieden“, schrieb Wilhelm nach fünf Wochen, „daß ich nicht einmal die Leute begreifen kann, denen es hier gefällt.“(9) Die Holländer seien ihm ein „unerschöpfliches Studienobjekt, aber nicht immer studierenswert“. Er machte in den Briefen die meisten Andeutungen über dies Gefühl der Fremdheit, das wohl jeder Flüchtling erlebt, zumal wenn er die Sprache seines Zufluchtlandes nicht versteht.

Von der politischen Situation und der niederländischen Flüchtlingspolitik war in den Briefen nicht die Rede, obgleich der junge Albert Halberstam seine Eltern darüber informiert haben wird. Von ihm erfahren wir kaum etwas, außer dass er nicht Fuß fassen konnte und ständig in finanziellen Nöten war. Seine prekäre Lage war der Hauptgrund für Wilhelm und Adele Halberstam, nach Amsterdam zu emigrieren, obgleich sie seit Mai 1939 im Besitz von Dauervisa für Großbritannien waren (Wilhelm Halberstam, 8. Mai 1939).

Ein Grund für Alberts Schwierigkeiten war, dass die neutralen Niederlande in den dreißiger Jahren kein Einwanderungsparadies für die Geflüchteten aus Deutschland waren. Bereits 1933 befürwortete der Justizminister eine Drosselung der Einwanderung. Seit Juni 1937, dem Antritt einer neuen Regierung, gab es Anzeichen für eine weitere Verschärfung der Asylgesetzgebung, woran der katholische Justizminister Goseling maßgeblich beteiligt war. Mit Billigung des Ministerpräsidenten bezeichnete er die Emigranten im Mai 1938 in einem Rundschreiben als „unerwünschte Elemente“, die zurückgeschickt werden müssten. Zwei Tage nach der „Reichskristallnacht“, am 11. November 1938, war es Goseling, der in einem geheimen Rundschreiben das so genannte „Büro für Grenzbewachung und Reichsfremdlingsdienst“ informierte, dass die Grenze geschlossen bleiben müsse. Ein Gespräch zwischen Goseling (der später im KZ Buchenwald ermordet wurde) und dem Vorsitzenden des 1933 gegründeten „Komitee für Jüdische Flüchtlinge“ ergab, dass die Verfolgten in Lagern untergebracht werden sollten. Die Kosten für die Errichtung musste das Jüdische Flüchtlingskomitee übernehmen.

Rund 7.000 bis 8.000 Flüchtlinge konnten nach der „Reichskristallnacht“ noch legal in die Niederlande einreisen. Im September 1939, unmittelbar nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, wurde die Einwanderung gestoppt. Aus den Briefen der Halberstams erfahren wir nichts über diese Entwicklungen, die bereits 1939 zur Errichtung eines zentralen Auffanglagers in der Provinz Drente führten. Am 9. Oktober 1939 kamen die ersten 22 jüdischen Flüchtlinge dort an. „Eine Stadt entsteht auf der Drenter Heide“, berichtete die Presse, und niemand, auch die Betroffenen nicht, ahnte, welche Bedeutung die Errichtung dieses Lagers namens Westerbork unter deutscher Besatzungsherrschaft bekommen sollte.

Genaue Zahlen über die ersten Jahre der Einwanderung liegen nicht vor. Den Angaben des Zentralen Einwohnermeldeamtes ist aber zu entnehmen, dass im Januar 1941 etwa 14.500 deutsche Juden und 7.300 anderer Nationalität in den Niederlanden lebten sowie rund 119.000 mit niederländischer Staatsangehörigkeit. Von ihnen wurden, das wissen wir heute, rund zwei Drittel deportiert und in Auschwitz und anderswo „im Osten“ umgebracht – prozentual mehr als in allen von den Nazis besetzten Ländern Europas.

Was den Geflüchteten in Amsterdam am meisten zu schaffen machte, waren der soziale Abstieg und die erzwungene Tatenlosigkeit. Er habe zwar immer zu tun, schrieb Wilhelm Halberstam am 20. Juli 1939, in der Hauptsache „teils nötige, teils unnötige Briefe“ zu schreiben. Aber da er „berufslos“ sei, was er „tief beklage“, könne er jetzt sofort den ersten Bericht der Kinder aus Chile beantworten, der in Amsterdam eingetroffen sei.

Die finanziell bedrängte Situation war in erster Linie eine Folge der widersprüchlichen nationalsozialistischen Austreibungspolitik. Vor ihrer Emigration wurden die Halberstams wie alle Geflüchteten durch „Arisierungen“ und Devisengesetze, Beschlagnahmungen und „Reichsfluchtsteuer“ um ihr Eigentum gebracht, so dass sie quasi mittellos in den Aufnahmeländern ankamen – was dort bereits bestehende Vorurteile und Ressentiments nur noch verstärkte und die von den Nazis programmierte Austreibung wiederum erschwerte. Kaum ein halbes Jahr in Amsterdam, gerieten auch die Halberstams in immer größere Schwierigkeiten. Sie bekamen ihr Vermögen in Deutschland nicht frei, weder Aktien noch Guthaben bei der Deutschen Bank. Und das, während der Brotkorb, wie Adele im September 1939 schrieb, nach Kriegsbeginn höher und höher gehängt und vieles rationiert wurde (11. September 1939).

