"Wir müssten lernen, für Recht und Gerechtigkeit zu leben und - wenn es sein muß - zu sterben."

Fritz Bauer

"Er war der größte Botschafter, den die Bundesrepublik hatte."

Robert M. W. Kempner
* 16. Juli 1903 in Stuttgart, Deutschland
† 1. Juli 1968 in Frankfurt am Main, Deutschland
Staatsangehörigkeit bei Geburt: Deutschland
Staatsangehörigkeit bei Tod: Deutschland
Vater

Ludwig Bauer

* 11. November 1870  Ellwangen
† 12. Dezember 1945  Sävedalen
Mutter

Ella Gudele Bauer

* 3. Januar 1881  Tübingen a. Neckar
† 25. Juni 1955  Göteborg
Partner_in

Anna Maria Bauer Petersen

* 1903  Kopenhagen
† 2002  Kopenhagen
Geschwister

Margot Tiefenthal

* 23. April 1906  Stuttgart
† 21. April 1992  Stockholm
Land des Kampfes für die Menschenrechte: Deutschland, Dänemark, Schweden
Ort des Kampfes für Menschenrechte: Stuttgart, Kopenhagen, Stockholm, Braunschweig, Frankfurt am Main
Bereich Art Von Bis Ort
Schule Unbekannt 1908 1912 Stuttgart
Schule Gymnasium 1912 1920 Stuttgart
Universität Unbekannt 1921 1924 München, Tübingen, Heidelberg
Beruf Landgerichtsdirektor
Beruf Generalstaatsanwalt
Beruf Richter
Beruf Jurist

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ort: Stuttgart
Eintrittsgrund: Widerstand gegen den Nationalsozialismus
Funktion / Tätigkeit:

Reichsbanner Schwarz Rot Gold

Ort: Stuttgart
Eintrittsgrund: Widerstand gegen den Nationalsozialismus
Funktion / Tätigkeit:

Leitmotiv

Anwalt und Kämpfer für des Menschen Rechte

Bereits als Kind erlebte Fritz Bauer Antisemitismus und Ausgrenzung, das Aufkommen der nationalsozialistischen Bewegung zu Beginn der 1920er Jahre in Deutschland politisierte ihn. In Stuttgart trat der Jurist in die SPD ein und kämpfte seitdem für den Erhalt der Demokratie. Die Anerkennung eines Rechts und einer Pflicht zum Widerstand, wenn die Menschenrechte verletzt werden, waren sein Ziel.

Wie wurde die Geschichte bekannt?

Irmtrud Wojak publizierte 2009 die erste Fritz-Bauer-Biographie. 2010 erschien der zweite Dokumentarfilm, FRITZ BAUER – TOD AUF RATEN, Regie: Ilona Ziok, CV Film.

Wann wurde die Geschichte bekannt?

2009

Wo wurde die Geschichte bekannt?

Deutschland

Durch wen wurde die Geschichte bekannt?

Irmtrud Wojak

Preise, Auszeichnungen

Ludwig Thoma Medaille der Landeshauptstadt München (1968)

Literatur (Literatur, Filme, Webseiten etc.)

Robert M. W. Kempner, (Trauerrede), in: Hessisches Ministerium der Justiz (Hg.), Fritz Bauer.In memoriam. Wiesbaden 1969, S. 23-26.

Müller-Meiningen jr., Ernst, „Wenn einer nicht im Dutzend mitläuft. Erinnerungen an den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der am 16. Juli 165 Jahre alt geworden wäre“, in: Süddeutsche Zeitung, 16.7.1968.

Nelhiebel, Kurt, Einem Nestbeschmutzer zum Gedenken. Über Fritz Bauers Wirken als politischer Mensch. Essay. Gesendet bei Radio Bremen am 18.11.1993 (Mskr.).

Perels, Joachim, „Ein Jurist aus Freiheitssinn – Fritz Bauer“, in: Vorgänge 155. Zeitschrift für Bürgerrrechte und Gesellschaftspolitik, 40. Jg. (2001), H. 3, S. 219-224.

Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903-1968. Eine Biographie. Neuauflage, München: BUXUS EDITION, 2016.

Eigene Werke

Die rechtliche Struktur der Truste: Ein Beitrag zur Organisation der wirtschaftlichen Zusammenschlüsse in Deutschland unter vergleichender Heranziehung der Trustformen in den Vereinigten Staaten von Amerika und Rußland. Diss., Mannheim, Berlin, Leipzig 1927 (Wirtschaftliche Abhandlungen 4).

Die Kriegsverbrecher vor Gericht. Zürich, New York 1945 (Neue Internationale Bibliothek, Bd. 3).

Das Verbrechen und die Gesellschaft. München, Basel 1957.

Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns. Hg. v. Landesjugendring Rheinland-Pfalz. Mainz 1961.

Auf der Suche nach dem Recht. Stuttgart 1966.

Fritz Bauer schöpfte seine Überlebenskräfte vor allem aus einer behüteten Kindheit, der Liebe und engen Beziehung zu seiner Mutter, einer umfassenden humanen Bildung und dem Bewusstsein für die eigene Geschichte.
  • Persönlichkeit
  • Politische Einstellung
  • Bildung
Menschenwürde
Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit
Verbot von Folter oder grausamer, unmenschlicher Behandlung
Gleichheit vor dem Gesetz
Asylrecht
Recht auf freie Meinungsäußerung
Recht auf Wahrheit

EINLEITUNG

Anwalt und Kämpfer für des Menschen Rechte

Bereits als Kind erlebte Fritz Bauer Antisemitismus und Ausgrenzung, das Aufkommen der nationalsozialistischen Bewegung zu Beginn der 1920er Jahre in Deutschland politisierte ihn. In Stuttgart trat der Jurist in die SPD ein und kämpfte seitdem für den Erhalt der Demokratie. Die Anerkennung eines Rechts und einer Pflicht zum Widerstand, wenn die Menschenrechte verletzt werden, waren sein Ziel.