Sieben Monate nach der Ankunft konnte Adele dennoch an die Tochter in Chile schreiben, sie hätten die Teppiche jetzt gelegt. Zwar sei alles sehr beengt, doch es sehe ebenso behaglich aus, „wie wir’s immer gewohnt waren.“ Überdies habe sich ihr Wilhelm allmählich mehr und mehr eingelebt, ja sogar sich, wie Adele weiterschrieb, „nun gar an die Hoffnung (geklammert), dass die Zustände in Deutschland bald so normal werden, dass man mindestens besuchsweise, wenn nicht (auf) Dauer, zurück könnte.“ (15. November 1939)

Tatsächlich erwähnte Wilhelm Halberstam in seinen Briefen längst keine Abneigung mehr gegenüber den Niederländern. Im Gegenteil schien das Thema Weiterwanderung für ihn vorerst in weite Ferne gerückt, was vor allem an einer spürbaren Veränderung lag: Mit einem Satz gesagt, den die Halberstams am 21. August 1939 bei einem Ausflug in die Umgebung Amsterdams auf eine Postkarte schrieben: „Denkt Euch, hier sind J[uden] nicht unerwünscht!!!“

Mit der diesbezüglichen Beruhigung war es im Sommer 1940 vorbei, als auch ihr Zufluchtsland Hitlers Blitzkriegsstrategie zum Opfer fiel. Nur fünf Tage dauerte der Krieg, vom Einmarsch deutscher Truppen bis zur Gesamtkapitulation am 17. Mai. Dann war – nach furchtbarem Bombardement auf Rotterdam –, alles vorbei. Einige Tausend Juden fanden sich erneut von den Nazis eingeholt. Wie sehr sie sich dessen bewusst waren, zeigt allein schon die Zahl der über 120 Selbstmorde in Amsterdam während der fünf Kriegstage – die meisten wurden von jüdischen Bürgern verübt.(10)

Kampf um ein Visum, Spanischstunden und andere Überlebensstrategien

Höchst besorgt fragten die Halberstams ihre Kinder in Chile gleich am Tag nach der Kapitulation, ob nicht der so hilfreiche chilenische Diplomat unter den „außergewöhnlichen Umständen“ auch für die Eltern in Amsterdam etwas tun könne?(11) Bereits zwei Monate nach dem Einmarsch der Deutschen meldeten sich Adele und Wilhelm vorsorglich zu wöchentlichen Spanisch-Stunden an (Adele Halberstam, 15. Juli 1940). Von Monat zu Monat hofften sie inständiger auf die Erteilung ihrer Chile-Visa – bis sie, anderthalb Jahre später, im November 1941, ihre hundertste Spanischstunde begehen konnten. In seiner Verzweiflung war Wilhelm mittlerweile entschlossen, sich direkt an den Präsidenten von Chile zu wenden (18. Oktober 1941).

Über die Hintergründe der ersten Monate deutscher Besatzungspolitik erfahren wir aus den Briefen kaum etwas. Weder über die deutsche Militärverwaltung noch über die noch im Mai auf Befehl Hitlers eingesetzte Zivilverwaltung. Die Spitze dieser deutschen Aufsichtsverwaltung bestand aus vier Generalkommissaren, die einem Reichskommissar, dem Österreicher Arthur Seyß-Inquart, unterstellt waren. Drei der Generalkommissare waren ebenfalls Österreicher und hatten sich bereits beim so genannten Anschluss ihres Landes an das „Großdeutsche Reich“ mächtig hervorgetan.

Auch wenn das Konzept der Gleichschaltung und zugleich „Selbstnazifizierung“, das Reichskommissar Seyß-Inquart zielstrebig zu verwirklichen suchte, in dem erwünschten Ausmaß scheiterte: Es kam zu Kollaboration in politischer und wirtschaftlicher Beziehung, nicht zuletzt zu Kooperationen, die es ermöglichten, die bereits im Herbst 1940 forciert einsetzende Judenverfolgung voranzutreiben. Die Verfolgung der einheimischen und ausländischen Juden in den Niederlanden wurde von den beteiligten deutschen Ämtern und Dienststellen stets effizient und mit großem Eifer betrieben: „[S]ie war so etwas wie der gemeinsame Nenner, auf den sich alle Beteiligten einigen konnten“.

Die antijüdische Politik der Besatzer erfuhr ihre praktische Umsetzung auf administrativer und polizeilicher Ebene durch alle niederländischen Staats-, Justiz- und Polizeibehörden. Wobei sich die diskriminierenden Verordnungen nicht von denen unterschieden, die Adele und Wilhelm Halberstam von Deutschland her kannten. In ihren Briefen erwähnten sie zahlreiche Maßnahmen, die erlassen wurden, um die Juden unter Sonderrecht zu stellen. Nur der Schauplatz hatte sich geändert.

Es gab noch mehr Gründe, weshalb die Notwendigkeit zur Weiterwanderung immer mehr drängte. Ende 1939/ Anfang 1940 hatten die Halberstams von der Abschiebung der Juden aus Mährisch-Ostrau nach Prag erfahren – „die Männer vorläufig ohne Frauen u[nd] Kinder“, schrieb Adele –, wobei es zu schrecklichen Vorfällen gekommen war; hauptsächlich wegen „der Befürchtung, zwangsweise nach Polen deportiert zu werden“ (Adele Halberstam, 25. September 1939 und 6. November 1939). Erstmals war damit ein verhängnisvolles Stichwort gefallen: „nach Polen“.

Wir wissen heute, dass die damals begonnenen Deportationen sowie die Errichtung von Ghettos die Übergangsphase von der Vertreibungs- zur so genannten „Endlösungs“-Politik kennzeichneten. Nach dem Sieg über Polen und Frankreich zielte die deutsche Judenpolitik nur noch eine kurze Weile auf „Auswanderung“ und zeitweise auf eine „Reservatlösung“ (Stichwort „Madagaskar“). So wurden etwa 6.000 Juden – darunter auch Bekannte der Halberstams –, Ende 1939/Anfang 1940 aus Prag, Wien, Mährisch-Ostrau und Stettin ins „Generalgouvernement“ nach Polen abgeschoben.

Zu allem Unglück blieben seit dem Frühsommer 1940 die den Halberstams zum Überleben dringend notwendigen Überweisungen der Verwandten aus den USA aus. Die alten Leute mussten jetzt hungern. Gegenüber den Kindern verheimlichten sie dies zwar nicht, versuchten aber einen harmloseren Ton anzuschlagen: „Den berühmten Küchenmeister, dessen Name auf Hans endigt, und den wir jetzt einige Tage in der Woche haben, werden wir nun wohl für täglich engagieren müssen“, schrieb Wilhelm Halberstam (25. Juni 1940).