DIE GESCHICHTE

Im Kampf um des Menschen Rechte

Fritz Bauer (1903-1968)

Fritz Bauers Leben ist die Geschichte eines Sozialdemokraten im katastrophalen 20. Jahrhundert und im Besonderen in der Auseinandersetzung mit unserer politischen und juristischen Zeitgeschichte vor 1933, danach und bis heute. Die wenigsten können heute wirklich etwas mit seinem Namen verbinden. Das haben schon Bauers Zeitgenossen vorausgesehen und gemeint, sein Lebenswerk würde erst viel später in Erinnerung kommen.[1]

Seit die politische (Erinnerungs-)Kultur und speziell die deutsche Filmbranche Fritz Bauer für sich entdeckt haben, ist dieser Satz zumindest teilweise überholt. Sie haben, basierend auf dem Buch des Journalisten und Juristen Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, und einer Ausstellung des nach Bauer benannten Instituts in Frankfurt am Main einen gebeutelten Nazi-Jäger und Selbstmörder erfunden, notorisch ein Verlierer und Antiheld. Als rachsüchtiger Workaholik, der dem israelischen Geheimdienst Mossad half, den Deportationsspezialisten Adolf Eichmann vor Gericht zu bringen, haben sie den mutigen Juristen zum Landesverräter abgestempelt.[2] In dem preisgekrönten Film DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER (Regie: Lars Kraume, 2015) ist Bauer, basierend auf den von Ronen Steinke in die Welt gesetzten Gerüchten, gleich in der ersten Szene ein Badewannen-Selbstmörder. Das Setting zeigt ihn nackt in der Badewanne, neben sich ein Glas Rotwein und Tabletten.

Spielfilmtauglich machten den Juristen und Kämpfer für die Menschenrechte vor allem das Widerkäuen der Nazi-Ideologie und ein gefährliches Spiel mit Vorurteilen. “Der Jude ist schwul”, lautet die zentrale Behauptung des Films DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER, der sich dabei auf eine Akte der dänischen Fremdenpolizei beruft. Dass diese mit den Nazis kollaborierte und den politischen Flüchtling wie viele andere vor allem wieder loswerden wollte, in der diffamierenden Akte auch das Gegenteil steht, verschweigen R. Steinkes Buch ebenso wie der Film und seine Berater. Der “schwule Jude” und der Sozialdemokrat als “Landesverräter” machen sich aus ihrer Sicht offenbar besser als ein Widerstandskämpfer und Anwalt für die Menschenrechte. Ronen Steinkes Buch, die kurz darauf erschienene Ausstellung “Der Staatsanwalt” des Fritz Bauer-Instituts, und die von diesem beratenen Spielfilme sind Teil einer politischen (Erinnerungs-)Kultur, die anstelle von Bauers aufklärerischem Ansatz und seines an den Menschenrechten orientierten Denkens auf persönlichen Erfolg setzt und damit dem aktuellem Rassismus und Antisemitismus zum Tanz aufspielt.[3]

Hier sollen einige der Grundzüge und Motive im Leben Fritz Bauers in Erinnerung gerufen werden, vor allem sein wichtigstes Anliegen: dem Recht und der Pflicht zum Widerstand nach Jahren des nationalsozialistischen Unrechtsstaats zu neuer Geltung zu verhelfen. Kurt Nelhiebel war es, der dem angefeindeten “Nestbeschmutzer” 1968 als einer der ersten ein würdiges Denkmal setzte und deutlich machte, wie sehr diese Bezeichnung aus der Ära Adenauer dem sozialdemokratischen Generalstaatsanwalt, der Auschwitz vor Gericht brachte, zur Ehre gereicht.[4]

Fritz Bauer wurde 1903 in Stuttgart geboren, er selbst hat nach dem Zweiten Weltkrieg von seinem Heimweh nach Stuttgart gesprochen, als er erstmals auf eine Besuchsreise nach Deutschland zurückkam und in der Wiedersehensfreude,  so in einem Brief an den damaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, besonders die Kässpätzle rühmte, die er für eine Mark in einem deutschen Restaurant verzehrte und vor lauter Heimweh die Speisekarte “klaute”, um sie mit zurück nach Dänemark zu nehmen.

Abb. 1

Abb. 1

Gewiss gäbe es mancherlei über Stuttgart, wo Bauer seine Jugend verbrachte, zu berichten. Von Stuttgart aus ist sein Vater dem kaiserlichen Ruf gefolgt und in den Ersten Weltkrieg gezogen. In Stuttgart besuchte Bauer das traditionsreiche Eberhard-Ludwigs-Gymnasium (s. Abb. 1: Postkarte des Gymnasiums), hier hat er die Revolution von 1918/19 erlebt, die wahrlich keine war. Aus Stuttgart ist er ins Studium fortgezogen, nach Heidelberg, München und Tübingen und er wurde in Württembergs Hauptstadt schließlich jüngster Amtsrichter Deutschlands. Als Student riss ihn die Aufbruchsstimmung nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs am Ende des ersten Weltkriegs ins politische Leben. In Stuttgart schloss er sich der Sozialdemokratischen Partei an. Bis zum letzten Tag kämpfte er für den Erhalt der Republik.

Mit der Machtübernahme der Nazis endete die Laufbahn des jungen Juristen jäh. Sofort wurde der Sozialdemokrat ins Konzentrationslager gesperrt und aus dem Amt entlassen. Ende 1935, nach der Einführung der Nürnberger Rassegesetze, flüchtete der mittlerweile 32jährige von Stuttgart nach Kopenhagen. Als die Nationalsozialisten die so genannte “Endlösung der Judenfrage” auch dort in Gang setzten, floh er im Oktober 1943 nach Schweden, nach dem Ende des “Zweiten Weltkriegs ging er erneut nach Dänemark. Eine Heimkehr in sein geliebtes Schwabenland gelang ihm nicht. In der württembergischen Justiz gab es niemanden, der Fritz Bauer aus dem Exil zurückrief. Wenige Wochen vor Gründung der Bundesrepublik und der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 kehrte Bauer dennoch zurück. Er wurde zunächst zum Landgerichtsdirektor, dann 1950 zum Generalstaatsanwalt am Braunschweiger Oberlandesgericht ernannt. 1956 berief der hessische Ministerpräsident und Justizminister Georg August Zinn (SPD) ihn in das Amt des Generalstaatsanwalts nach Frankfurt am Main. Dort wirkte er zwölf Jahre, bis 1968.