Und anderthalb Monate später über das „völlig aussichtslose Warten auf Subsistenzmittel“ – während plötzlich wieder Gerüchte auftauchten, dass es erneut Chile-Visa geben solle: „Meine Liebsten, wenn Euch die Möglichkeit noch so sehr am Herzen liegen sollte, kann es keinesfalls eine solche Lebensfrage für Euch sein, wie für uns.“ (Adele Halberstam, 18. Juli 1940) Im Oktober 1940 kam Adele, mittlerweile 69 Jahre alt, sogar auf die Idee, die Käse-Fabrikation zu erlernen, um dann einmal in Chile etwas Nützliches zu leisten; „bitte lache nicht!“, bat sie die Tochter (22. Oktober 1940).

Trotz solcher Bedrängnisse schufen die Halberstams sich einen kleinen Freundeskreis. Wenn Adele schrieb, sie lebten noch stiller als zu Anfang ihres Hierseins, brachte sie damit die isolierende Wirkung der antijüdischen Maßnahmen zum Ausdruck (10. Mai 1940 und 8. Juni 1940). Es hatte eine, wie sie es nannte, „große Völkerwanderung“ eingesetzt (6. Februar 1941). Dauernd hörten sie von Fluchtrouten und fernen Ländern: Die einen wollten mit spanischen und portugiesischen Durchreisevisa über Lissabon in die USA, nach Quito oder Kolumbien. Andere waren auf dem Weg über Leningrad und Moskau nach Yokohama, wo jedoch viele nicht weiterkamen (4. März 1941). Sie selber aber wollten nur noch eines: nach Chile, zu allem anderen seien sie zu alt.

Eskalation der Verfolgung

Die eskalierenden Maßnahmen des NS-Regimes betrafen längst vor der Jahreswende 1940/41 auch die niederländischen Juden. Jüdische Beamte durften nicht mehr eingestellt werden und wurden im November 1940 zusammen mit den jüdischen Angestellten von ihren Ämtern suspendiert, ab Februar 1941 entlassen. So genannte jüdische Unternehmen mussten angemeldet und ihr Verkauf genehmigt werden. Am 10. Januar 1941 wurden alle „Voll-, Halb- und Vierteljuden“ verpflichtet, sich bei den kommunalen Behörden für das zentrale Bevölkerungsregister registrieren zu lassen. Die Maßnahme sollte innerhalb von zehn Wochen abgeschlossen und dabei zugleich die Kennzeichnung der Betroffenen vorgenommen werden: J für so genannte Volljuden, B I und B II für „Mischling“ („Bastaard“) ersten beziehungsweise zweiten Grades. Seit Juli 1941 mussten die Personalausweise entsprechend gekennzeichnet werden.

Ein Jahr später erleichterte die Erfassung der Juden im zentralen Bevölkerungsregister der im März 1941 auch in Amsterdam – nach dem Wiener, Berliner und Prager Vorbild – eingerichteten, so genannten „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ die Vorbereitung der Deportationen „in den Osten“.

Auf die ersten Razzien der „Grünen (niederländischen) Polizei“ spielte Wilhelm Halberstam in seinem Brief vom 3. März 1941 an, als er schrieb, dass es jetzt „ungemütlich“ geworden sei. Vorausgegangen waren Zusammenstöße zwischen niederländischen Nationalsozialisten und der Bevölkerung im jüdischen Viertel. Am 12. Februar 1941 ließ der Beauftragte des Reichskommissars für Amsterdam das Viertel abriegeln und Hausdurchsuchungen durchführen. Die Besatzungsmacht nutzte die Ausschreitungen als Vorwand zur Errichtung eines „Jüdischen Rats“, der zur Durchführung der antijüdischen Maßnahmen gezwungen wurde. Nach neuerlichen Zwischenfällen erhielt die „Grüne Polizei“ den Befehl zu weiteren Razzien, bei denen am 22./23. Februar 1941 über 450 Juden verhaftet und in das KZ Mauthausen deportiert wurden.

Die Razzien lösten den berühmt gewordenen „Februar-Streik“ aus, der Verkehr und Industrie in Amsterdam und einigen nördlichen Provinzen lahmlegte, jedoch nach zwei Tagen unter Verhängung des Kriegsrechts brutal niedergeschlagen wurde. Es war die erste und größte Protestaktion einer nicht-jüdischen Bevölkerung in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten gegen die Judenverfolgung. In den Briefen der Halberstams wurde sie – wegen der Zensur – nicht erwähnt.

Nicht verschwiegen die Halberstams, dass am 15. April 1941 alle Radiogeräte der Juden beschlagnahmt worden waren, was Adele und Wilhelm empfindlich traf, da sie oft die französischen und englischen Nachrichten gehört hatten. Nun fehlte ihnen nicht nur die Musik, sondern auch die Nachrichtenquelle als beinahe einzige Verbindung zur Außenwelt. Hinzu kam, dass es Juden seit Anfang Februar 1941 verboten war, in See-, Strand- und Schwimmbädern zu baden und sich Zimmer in Pensionen oder Hotels der Seebäder zu mieten. Noch schmerzlicher registrierten die Halberstams im September 1941 das Verbot, in Parkanlagen spazieren zu gehen, war ihnen doch – mit ihrem Hund „Queen“ – der nahe gelegene Vondel-Park ein notwendiger Fluchtpunkt gewesen. Mit derselben Verordnung wurde ihnen der Besuch von Restaurants, Cafés, Kinos und Cabarets sowie von öffentlichen Bibliotheken und Museen untersagt, schließlich auch das Einkaufen auf öffentlichen Märkten.