Abb. 2

Abb. 2

 

Fritz Bauers Leben und Denken war durch die tiefen politischen und sozialen Einschnitte des zu Ende gehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. Ebenso beeinflussten ihn der emanzipatorische Geist, der im Haus seiner Großeltern in Tübingen herrschte, der Heimatstadt seiner Mutter (Abb. 2: Tuchgeschäft der Großeltern in Tübingen). Die Gedankenwelt des schwäbischen Idealisten, sein Widerstandsgeist, wurde vom Kampf um die rechtliche Gleichstellung der Juden in Deutschland geprägt und von der Liebe seiner Mutter getragen. Sein Schicksal als Verfolgter des Nazi-Regimes, der KZ-Haft und zehn Jahre als politischer Flüchtling im besetzten Dänemark und in Schweden überlebte, ließ ihn nicht erlahmen, sondern trieb ihn immer weiter voran.

 

“Ich bin zurückgekehrt”, sagte er selbst nach seiner Rückkehr, “weil ich glaubte, etwas von dem Optimismus und der Gläubigkeit der jungen Demokraten in der Weimarer Republik, etwas vom Widerstandsgeist und Widerstandswillen der Emigration im Kampf gegen staatliches Unrecht mitbringen zu können. Ich wollte ein Jurist sein, der dem Gesetz und Recht, der Menschlichkeit und dem Frieden nicht nur Lippendienst leistet.”[5]

Mit diesem Programm kehrte Bauer nach Deutschland zurück, um bei einem grundlegenden Neubeginn mitzuhelfen und die dringend erforderliche “geistige Revolution der Deutschen” mitzubewirken. Die Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Nationalsozialismus hielt er für unumgänglich. Die Deutschen sollten “Gerichtstag halten über sich selbst”, über die gefährlichen Faktoren in ihrer Geschichte, wie er sagte, “über alles, was hier inhuman war”.[6]

Haben sich Fritz Bauers Erwartungen erfüllt?

Kennengelernt habe ich ihn zuerst und vorrangig als radikalen Aufklärer der NS-Verbrechen, als unbequemen Mahner und Außenseiter, der seinen Zeitgenossen permanent den Spiegel vorhielt. Bauer wollte und konnte die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Er provozierte das schlechte Gewissen der Täter und Mitläufer des NS-Regimes, indem er sie in den Prozessen mit den Einzelheiten des Verbrechens der so genannten “Endlösung der Judenfrage” konfrontierte. Er war “der Generalstaatsanwalt, der die Mörder von Auschwitz anklagte”, so knapp hat es die Juristin Ilse Staff einmal formuliert.[7] Deshalb verfolgten ihn Drohbriefe und Anfeindungen bis zum Tod.

Fritz Bauer dem Vergessen zu entreißen und den ihm gebührenden Platz in der Geschichte zu verschaffen, bedeutet, das wird schnell klar, alte Wunden aufzureißen. Auch bei denen, die ihn geliebt haben und die sich nach seinem allzu frühen Tod schwere Vorwürfe machten. Haben wir uns eigentlich um Fritz Bauer gekümmert? “Was haben wir für ihn getan?”, fragte sich anlässlich der offiziellen Trauerfeier für Bauer der frühere Ankläger beim Internationalen Nürnberger Gerichtshof, Robert M. W. Kempner. In dem hessischen Generalstaatsanwalt sah er den Sprecher der Ermordeten, der sich dafür einsetzte, dass die Überlebenden der Konzentrationslager, die als Zeugen zu den Prozessen nach Deutschland zurückkamen, fürsorglich betreut wurden: “Ideen, an die früher noch niemand gedacht hatte”. Für ihn war Bauer, wie Kempner den Zuhörerinnen und Zuhörern entgegenschleuderte, der größte Botschafter, den die Bundesrepublik hatte. Und er würde gerne all denen rechts und links in die Fresse schlagen, die gemeinsam gegen ihn waren.[8]

Bei den Recherchen über Bauers Biographie treten immer wieder die Versäumnisse und Hindernisse bei der juristischen Ahndung und Verurteilung des millionenfachen Mordes in den Vordergrund:

– die Integration der NS-Juristen und überhaupt der Nazis in den Beamtenapparat der Bundesrepublik Deutschland

– die Unwilligkeit der Justiz und Polizei, der NS-Verbrecher habhaft zu werden und den Massenmord mit den zur Verfügung stehenden juristischen Mitteln zu ahnden

– die erschreckende Gehilfenrechtsprechung in den KZ- und Einsatzgruppenprozessen, die aus Massenmördern leicht manipulierbare Marionetten eines verbrecherischen Regimes machte, als hätte es keine „echten” Nazis gegeben

– und besonders schmerzhaft das fehlende Mitgefühl mit den Opfern und Überlebenden der Verfolgung.