Aus heutiger Sicht ist deutlich, dass die ersten Deportationen im Frühjahr 1941, denen bis Herbst 1941 drei weitere Transporte mit 470 niederländischen Juden ins KZ Mauthausen folgten, die Weichen stellten für die Massendeportationen aus Amsterdam von Juli 1942 an. Die Halberstams erfuhren sicher, wie alle Bewohner Amsterdams, dass die deportierten Juden ermordet worden waren – angeblich als Vergeltungsmaßnahme für Widerstandsaktionen. Eine Vorstellung davon, wie das Leben der Deportierten aus anderen Ländern, beispielsweise ihrer Prager Freunde, in Polen aussehen könnte, sprachen sie in keinem der Briefe an. Allein die in vielen Varianten wiederholte, bange Frage an die „geliebten Kinder“, ob das chilenische Parlament nicht das neue Einwanderungsgesetz beschleunigen könnte, machte zur Genüge deutlich, dass sie Europa so schnell wie möglich verlassen mussten (Wilhelm Halberstam, 25. Juni 1940). Sie füllten Fragebogen aus, mit denen der „Jüdische Rat“ ihre Auswanderung unterstützen wollte – „fehlt nur noch die Genehmigung zur Einreise nach Chile“, schrieb Adele im März 1942. Das Furchtbare war: Gleichzeitig war die Verbindung nach Chile erstmals völlig abgebrochen (10.  März 1942).

In Frühjahr 1942 wurden die schlimmsten Befürchtungen wahr. Mittlerweile waren die Halberstams beide über siebzig und lebten in ständiger Angst „vor dem, was Gott behüte kommen möge“ (30. März 1942). Seit Monaten hatten sie nicht genug Geld zum Heizen und mussten hungern (13. Mai 1942). Am 13. April 1942 schrieb Wilhelm: „Seit gestern heizen wir nicht mehr, aber denkt nicht, daß es warm ist. Jetzt ist hier eben auch das Wetter ‚verboten’“.

Adele Halberstam schrieb jetzt von vielen Menschen, die „auszogen“, „fortmüssen“, „eine unfreiwillige Reise“ antraten oder „abgeholt“ wurden, was immer dasselbe bedeutete, nämlich deportiert. In dieser Angst lebten sie seit Anfang 1942, denn seit Januar wurden Hunderte zum so genannten Arbeitseinsatz in KZ Westerbork und von dort nach Deutschland geschickt. Im Mai 1942 befanden sich bereits rund 3.200 Inhaftierte in solchen Arbeitslagern.

Während bis Frühjahr 1942 die Namen Westerbork oder Drente kaum gefallen waren, schrieben Adele und Wilhelm Halberstams erstmals in einem Brief vom 26. April 1942, die Leute würden jetzt in „ziemlichen Mengen dorthin verbracht“. Um diese Zeit waren bereits etwa 1.100, überwiegend aus Deutschland Geflüchtete, in das Lager transportiert worden. Ende April 1942 bekamen die Halberstams dann auf Vermittlung des „Jüdischen Rats“, wie sie es nannten, „Drenter Logiergäste“: Passagiere des 1939 aus Cuba zurückgeschickten Flüchtlingsschiffs „St. Louis“, die seit der Errichtung des Lagers dort interniert waren. Nach zweieinhalb Jahren Aufenthalt, die sie bereits hinter sich hatten, konnten sie in allen Details über ihr „schreckliches Dasein“ in Drente berichten.

Nachrichten über etwas, „was sich nie und nimmer nirgends hat begeben“

Ende April 1942 wurde in den Niederlanden auch der gelbe „Judenstern“ eingeführt. „Ich hatte alle Hände voll zu tun“, schrieb Adele am 1. Mai, „da ich für jeden von uns ein paar gelbe Sterne aufzunähen hatte“. Seit dem 2. Mai musste der „Judenstern“ deutlich sichtbar auf der linken Seite des Kleidungsstücks in Brusthöhe getragen werden. Der „Jüdische Rat“ hatte vergeblich versucht, gegen die Maßnahme zu protestieren, und wenngleich Solidarität- und Protestkundgebungen seitens der Niederländer nicht ausblieben, konnten der Höhere SS- und Polizeiführer Rauter und der Leiter der Zentralstelle für jüdische Auswanderung, SS-Hauptsturmführer Aus der Fünten, die Aktion als Erfolg verbuchen. Den überraschten Vorsitzenden des „Jüdischen Rat“ wurden 569.355 Sterne zur Verfügung gestellt.

Adele und Wilhelm war klar, dass damit ein neues Kapitel ihres Überlebenskampfes begonnen hatte. Ihre wiederholten Hinweise auf Gerüchte, die „meist so blödsinnig und unglaubhaft“ klängen, dass man von ihrer Verbreitung besser absehe, machten dies deutlich (Wilhelm Halberstam, 1. Juni 1942)- Ähnlich klingt dies in Etty Hillesums Tagebüchern an. Die junge Frau schrieb am 18. Mai 1942 folgende Sätze nieder: „Die Bedrohung von außen wird ständig größer, der Terror wächst mit jedem Tag.“ Und am 31. Mai 1942: „Die kleinen Grausamkeiten häufen sich immer mehr. (…]) ich weiß von Verfolgung und Unterdrückung, von Willkür und ohnmächtigem Haß und von vielem Sadismus.“ (12)

Am Tag darauf, dem 1. Juni 1942, saß auch Wilhelm Halberstam wieder am Schreibtisch. So direkt wie Etty Hillesum konnte er den „geliebten Kinder“ die Lage nicht schildern. Doch er fand eine Umschreibung, die treffender kaum sein konnte: Für „Schiffspost“ eigneten sich ja, schrieb er, „einem Dichterwort zufolge, Nachrichten über etwas, „was sich nie und nimmer nirgends hat begeben“. Ob die Empfänger in Chile diesen Satz so deuten konnten, wie Etty Hillesum schon damals und wir heute, ist zu bezweifeln. War „nie und nimmer nirgends begeben“ bereits ein Hinweis, eine Verschlüsselung für Auschwitz?

In denselben Tagen wurde die Bewegungsfreiheit der jüdischen Bevölkerung in der Öffentlichkeit nahezu völlig eingeschränkt. Seit Juni 1942 durften Juden keine Fahrräder mehr benutzen, Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln und der Gebrauch öffentlicher Fernsprecher wurde ihnen verboten, sie durften nur noch zwischen 15 und 17 Uhr einkaufen und mussten von abends 20 bis morgens 6 Uhr zu Hause bleiben. Auch Etty Hillesum notierte das: „Jeden Augenblick kann man in eine Baracke nach Drenthe geschickt werden und an den Gemüseläden hängen Tafeln: Für Juden verboten.“(13)

Bereits am 29. Juni 1942 hielt sie in ihrem Tagebuch fest: „Ich weiß, was uns noch erwarten kann.“ Ihre Eltern waren in Amsterdam schon nicht mehr zu Fuß zu erreichen. Noch wisse sie zwar, wo sie sind, aber auch, „daß eine Zeit kommt, in der ich nicht wissen werde, wo sie sind, nur daß sie deportiert wurden und elend umkommen werden. (…) Nach den letzten Nachrichten sollen alle Juden aus Holland deportiert werden, über Drenthe nach Polen.“ Der englische Sender habe berichtet, „daß seit dem vergangenen Jahr 700.000 Juden in Deutschland und in den besetzten Gebieten umgekommen sind. (…) in Polen scheint das Morden in vollem Gang zu sein.(14) Vier Tage später, am 3. Juli 1942: „Es geht um unseren Untergang und unsere Vernichtung, darüber sollte man sich keinerlei Illusionen machen.“(15)

Die letzte Etappe im Kampf um des Menschen Rechte

Inzwischen wissen wir, dass im Juni 1942 für die Juden in Amsterdam die Zeit der forcierten Deportation begann. Die niederländische Quote für Auschwitz betrage 40.000 Juden, hatte der Deportationschef im Reichssicherheitshauptamt, Adolf Eichmann gerade dem Auswärtigen Amt mitgeteilt. Am 26. Juni 1942 erhielt der „Jüdische Rat“ den ersten Befehl, dass ein „polizeilicher Arbeitseinsatz“ von Frauen und Männern zwischen 16 und 40 Jahren stattfinden werde. Der „Joodse Raad“ sollte die Erfassung der Betroffenen gewährleisten und mit einem per Post zuzustellenden Formular die Anmeldung zum Abtransport vorbereiten. Die Aufgerufenen mussten sich daraufhin bei der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ einfinden.

Bereits am 1. Juli 1942 wurde, auf Befehl von Seyß-Inquart an den Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD, Wilhelm Harster, das Lager Westerbork zum „Polizeilichen Durchgangslager“ umfunktioniert. Ein Stacheldraht und sieben Türme dienten fortan zur Bewachung. Da die ersten Aufrufe zum so genannten „Arbeitseinsatz im Osten“ vom 5. und 12. Juli, die überwiegend an deutsche Juden gingen, nicht befolgt wurden, fanden am 14. Juli im jüdischen Viertel und im Amsterdamer Süden – also direkt bei den Halberstams – Razzien statt, wobei 540 Juden festgenommen wurden. Sie wurden als Druckmittel gegenüber den 4.000 Betroffenen eingesetzt, die zur Deportation aufgerufenen worden waren.

„Heute Nacht hat sich der erste Transport zu stellen“, schrieb Wilhelm Halberstam am 14. Juli 1942. Von den 1.400 aufgerufenen Juden wurden 962 nach Westerbork deportiert, unter ihnen die Kinder einer mit den Halberstams befreundeten Familie. Dort lud man sie am Morgen des 15. Juli auf dem Bahnhof Hooghalen in Güterwagen um. Es war der erste von insgesamt 100 Transporten aus Westerbork, die fortan (bis September 1944) Woche für Woche, zum angeblichen „Arbeitseinsatz im Osten“ abgefertigt wurden.

Bereits in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 1942 verließ der zweite Zug den Amsterdamer Hauptbahnhof, mit dem auch Hertha Oppenheimer, die Hausangestellte der Halberstams, deportiert wurde. Der Güterwagen, in den sie und die übrigen Gefangenen in Hooghalen umsteigen mussten, wurde unterwegs an den ersten Transport aus Westerbork angekoppelt. Und so, eingepfercht und fast verdurstet, kamen die ersten 2.000 Juden aus den Niederlanden am 17. Juli 1942 in Auschwitz an. Heute wissen wir, dass 449 Menschen aus diesem „Transport“ sofort in der Gaskammer ermordet wurden. Zuschauer dabei war vermutlich auch Reichsführer-SS Heinrich Himmler, der am 17. und 18. Juli 1942 zur Besichtigung des Lagerkomplexes zum zweiten Mal in Auschwitz war.

Adele und Wilhelm Halberstams Wohnung lag direkt gegenüber den Gebäuden der so genannte „Expo“, der Expositur des „Jüdischen Rats“. Nur wenige Hundert Meter entfernt war die Sammelstelle für die „Transporte nach Osten“, zugleich der Sitz der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“: zwei Orte, wo über Leben und Tod entschieden werden musste. Auf der „Expo“ bekamen die Verfolgten die begehrten Stempel, die „bis auf weiteres“ den Verbleib in den Niederlanden erlaubten, sofern die „Zentralstelle“ die Zurückstellung vom „Arbeitseinsatz“ bescheinigt hatte. Wem es gelang, sich beim „Jüdischen Rat“ eine Funktion zu verschaffen, konnte hoffen, vorläufig von den Deportationen zurückgestellt zu werden.

Etty Hillesum, die sich zunächst dagegen sträubte, schließlich aber am 15. Juli 1942 eine Anstellung bei der „Kulturellen Abteilung“ annahm, schrieb über die „Scheinposten“ beim „Jüdischen Rat“, es herrsche dort „eine ziemliche Vetternwirtschaft“. Die „Erbitterung gegen diese merkwürdige Vermittlungsstelle“ steige von Tag zu Tag: „Und außerdem: Man kommt ja doch nur etwas später an die Reihe.“ (16) Sie hatte die infame Praxis ihrer Verfolger durchschaut, die die Opfer zu Tätern machten. „Es ist wohl nie wiedergutzumachen“, schrieb sie am 28. Juli 1942 in ihr Tagebuch, „daß ein kleiner Teil der Juden mithilft, die überwiegende Mehrheit abzutransportieren.“(17) Was Etty Hillesum, die im August 1942 nach Westerbork deportiert wurde, hier festhielt, erlebten auch die unweit wohnenden Halberstams. (18)