Fritz Bauers Leben und Werk lassen sich nicht einfach einer bundesrepublikanische Erfolgsgeschichte einverleiben. Sich mit seinem aufopferungsvollen Weg nachträglich selbst zu belobigen, ist, wie dies Kurt Nelhiebel unter dem Titel “Die Nestbeschützer” deutlich gemacht hat, Teil eines Kampfes um historisch-politische Deutungshoheit.[9] Das Leben und Werk des Juristen waren von zwei Weltkriegen, von    Rassismus und Widerstand gegen Antisemitismus und Judenvernichtung geprägt, nach 1945 von erneuter Ausgrenzung und Widerstand gegen die Verdrängung der Geschichte und der Verbrechen der Nazis, deren Opfer und Überlebende jetzt nach den notwendigen Konsequenzen verlangten. Vielleicht wog diese Zeit nach 1945 sogar noch schwerer für Bauer, weil er zu spüren bekam, wie sehr trotz allen Leidens und der Millionen Opfer seine Vision, durch historische Ursachenforschung, juristische Ahndung und gerichtliche Verurteilung zu einer Aufhellung der Gegenwart beizutragen, im Wirtschaftswunderland Westdeutschland unerwünscht war. Die übergroße Mehrheit der Deutschen wollte vergessen und zur Tagesordnung übergehen, so schnell wie möglich einen Schlussstrich ziehen.

Waren Fritz Bauers Widerstand, sein “Kampf um des Menschen Rechte”, also vergeblich?[10]

Abb. 3

Abb. 3

Was war es, das ihn trotz aller Anfeindungen und Rückschläge nicht aufgeben ließ und vorantrieb? Es war die Liebe seiner Mutter, die dem Knaben Schutz gab und sein Selbstvertrauen stärkte. Ella Bauer (s. Abb. 3) war es, die ihrem Sohn ein Bibelwort des Alten Testaments mit auf den Weg gab, als er sich, bedrängt von antisemitischen Attacken seiner Mitschüler, mit der Frage an sie wandte: “Was ist eigentlich Gott”? Fritz Bauer erinnerte sich später ganz wörtlich an diese Szene und er bekannte, dass er die Antwort nie vergessen habe, die zur Richtschnur seines Lebens und seiner Tätigkeit wurde: “[Sie] lautete: ‘Was Du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu!’”[11]  Schon in diesem frühen Moment fand eine Art Berufswahl statt und fiel die Entscheidung über seine politische Existenz. Denn entsprach nicht die damit gemeinte Devise, aktueller und politischer ausgedrückt, dem Kernsatz der Demokratie und Menschenrechte, wie er seit 1949 auch im Grundgesetz der Bundesrepublik steht: “Die Würde des Menschen ist unantastbar.”

 

Das war Fritz Bauers Rechtsauffassung: dass Staat und Gesellschaft das Gebot der Nächstenliebe nicht zum Inhalt ihres Rechts machen können. “Sie können nicht so menschlich viel, nahezu das Übermenschliche fordern.” Aber sie müssten sich ein anderes Gebot zur Richtschnur machen, dass da lautet: “Schädige keinen anderen!”[12]  Bei dieser Maxime, die in den Weltreligionen seit Jahrtausenden verankert ist und zu bewusstem Handeln in Form eines aktiven Unterlassens auffordert, blieb Bauer Zeit seines Lebens. In der Aufbruchszeit der zwanziger Jahre waren es drei Ereignisse, die seine Einstellung prägten.

Vorbilder

Abb. 4

Bereits zu Beginn seiner Studien (Abb. 4: Bild aus der Studentenzeit, re. F. Bauer) stieß er auf den Juristen Gustav Radbruch (1878-1949), den er zwar nicht auf dem Katheder erlebte, denn Radbruch war für die SPD in die Politik gewechselt, dessen Schriften er jedoch begeistert gelesen hat. Radbruch unterscheide, schrieb Bauer, “zwischen zwei Juristentypen, dem Juristen aus Ordnungssinn und dem aus Freiheitssinn”, und gerade ein solcher wollte er werden.[13]

Das zweite Ereignis war 1922 das Attentat auf Reichsaußenminister Walter Rathenau (1867-1922), den rechtsextremistische Mörder genau in dem Moment als so genannten “Erfüllungspolitiker” beseitigen wollten, als er von den uneinsichtigen Kriegs- und Nachkriegsgegnern Zugeständnisse errungen hatte, die der Republik zum Überleben verhalfen. “Der Feind steht rechts!”, lautete die bewegte Klage, die den Studenten Bauer und seine Freunde zu einer ungewöhnlichen Aktion veranlasste. Alarmiert durch die Radauaufzüge der Nazis, die von München aus den Untergang der Weimarer Republik betrieben, appellierten sie an den Schriftsteller Thomas Mann, der jetzt nicht mehr schweigen dürfe, sondern helfen müsse, das republikanische Vaterland zu verteidigen. “Thomas Mann”, so die spätere Erinnerung Bauers, “den wir über alles liebten und der unsere Jugend bestimmt hat seit den Tagen des Tonio Kröger wird jetzt auf unserer Seite stehen”. Tatsächlich habe der Dichter reagiert und umgehend zurück geschrieben: “Wir hätten Recht, er stünde auf unserer Seite”. Was dann folgte, war Thomas Manns bekannte Rede über die deutsche Republik, die noch im selben Krisenjahr in die Welt hinausging.[14]

Die dritte Persönlichkeit, die Bauers politisches Schicksal bestimmte, wurde Kurt Schumacher (1895-1952), der nach 1920 in Stuttgart zu wirken begann und mit seinen Ideen den werdenden Amtsrichter in seinen Bann zog. Bauer wurde aktives Mitglied in der Republikschutzorganisation “Reichsbanner Schwarz Rot Gold”, in Stuttgart Reichsbanner-Führer. Er wäre 1932/33 bestimmt nicht dagegen gewesen, wenn sich die linken Parteien vereint gegen die Nazis geschlagen hätten.