Unter anderem berichteten sie zum Stichwort „Arbeitsdienst“ von zwei Herren, die bei ihnen übernachteten. Diese seien „mit einem aus Drente eingetroffenen Transport freigekommener Misch-Ehepaare“ nach Amsterdam gelangt (Wilhelm Halberstam, 14. Juli 1942). Die größte Gruppe der zunächst Zurückgestellten umfasste die Funktionäre des „Jüdischen Rats“ selber und ihre Familien, zusammen mit Ärzten, Apothekern, Friseuren und Ladeneigentümern, die die Versorgung der Gemeinde gewährleisten mussten. Auch Albert Halberstam, der am 11. August 1942 zum „Arbeitsdienst“ aufgerufen wurde, konnte mit Hilfe von Beziehungen eine Rückstellung erwirken. Insgesamt ordnete die „Zentralstelle“ bis Dezember 1942 auf der Basis eines stetig verfeinerten Stempelsystems in über 32.6000 Fällen Ausnahmen an. Wobei, wie Etty Hillesum schrieb, „Freistellung“ immer nur zeitlicher Aufschub der Deportation hieß.

All dies mussten die Halberstams mit ansehen. Tausende zum „Abtransport nach Osten“ aufgerufene Juden, die sich auf der „Expo“ zu präsentieren hatten; Tausende, die versuchten, eine Zurückstellung oder einen rettenden Stempel zu ergattern. Bis die Sammelstelle zu klein wurde und im Oktober 1942 in der so genannten „Joodse“, vormals „Hollands Schouwburg“, einem früher bekannten Theater, eine Erweiterung bekam.

Menschenpflicht

In den Monaten ab Juli 1942 folgte Razzia auf Razzia, immer nach dem gleichen Schema. Die Zusammengetriebenen wurden als Geiseln genommen, bis die für den jeweiligen Transport festgesetzte Zahl erreicht war. Jüdische Familien, die sich bei Bekannten versteckten, brachten auch diese in große Gefahr. Dennoch nahmen die Halberstams auf Bitten des „Jüdischen Rats“ oftmals Leute auf, die bei nächtlichen Aktionen auf der Sammelstelle zurückgestellt wurden. Adele schrieb darüber am 10. September 1942: „Uns gegenüber befindet sich das Büro vom Joodschen Raad, in welches diejenigen zurückkommen, die von der nahegelegenen deutschen Behörde freigelassen werden (…). Das dauert ungefähr von 12 – 2 Uhr nachts. Die Betreffenden dürfen erst um 6 Uhr wieder die Straße betreten. Albert hat unsere Wohnung zum Aufenthalt f(ür) die Betreffenden zur Verfügung gestellt, was ja auch wirklich Menschenpflicht ist.“ Über zweihundert Menschen wurden so allein im September zur nächtlichen Einquartierung in ihrer kleinen Wohnung untergebracht.

Wie es Ende September 1942 in einem Bericht des Höheren SS- und Polizeiführers Rauter an Himmler hieß, waren bis dahin 20.000 Juden aus den Niederlanden „nach Auschwitz in Marsch gesetzt“ worden. Am 18. Oktober werde das Judentum im ganzen Land als vogelfrei erklärt und zuletzt noch eine Großaktion der Polizei, der niederländischen NS-Partei sowie der Wehrmacht stattfinden.

Von den Menschen, die nach Westerbork und „weitergeschickt“ wurden, hörten die Halberstams nichts mehr. Wussten sie, was der Name Auschwitz bedeutete? Wussten sie mehr als der „Joodse Raad“, der auf einer Sitzung am 18. September 1942 erstmals von „einem Todesfall in Auswitz“ (sic!) Kenntnis bekam.(19) In „Auswitz“? Noch im August 1942 suchten Mitglieder des Rats fünf Tage auf den Landkarten nach einem Ort namens Birkenau. Bis dahin waren 15.763 Juden aus den Niederlanden nach Auschwitz deportiert worden; nur von 52 war in Amsterdam ein Lebenszeichen angekommen: eine Postkarte aus „Birkenau“. Weder in Etty Hillesums Tagebuch noch in den Briefen der Halberstams kommt der Name Auschwitz oder auch Birkenau vor. Bei Anne Frank heißt es im Oktober 1942:

„Das Judenlager (…) Westerbork muß grauenhaft sein. (…) Wenn es hier in Holland schon so schlimm ist, wie furchtbar wird es dort in der Ferne sein, wohin sie verschickt werden? Das englische Radio berichtet von Gaskammern…“(20)

Fast unvorstellbar erscheint, dass Wilhelm Halberstam inmitten dieser Deportationsgeschehnisse im Oktober 1942 im jüdischen Krankenhaus noch eine beidseitige Staroperation ausführen ließ. Gerade jetzt, im November 1942, brach der Briefkontakt mit Chile ab. Ab Januar 1943 kamen nur noch Rot-Kreuz-Nachrichten in Santiago an: vorgedruckte Formulare, die mit großer Verzögerung eintrafen.

In einem dieser „Telegramme“ stand: „Seit 20. Juni (1943) hier“. Adele und Wilhelm Halberstam waren mit einem der schrecklichen Transporte, die der Chronist des KZ Westerbork Philip Mechanicus aufgezeichnet hat, deportiert worden. Es war ein Sonntag, dieser 20. Juni 1943. Am „Ende eines herrlichen Sommertages“, schrieb Mechanicus, wurde „eine der letzten Wellen von Juden aus Amsterdam hereingespült“. Tags darauf kam Mechanicus noch einmal auf diesen Transport zurück:

„Heute trafen in aller Frühe Tausende von Koffern, Säcken und Bündeln ein, die die Juden aus ihren Häusern mitgenommen hatten (…).In dichtgedrängten Trupps sind sie in die Baracken hineingetrieben worden: Drei, vier, manchmal fünf Personen in zwei Betten, mitsamt ihrem Gepäck. (…) Bis zu elfhundert Leute in einer Baracke ohne den geringsten Bewegungsspielraum. (…) Wie Ameisen laufen sie übereinander hinweg, aneinander vorbei, wie kleine, unbedeutende Ameisen.“(21)

„Kamp Westerbork, B 84“ (Baracke 84), lautete die letzte Adresse der Halberstams, die nicht mehr viel nach Chile übermitteln konnten, unter anderem eine Nachricht von Transporten am 29. September, mit denen ihr Sohn Albert in Westerbork ankam; eine weitere unter dem Datum vom 5. Oktober 1943 von Adele, dass ihr geliebter Wilhelm tags zuvor infolge eines Herzschlags gestorben war. „Namenlos traurig“ schrieb Adele über seine letzten Tage, über eine noch zuletzt in der Krankenbaracke überstandene Lungenentzündung. Nichts sonst aus dem Lager.