Die Jahre nach 1933 bestärkten ihn in seiner Lebensmaxime, die eine Aufforderung zu mehr Widerstand war. Zu viele, sagte er immer wieder, machten im nationalsozialistischen Unrechtsstaat mit, schauten weg oder schwiegen: “(…) bei den ‘Arisierungen’, bei der (…) Umsiedlung und Vertreibung von Millionen, bei harten, mitunter grausamen Gerichtsentscheidungen, (…) in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, bei den Einsatzgruppen des Ostens und bei vielen anderen Unrechtstaten”.[15]

Als Ursache für die Barbarei sah der Jurist die Auflösung des Rechtsbewusstseins. Er dachte, das millionenfache Leid der Jahre nach 1933 müsse doch an das Herz der Menschen appellieren. Zugleich bekräftigte ihn die erlebte Wirklichkeit des NS-Regimes jedoch in seiner Skepsis gegenüber so genannten höheren Werten. Moralisch wären die Menschen ja doch verpflichtet gewesen, den bedrängten Juden, Sinti und Roma, Behinderten und überhaupt allen Verfolgten zu helfen. Auf der lebenslangen “Suche nach dem Recht”, wie Bauer selbst seine Grundsatz-Publikation 1965 nannte, bekam er zugleich ein Gefühl für die Vergeblichkeit dieser Suche. Doch er ließ sich nicht davon abbringen, dass sich Gegenwart und Zukunft im Sinne von Recht und Gerechtigkeit gestalten ließen, weil letztlich alle Menschen das richtige, das wahre Recht suchen.

Es war diese Hoffnung, sein unauslöschlicher Widerstandsgeist, der letztlich immer ein Kampf für die Menschenrechte war, die Bauer nach KZ-Haft und Exil nach Deutschland zurückkehren ließ. Obgleich ihm die Entscheidung nicht nur schwer fiel, sondern auch schwer gemacht wurde. Politische Remigranten wurden in Deutschland schließlich nicht mit offenen Armen willkommen geheißen, im Gegenteil. Auch Bauer musste feststellen, dass das schlechte Gewissen der deutschen Bevölkerung mit einer gehörigen Portion Wut verbunden war, und zwar nicht nur wegen der durch die Bombenangriffe angerichteten Zerstörungen, die nun mit einer schier unfasslichen Geschwindigkeit beseitigt wurden. Besonders löste das schlechte Gewissen, wie er vielfach spürte, Abwehr gegenüber den “Anderen” aus, denjenigen, die sich mutiger widersetzt hatten und die jetzt heimkehren wollten. Und besonders gegenüber den Opfern und Überlebenden, mit deren Schicksal die Mehrheit der Deutschen jetzt konfrontiert wurde.

So formulierte beispielsweise Hannah Arendt, die fast gleichzeitig mit Bauer 1950 auf “Besuch” nach Deutschland kam: “Der Anblick, den die zerstörten Städte in Deutschland bieten, und die Tatsache, daß man über die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Bescheid weiß, haben bewirkt, daß über Europa ein Schatten tiefer Trauer liegt. Doch nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt und nirgendwo wird weniger darüber gesprochen als in Deutschland.” In dem Gefühlsmangel, der “[e]ine solche Flucht vor der Wirklichkeit” war, erkannte Arendt “natürlich auch eine Flucht vor der Verantwortung”.[16]

Der kalte Krieg und die in diesem Zuge von den Alliierten rasch zum Abschluss gebrachte, bei den Deutschen unbeliebte Entnazifizierung, kam dieser Abkehr von der Verantwortung gelegen. Als Bauer 1949 sein Amt als Landgerichtsdirektor in Braunschweig aufnahm, herrschte bereits kalter Krieg in voller Stärke, Berlin wurde von der Sowjetunion bedroht, die Amerikaner errichteten die Luftbrücke, Westdeutschland sollte in das Bündnissystem der NATO eingeordnet werden, noch bevor es selber irgendetwas entscheiden konnte. Allerorten traf man auf widersprüchliche Verhältnisse: Auf der einen Seite hatte die viel beschworene “Bewältigung der Vergangenheit” 1949 vielerorts noch gar nicht begonnen, andererseits wurde bereits alles unternommen, um die Entnazifizierung von der Tagesordnung abzusetzen.

Recht und Pflicht zum Widerstand

Fritz Bauer wurde damals in zahlreichen Verfahren ins Jahr 1933 zurückversetzt und mit der Erkenntnis konfrontiert, dass sich die Justiz als willfähriges Instrument des Naziregimes hatte missbrauchen lassen. Aus diesem Grund hatten neben der Selbstaufklärung die Prozesse wegen NS-Verbrechen für Bauer vor allem einen Sinn: dem Widerstandsrecht und Widerstandshandlungen zu neuer Geltung zu verhelfen. Die politischen Entwicklungen in Niedersachsen lieferten dem Generalstaatsanwalt im Verfahren gegen Otto Ernst Remer, den Mitbegründer der im Oktober 1949 gegründeten rechtsextremen, neonazistischen Sozialistischen Reichspartei, bald nach der Rückkehr die Gelegenheit, ein Exempel zu statuieren. (Remer war mitverantwortlich für die Niederschlagung des politischen Attentats vom 20. Juli 1944 gegen Hitler.)

Noch vor den überraschenden Erfolgen in der Landtagswahl, die Remer nicht zuletzt in der Unterstützung durch Soldatenverbände und rechtsextreme Klüngel fand, hatte dieser 1951 auf einer Großveranstaltung die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 böse geschmäht. Sie hätten Verrat begangen und sich sogar als Landesverräter vom Ausland bezahlen lassen. Eine Verunglimpfung, die den CDU-Innen­minister des Bundes zu einer Strafanzeige veranlasste. Das Verfahren endete im März 1952 mit einer vollständigen Rehabilitierung des 20. Juli 1944 und dem Beweis, dass die Verschwörer ein verbrecherisches Regime beseitigen wollten.

Der Zweite Weltkrieg war längst verloren und das deutsche Volk, erklärte Bauer in seinem Plädoyer, “total verraten”; schon deshalb sei es gar nicht möglich gewesen, Landesverrat zu üben. Das “Dritte Reich” sei ein “Unrechtsstaat und deswegen sittenwidrig und nichtig gewesen”; ein solcher Unrechtsstaat, der täglich Zehntausende Morde begeht, berechtige jedermann zur Notwehr. Ein Hauptsatz seines Plädoyers gipfelte in der Feststellung: “Ein Unrechtsstaat wie das Dritte Reich ist überhaupt nicht hochverratsfähig”.[17]

Fritz Bauer wurde durch den Remer-Prozess in der Geschichte der Bundesrepublik zu einem bemerkenswerten, allerdings auch vielfach angefeindeten Ankläger. 1956 wechselte er nach Hessen und fortan wurde sein Hauptanliegen, die bis dahin noch von keiner Staatsanwaltschaft zur Anklage gebrachte, von den Nazis sogenannte “Endlösung der Judenfrage” vor Gericht zu bringen.

Bei seinen Bemühungen kamen ihm mehrfach Zufälle zu Hilfe. Speziell im Fall des Deportationsspezialisten Adolf Eichmann. Frühzeitig informierte ein ehemaliger KZ-Häftling Bauer über den argentinischen Aufenthaltsort des ehemaligen SS-Obersturmbannführers. Und wenn man auch nicht ganz genau weiß, welche Organe er mit seinen Informationen belieferte: Fritz Bauer hatte entscheidenden Anteil daran, dass die Israelis Eichmann zu fassen bekamen. Weniger Glück hatte er in den Fällen des KZ-Arztes Mengele und des Hitler-Stellvertreters Bormann.

Auschwitz vor Gericht zu bringen

Vielfach waren es Zufälle, die Bauer zu Hilfe kamen. Vor allem, als es ihm 1959 gelang, die Zuständigkeit seiner Behörde für die Ermittlungen gegen die Auschwitz-Täter zu erlangen. Vielfältigkeit und Umfang seiner pausenlosen Ermittlungstätigkeit lassen sich kaum darstellen. Nicht zuletzt gelang es mit Unterstützung des Internationalen Auschwitz-Komitees, dass 211 Opfer und Überlebende im Frankfurter Auschwitz-Prozess aussagten. Es wurde, zwei Jahre nach dem Eichmann-Prozess, das bis dahin umfangreichste Schwurgerichtsverfahren in der deutschen Justizgeschichte.[18]

Verurteilt wurden zwanzig Auschwitz-Verbrecher, die, so ihre sture Verteidigung, immer und alles nur unter strikten Befehlen ausgeführt haben wollten. Befehl sei Befehl und Gesetz sei Gesetz. Die größte Last nahmen die Überlebenden auf sich, die als Zeugen ihr unermessliches Leid noch einmal aufleben lassen mussten. Zusammen mit den Zeithistorikern, die Bauer als sachverständige Gutachter aufgeboten hatte, wurde ein Totalbild der so genannten “Endlösung” enthüllt.[19]Das Urteil fiel am 20./21. August 1965. Von jetzt an konnte alle Welt wissen, was Auschwitz war, niemand kann das mehr leugnen.

Konnte Generalstaatsanwalt Bauer nicht stolz oder zufrieden sein? Er war es, und er war es nicht. Für ihn war jeder Auschwitz-Funktionär, waren alle Angeklagten Täter und Mörder. Für das Gericht aber galten zehn, also die Hälfte, nur als Gehilfen, was leider die inzwischen von der höchsten deutschen Rechtsprechung, dem Bundesgerichtshof, eingeführte und damit gewissermaßen verordnete Praxis der so genannten Gehilfenrechtsprechung bekräftigte. Sowohl die Ermittler wie die Ankläger hatten übereinstimmend auch in den zehn genannten Fällen auf Mord beziehungsweise auf Massenmord plädiert.

Massenmord aber, so betonte der Vorsitzende Richter Hans Hofmeyer, kannte die damalige Strafprozessordnung nicht, sondern die Richter mussten Auschwitz personell zerlegen. Dadurch kam ungebührlich zum Ausdruck, dass es in Auschwitz eben auch Funktionäre gab, die nicht erschossen, die nicht mit Phenolinjektionen angeblich “salvierten”, die nicht zu Tode prügelten oder Häftlinge durch Essensentzug zum Verhungern brachten. Wie grotesk diese Unterscheidung war, beleuchtete der Fall Klehr.

Der Sanitätsdienstgrad hatte mindestens 30.000 Menschen mit der Phenolspritze ins Herz gestochen. Angeblich tat er es nicht gern, er habe tiefes Mitleid mit den Opfern gehabt, behauptete er im Prozess. Wenn der Lagerarzt nicht zum Dienst erschien, machte Klehr es allerdings gerne auch auf eigene Faust, und er suchte dabei vor allem Juden aus.

Aber wer schleppte die selektierten Häftlinge zu Klehr, wer schob sie durch die Tür ins angebliche Behandlungszimmer und half zuvor bei der Selektion in den Baracken? Wer notierte die Namen der Todeskandidaten, wer brachte die Listen aufs Revier, wer bewachte und organisierte ihren Abtransport in die Gaskammern? Wer gab den Befehl zur Herbeischaffung des Zyklon B? Ich denke, die Groteske genügt. Doch, wie gesagt, Mörder waren für das Gericht nur dieser Klehr und der Kaduk und der Stark und der Boger und der Bednarek. Die anderen, die genauso wie diese Exzesstäter wussten, worin die einzige Funktion von Auschwitz bestand, nämlich im millionenfachen Mord, kamen als Helfershelfer glimpflich davon: denn sie hatten ja nur “gemeinschaftliche Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord” verübt. Sogar der Adjutant des Lagerkommandanten, Robert Mulka, der die Mordmaschinerie in Gang hielt und die entsprechenden Befehle gab, war für das Gericht nur ein Gehilfe.