Von Mechanicus wissen wir, dass es dort zur gleichen Zeit schrecklich zuging. Schon am 4. September 1943 hatte er in seinem Tagebuch notiert, dass das Schicksal Westerborks „besiegelt“ sei, dass man den Beschluss gefasst und verkündet habe:

„(…) das Lager aufzulösen und die Juden in den Osten zu schicken, nach Auschwitz, nach Theresienstadt und Mitteldeutschland. (…) Das Lager ist vom Beschluss überwältigt (…) gleicht einem Bienenkorb: jeder geht zu jedem, um den Fall zu besprechen. Wut kommt hoch gegen die Engländer und Amerikaner, die in Kalabrien landen, aber nicht in Holland, und deshalb noch lange nicht in Westerbork sind. (…) Die Juden spornen sich gegenseitig an, endlich die Vorräte aufzubrauchen, und Vitamine zu sich zu nehmen, um möglichst stark in Polen, Deutschland oder sonst wo anzukommen (…). Vernünftige Juden sagen: Sollen sie uns doch nach Polen schicken, wir kommen dort in guter Verfassung an und werden unseren geschwächten Brüdern und Schwestern helfen.“ (22)

Die Verfolgten und Geflüchteten kämpften um ihr Überleben, sie wollten nicht aufgeben. Nur im Nachhinein ist die Schlussbemerkung des Westerbork-Chronisten als Hinweis auf den geplanten Genozid zu deuten:

„Alle Juden gehen ein und denselben Weg. Sie werden vom niederländischen Territorium entfernt, ohne Ausnahme, ohne Rücksicht auf die Person, und werden in den Osten abgeschoben.“(23)

Jeden Montag komme der Transportzug, „das räudige Tier“, hereingekrochen – mit schrecklicher Regelmäßigkeit. Jetzt aber (so die Eintragungen vom 3. und 4. Oktober 1943) bezweifle man, ob der „Sklaventransport“ angesichts des Vormarschs der Roten Armee überhaupt noch dahin komme. „Man munkelt, daß die Deutschen bereits seit ein paar Wochen damit beschäftigt sind, die Juden im Osten hinter der Front in das große Lager Auschwitz zurückzuziehen.“(24)

„Der Lebenszweck fehlt“ – Tod in Auschwitz

Die Gerüchte schwirrten nur so durchs Lager Westerbork und sie Adele Halberstam, die mittlerweile 71 war und am Tod ihres Mannes bitter litt, nur noch schwerer. „Ich funktioniere wie ein Automat, der Lebenszweck fehlt“, telegrafierte sie den „geliebten Kindern“ am 31. Oktober 1943. Erst jetzt hatte sie aufgegeben. Es war ihre letzte Nachricht. Vierzehn Tage später stand auch ihr Name – „ungesperrt, transportfrei“, wie es in der Lagersprache hieß – auf einer der Listen, die in den Baracken in der Nacht vor der Ankunft des „räudigen Tiers“ verlesen wurden. „Nacht des Unheils“ hat sie der Historiker Jacques Presser genannt und damit immer die Nachtstunden von Sonntag auf Montag gemeint, wenn in der Registrierbaracke die „große Liste“ oft bis nach Mitternacht öffentlich verlesen wurde. In dieser „Transportnacht“ musste dann gepackt und der Zug, der mitten in das Lager fuhr, in den Morgenstunden beladen und abgefertigt werden.

Am Dienstag, dem 16. November 1943, wurden Adele Halberstam, ihr Sohn Albert und 993 weitere Lagerinsassen „auf Transport“ nach Auschwitz geschickt. Philip Mechanicus hielt auch diesen Tag in seinem Tagebuch fest:

„Transport von über tausend Menschen: Gestrafte, Ungestempelte, abgewiesene Bewerber für Palästina, darunter viele junge Männer, Krankenhauspersonal, Kranke. (…). Ein ‚normaler’ Transport. Die jüngeren unter den Verbannten haben die Reise singend hingenommen. Man sieht dem Lager an, daß nun tausend Personen weniger da sind. Jetzt sind noch ungefähr achteinhalbtausend Personen übrig. Wie lange noch?“

Der Transport kam am 17. November 1943 in Auschwitz an, 531 Menschen wurden sofort in der Gaskammer getötet. Unter ihnen Adele Halberstam. Ihr Sohn Albert überlebte noch bis zum 31. März 1944.

Adele und Wilhelm Halberstams Vermächtnis

Das ist die Geschichte der Halberstams, deren Kinder und Enkel sich nach Chile retten konnten, wo heute als letzte Überlebende der ersten Generation der Geflüchteten ihre Enkeltochter Lore Hepner lebt, mit ihren Enkel- und Urenkelkindern. Woher nahmen die beiden alten Menschen den Mut und was gab ihnen die Kraft, nicht aufzugeben und ihren Kindern auch noch Optimismus zuzusprechen, um ihnen den Neuanfang in Chile nicht zu erschweren? Adele und Wilhelm klagten nicht, sie jammerten nicht, sie kämpften um jeden Tag ihres Lebens, das immer beengter und bedrängter wurde. Wir erfahren viel aus ihren Briefen über die deutsche Besatzung der Niederlande, wie die Gefahr immer größer wurde, der Lebensraum immer kleiner, und was es heißt, sich nicht demütigen zu lassen.

Die von Amsterdam nach Santiago reisenden Briefnachrichten deuteten auf Vieles hin, was in den besetzten Niederlanden gerade eben passierte oder kurz bevorstand. Die Briefe sind auch ein Beweis, dass es die von den Machthabern des „Dritten Reiches“ gewollte Abschottung nicht gegeben hat und dass, wer wissen wollte, dies auch konnte.