Damit konnten weder Fritz Bauer noch die Auschwitz-Opfer einverstanden sein. Indem der Prozess das kollektive Geschehen durch Atomisierung und Parzellisierung sozusagen privatisierte, zu diesem Ergebnis kam Fritz Bauer, habe er es auch entschärft. Die Auflösung des Massenmords in Episoden sei eine Vergewaltigung des totalen Geschehens, das keine Summe von Einzelereignissen gewesen sei.[20] Die Tätigkeit “eines jeden Mitglieds eines Vernichtungslagers”, erklärte Bauer, stelle vom Eintritt in das Lager an, mit dem die Kenntnis von der Aufgabe dieser Tötungsmaschinerie verbunden war, “bis zu seinem Ausscheiden eine natürliche Handlung dar. Er hat fortlaufend, ununterbrochen mitgewirkt.”[21] Das Gericht jedoch unterschied und entschied, dass Klehr sowohl als Mittäter wie als Gehilfe zu verurteilen war. Obwohl es durchaus möglich war, “die Massentötung jüdischer Menschen im Rahmen der sog. ‘Endlösung der Judenfrage’ rechtlich als eine einzige Handlung anzusehen”,[22] wurde das Geschehen in den Vernichtungslagern in eine Vielzahl selbständiger Teilaktionen aufgelöst, wodurch das Gesamtgeschehen der “Endlösung” in den Hintergrund gerückt wurde. Das Urteil war eine Verhöhnung des Leids der Opfer und Überlebenden und doch von entscheidender historische Bedeutung: Niemand kann Auschwitz seitdem mehr leugnen.

Fritz Bauer hat indessen nicht allein den Auschwitz-Prozess auf den Weg gebracht, sondern so viele weitere Verfahren, dass deren Dokumente, setzt man sie wie ein Mosaik zusammen, ein Schreckensbild des NS-Unrechts auf fast allen Lebensgebieten ergeben:

– die Prozesse gegen die Verantwortlichen der NS-Euthanasie,

– ein Verfahren gegen die Spitzen der NS-Justiz (die allesamt schwiegen, als ihnen der geschäftsführende Justizminister Schlegelberger aufoktroyierte, nichts gegen die Anstaltsmorde zu unternehmen);

– Prozesse in Sachen SS-Reichs­sicher­­heits­hauptamt,

– Anstöße für den Darmstädter Einsatzgruppen-Prozess,

– 1966 die Anklage wegen des Massenmords in Babij Jar gegen das Sonderkommando 4a (Einsatzgruppe C),

– der Prozess gegen die Eichmann-Kumpane Krumey und Hunsche wegen der Deportation von über 400.000 ungarischen Juden,

– die Anklage gegen Beger und andere wegen der sogenannten “Jüdischen Skelettsammlung” der Reichsuniversität Straßburg,

– und nicht zuletzt den Fall des Adolf Heinz Beckerle, während des NS-Regimes Polizeipräsident in Frankfurt am Main, der zwischen 1941 und 1944 als “Reichsbevollmächtigter” in Sofia mithalf, einige zehntausend thrakische und mazedonische Juden in Eichmanns Fänge zu bringen, usw. usf.

Pflicht zum Umgehorsam

Mit den Prozessen wollte er uns zeigen, “wie dünn die Haut der Zivilisation war und ist”, “was Menschsein in Wahrheit bedeuten sollte, und was wir zu lernen haben”.[23] Er wollte nicht in erster Linie verurteilen. Die Wurzeln nationalsozialistischen Handelns erkannte er in autoritärer Staatsgläubigkeit und mangelnder Zivilcourage. Einer seiner letzten Vorträge ging folglich nicht von ungefähr über das Thema “Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart”.[24] Das war am 21. Juni 1968, an historischem Ort in der Münchner Universität. Den Ort des Geschehens immer wieder in die Betrachtung einbeziehend, indem er auf die Geschwister Scholl und die “Weißen Rose” verwies, entfaltete Bauer die Geschichte des Widerstandsrechts. Sein Münchner Vortrag war ein Plädoyer für Ungehorsam und Widerstand gegen usurpierte staatliche Gewalt, zugleich ein Dokument, das sein lebenslanges Engagement zusammenfasste:

“Alle im Namen des Widerstandsrechts erfolgten Handlungen”, begann er, “auch Unterlassungen im Sinne des Ungehorsams, sind der Versuch einer Kritik, einer Einflussnahme, einer Korrektur staatlichen Geschehens, das gewogen und möglicherweise zu leicht befunden wird. Maßstab ist, so wie das Widerstandsrecht überkommen ist, freilich nicht ein neues Recht, sondern immer ein altes Recht, das nach Auffassung der Widerstandskämpfer von Staats wegen gebeugt wird. Widerstandsrecht meint nicht Revolution, sondern Realisierung eines bereits gültigen, aber nicht verwirklichten Rechts.”[25]

Auf die aktuellen Verhältnisse übergehend, betonte Bauer mit Genugtuung, dass unser Staat, unser Recht, unser heutiges Grundgesetz “eine Pflicht zum Ungehorsam” fordere, sowohl im Beamten- wie im Soldatengesetz. Wohlverstanden, ein Recht auf Befehlsverweigerung und Ungehorsam, “wenn ein Befehl die Menschenwürde verletzt”.[26] Zum Schluss folgerte er:

“Unsere Strafprozesse gegen die NS-Täter beruhen ausnahmslos auf der Annahme einer solchen Pflicht zum Ungehorsam. Dies ist der Beitrag dieser Prozesse zur Bewältigung des Unrechtstaates in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.”[27]

Für Fritz Bauer lautete die entscheidende Lehre des Auschwitz-Prozesses: Ihr hättet “Nein!” sagen müssen. Wie kein anderer Jurist im Nachkriegsdeutschland setzte er sich dafür ein, dass der Kampf gegen Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus weiterging und die Menschenrechte zu mehr Anerkennung gelangten. Seine beständige Lehre ist, dass die Geschichte des Widerstands gleichermaßen die Geschichte der Demokratie ist, die es stets und ständig zu verteidigen gilt.

Autorin: Dr. Irmtrud Wojak

Anmerkungen

[1] Irmtrud Wojak, Fritz Bauer: Eine Biographie. München: BUXUS EDITION, 2016; englische Ausgabe  unter dem Titel Fritz Bauer 1903-1968. The prosecutor who found Eichmann and put Auschwitz on trial. München: BUXUS EDITION, 2018.