Wieviele solcher Briefe hat es noch gegeben, Schreie in der Not? Warum gab es nicht mehr Solidarität? Denn dass diese möglich war, bewiesen die Halberstams in der Stunde größter Not selbst, indem sie trotz der damit verbundenen Gefahren zahlreiche Verfolgte von der Straße weg bei sich in der beengten Wohnung aufnahmen. Sie gaben ihnen ein Dach über den Kopf, zu essen und einen Schlafplatz.

Das Vermächtnis von Adele und Wilhelm Halberstam an uns ist: Wer will, kann helfen, auch und sogar unter extremen Bedingungen. Dieses Erbe anzunehmen, macht einen großen Unterschied zu der Behauptung, „man“ habe gegen die Übermacht der Verfolger nichts tun und sich nicht widersetzen können. Es ist ein Vermächtnis, das zum aktiven Widerstand verpflichtet, wenn die Menschenwürde verletzt wird.

Es war die Liebe zu ihren Kindern und Enkeln, der Wunsch zu ihnen nach Chile zu kommen und Europa samt all dem Grauen den Rücken zu kehren, der die Halberstams nicht aufgeben ließ. Diese Hoffnung und der Wunsch, ihren Sohn Albert mitzunehmen, hielt die beiden alten Menschen am Leben. Die Frage allerdings, die sich Adeles und Wilhelms Enkeltochter Lore Hepner immer wieder gestellt hat: „Wessen Hand war es, die uns beschützte, während meine Großeltern umgebracht wurden?“(25), wird sich letztlich wohl nie ganz beantworten lassen.

Dr. Irmtrud Wojak

 

Anmerkungen

(1) Wilhelm Halberstam, 18. August 1941. Alle zitierten Briefe sind abgedruckt in: Wojak und Hepner (1995).

(2)  Friedländer (1998). Wieviel solche Briefe aussagen, belegte S. Friedländer in seinen Büchern und auch in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 14. Oktober 2007, in der er aus den letzten Briefen seiner in Auschwitz ermordeten Eltern vorlas. Friedländer, Saul (2007).

(3) Das Tagebuch der Anne Frank (1957); Hillesum (1985); Mechanicus, (1993).

(4) Das Tagebuch der Anne Frank (1957), S. 11 f. (20. Juni 1941)

(5) Hillesum, S. 166.

(6) Hepner (1995), S. 47 ff.

(7) Zur chilenischen Immigrationspolitik siehe Wojak (1994).

(8) Gies (1993), S. 29.

(9) Wilhelm Halberstam, 15. Mai 1939. Am 25. Juni 1939 schrieb er, dass „unsere Liebe zu Amsterdam so tief in unseren Herzen eingeschlossen zu sein scheint, dass wie gar nichts von ihr merken. […] Unter den vielen Tausenden, denen man begegnet, wenn man in die Straßen kommt, trägt niemand ein auch nur vom Sehen bekanntes Gesicht. Das erhöht nicht das Interesse, das uns die kapitale Kapitale abzugewinnen vermag“.

(10) Romijn (1995), S. 316.

(11) Adele Halberstam, 18. Mai 1940; siehe auch dies., 22. Juni 1940: „Ich wiederhole, lieber Heinrich, soweit es Deine Zeit erlaubt, Dich immer wieder um ein Visum für uns zu bemühen.“

(12) Hillesum, S. 104.

(13) Ebd., S. 111.

(14) Ebd., S. 120 f.

(15) Ebd., S. 123.

(16) Ebd., S. 149.

(17) Ebd., S. 167.

(18) Ebd., S. 169.

(19) Friedländer (1998), S. 437.

(20) Das Tagebuch der Anne Frank, S. 39 f.

(21) Mechanicus, S. 65 (21. Juni 1943).

(22) Ebd., S. 182 ff.

(23) Ebd., S. 183.

(24) Ebd., S. 234 f.

(25) Hepner (1995), S. 54.

 

Literaturverzeichnis

Das Tagebuch der Anne Frank (1957). 12. Juni 1942 – 1. August 1944. 454.-503. Tausend. Frankfurt am Main: Fischer TB (Orig. 1955).

Friedländer, Saul (1998). Das Dritte Reich und die Juden. Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939. München: C.H. Beck-Verlag.

Friedländer, Saul (2007). „Den Schreien der Opfer lauschen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Oktober 2007.

Gies, Miep (1993). Meine Zeit mit Anne Frank. In Zusammenarbeit mit Alison Leslie Gold. München: Heyne (Dt. Orig. 1987).

Hepner, Lore (1995). „Zur Erinnerung an meine Großeltern“, in: Wojak, Irmtrud und Hepner, Lore (Hrsg.).„Geliebte Kinder…“ Briefe aus dem Amsterdamer Exil in die Neue Welt 1939-1943. 1. Aufl. Essen: Klartext Verlag, S. 47-54.

Hillesum, Etty (1998). Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943. Hrsg. und eingeleitet v. J. G. Gaarlandt. Aus dem Niederländischen von Maria Csollány. 15. Auflage. Reinbek bei Hamburg: rororo.

Mechanicus, Philip (1993). Im Depot. Tagebuch aus Westerbork. Aus dem Niederländischen von Jürgen Hillner. 1. Aufl. Berlin: Edition Tiamat.

Romijn, Peter (1995). „De oorlog (1940-1945)“, in: Geschiedenis van de Joden in Nederland. Hrsg. v. J.C.H. Blom u. a. Amsterdam: Uitgeverj Balans, S. 313-347.

Wojak, Irmtrud (1994). Exil in Chile. Die deutsch-jüdische und politische Emigration während des Nationalsozialismus 1933-1945. Berlin: Metropol.

Wojak, Irmtrud und Hepner, Lore (Hrsg.) (1995). „Geliebte Kinder…“ Briefe aus dem Amsterdamer Exil in die Neue Welt 1939-1943. 1. Aufl. Essen: Klartext Verlag.

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