[2] Ronen Steine, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht. München: Piper, 2013.

[3] Siehe dazu auch meine Rezension unter: http://www.fritz-bauer-archiv.de/index.php/biographie/film/der-staat-gegen-fritz-bauer (abgerufen zuletzt am 29. Mai 2018).

[4] Vgl. Kurt Nelhiebels Erinnerungsbeitrag von 1993 auf der Webseite des Autors unter: http://www.kurt-nelhiebel.de/images/downloads/Einem-Nestbeschmutzer-zum-Gedenken.pdf. Siehe auch Kurt Nelhiebel (Conrad Taler), Einem Nestbeschmutzer zum Gedenken. Texte zum 50. Todestag von Fritz Bauer. Dähre 2018.

[5] Vgl. Deutsche Post, Jg. 14 (1962) K. 24, S. 657 f.

[6] Fritz Bauer, Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns.Frankfurt am Main 1965, S. 66f.

[7] Ilse Staff, “In memoriam Fritz Bauer”, in: Tribuúˆne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 7. Jg. (1968), H. 27, S. 2857-2859, hier: S. 2858.

[8] Robert M. W. Kempner (Trauerrede), in: Hessisches Ministerium der Justiz (Hg.), Fritz Bauer. Eine Denkschrift. Wiesbaden 1993, S. 23-26, hier S. 25.

[9] Kurt Nelhiebel, “Die Nestbeschützer”, Der Tagesspiegel, 8. Dezember 2014: https://www.tagesspiegel.de/kultur/deutungskampf-um-das-werk-von-fritz-bauer-die-nestbeschuetzer/11087028.html(zuletzt abgerufen 8. Juli 2018).

[10] Fritz Bauer, “Im Kampf um des Menschen Rechte (1955)”, in: ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hg. v. Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main, New York: Campus, 1998. S. 37-49.

[11] So Fritz Bauer in einem Fernsehinterview in der Reihe Als Sie noch jung waren/ Dr. Fritz Bauer, TV-Dokumentation 1967, Interviewer: Renate Harprecht; Westdeutscher Rundfunk (WDR), Köln 1967.

[12] Fritz Bauer, Auf der Suche nach dem Recht. Stuttgart 1966, S. 12.

[13] Fritz Bauer, “Im Kampf um des Menschen Rechte (1955)”, in: ders., Die Humanität der Rechtsordnung, S. 41.

[14] Als Sie noch jung waren/ Dr. Fritz Bauer, TV-Dokumentation 1967, Interviewer: R. Harprecht (wie Anm. 11).

[15] Bauer, Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns, S. 32.

[16] Arendt, Hannah, “Besuch in Deutschland 1950. Die Nachwirkungen des Naziregimes”, in: dies., Zur Zeit. Politische Essays. Hg. v. Marie Luise Knott. Berlin 1986, S. 43-70, hier S. 43-45.

[17] Fritz Bauer, “Eine Grenze hat Tyrannenmacht. Plädoyer im Remer-Prozess”, in: ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften.Hg. v. Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main, New York: Campus, 1998. S. 169-179, hier S. 177.

[18] Vgl. den umfassenden Katalog über die erste große Ausstellung über den Auschwitz-Prozess mit zahleichen Aufsätzen: Irmtrud Wojak (Hg.), Auschwitz-Prozeß. 4 Ks 2/63.Frankfurt am Main. Köln: Snoeck, 2004. Die Ausstellung wurde, obwohl noch von zahlreichen Orten angefragt, vom Fritz Bauer Institut angeblich aus Platzmangel entsorgt.

[19] Helmut Krausnick, Martin Broszat und Hans Buchheim erstellten am Institut für Zeitgeschichte vier der Expertisen, vgl. Hans Buchheim, Martin Broszat, Hans-Adolf Jacobsen, Helmut Krausnick (Hg.), Anatomie des SS-Staates. Bd. 1 und Bd. 2. Olten und Freiburg im Breisgau: dtv, 1965.

[20] Fritz Bauer, “Im Namen des Volkes. Die strafrechtliche Bewältigung der Vergangenheit”, in: ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften.Hg. v. Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main, New York: Campus, 1998, S. 77-90, hier S. 84.

[21] Vgl. Fritz Bauer, “Ideal- oder Realkonkurrenz bei nationalsozialistischen Verbrechen?”, in: Juristenzeitung, Nr. 20 (1967), S. 625-628, hier S. 628.

[22] Vgl. “Urteil in der Strafsache gegen Mulka u. a.”, in: Der Auschwitz-Prozeß. Tonbandmitschnitte / Protokolle / Dokumente. Hg. v. Fritz Bauer Institut und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Digitale Bibliothek Nr. 101 (DVD-Rom). Berlin 2004, S. 37.327.

[23] Fritz Bauer, “Antinazistische Prozesse und politisches Bewußtsein”, in: Hermann Huss, Andreas  Schröder (Hg.), Antisemitismus. Zur Pathologie der buúˆrgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Fischer, 1965, S. 168-193, hier S. 176.

[24] Fritz Bauer, “Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart”, in: Vorgänge, (1968), H. 8/9, S. 286-292.

[25] Ebd., S. 286.

[26] Ebd., S. 291.

[27 ]Ebd.

[28] Kurt Nelhiebel, “Die Nestbeschützer”, Der Tagesspiegel, 8. Dezember 2014: https://www.tagesspiegel.de/kultur/deutungskampf-um-das-werk-von-fritz-bauer-die-nestbeschuetzer/11087028.html (zuletzt abgerufen am 8. Juli 2018).

[29] Kurt Nelhiebel (Conrad Taler), Einem Nestbeschmutzer zum Gedenken. Texte zum 50. Todestag von Fritz Bauer. Dähre: Ossietzky 2018.

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