Asyl- und Flüchtlingspolitik ist eine Frage der globalen Gerechtigkeit

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01.01.2018

RA Dr. Thomas Galli im Gespräch mit der Historikerin Dr. Irmtrud Wojak

Rechtsanwalt Dr. Thomas Galli im Interview mit Dr. Irmtrud Wojak
Januar 2018

Als Leiter von Haftanstalten veröffentlichte Dr. Thomas Galli 2016 in seinem Buch Die Schwere der Schuld neun Geschichten über Schwer- und Schwerstverbrecher, neun von rund 62.000 Geschichten von Menschen, die bei uns hinter Gittern leben müssen. Selten findet man ein Buch über den Umgang mit den Schwächsten in unserer Gesellschaft, das so ohne erhobenen Zeigefinger auskommt. Die Geschichten geben Antworten auf Fragen, die nicht bei den Straftätern beginnen, sondern bei der Gesellschaft und uns selbst. Thomas Galli hat aus seinen Erfahrungen als Leiter verschiedener Haftanstalten keine einfache oder leichte Konsequenz gezogen, er ist jetzt als Anwalt tätig. 2017 erschien sein Buch Die Gefährlichkeit des Täters (Das Neue Berlin, 176 Seiten). – Die Redaktion

 

„Das Flüchtlingsrecht hat viel mit dem Strafrecht zu tun, beide sind symbolisch überfrachtet“

 

IW: Mich hat sehr beeindruckt, dass Sie die Geschichte der oder des Einzelnen so intensiv an sich herangelassen haben. Dass die persönlichen Biographien so zu Tage treten und auf der anderen Seite die Institution Gefängnis grundsätzlich von Ihnen in Frage gestellt wurde, oder sehe ich das falsch?

TG: Ja, die wird von mir grundsätzlich in Frage gestellt, und ich denke je tiefer man sich mit Themen befasst und auch mit Menschen befasst, dann kommt man gar nicht umhin, als sich mit der Biographie der Menschen zu befassen. Und wenn man dann eben die Frage stellt, wie kann ich es schaffen, dass sich Menschen gegenseitig möglichst wenig Schaden zufügen, also dass möglichst wenige Leute straffällig werden, dann erschließt sich das relativ schnell, dass wenig damit geholfen ist, die Menschen, wenn sie irgendwas gemacht haben, zu bestrafen oder auch noch ins Gefängnis zu stecken. Sondern man müsste die Thematik viel komplexer angehen, viel tiefer und viel langfristiger denken.

IW: Können Sie eine Geschichte erzählen, die Sie besonders bewegt hat, als Sie angefangen haben, über Ihr Buch nachzudenken?

TG: Eine Geschichte ist schwer, weil ich über fünfzehn Jahre im Strafvollzug gearbeitet habe, in verschiedenen Anstalten, in verschiedenen Bundesländern, und da sehr, sehr, sehr viele Inhaftierte auch durchaus näher kennenlernte. Ich hatte sehr viele Gespräche. Mit einigen arbeitet man Jahre lang intensiv zusammen. Man lernt sie, man lernt ihre Biographien sehr gut kennen. Es gibt eben sehr viele Dinge, die sich dann doch immer wieder in der Biographie von Straftätern gleichen. Es ist sehr oft so, dass man denkt, das wäre jemand, bei dem hätte man viel früher – schon als Kind, als ihm selber viel Unrecht passiert ist, und als er selber letztendlich Opfer von Gewalt und Missachtung geworden ist –hinschauen müssen. Da hätte man intervenieren müssen, da hätte man helfen können, helfen müssen. Dann wäre er zwanzig Jahre später nicht selber zum Straftäter geworden und hätte nicht wieder seinerseits Opfer verursacht.

IW: Das habe ich beim Lesen der Geschichten gedacht. Dass viele dieser Geschichten vielleicht nicht passiert wären, wenn sehr früh in einer Biographie bestimmte Dinge nicht passiert wären.  Wenn es vielleicht mehr elterliche Zuwendung, mehr Liebe in dem Leben des Einzelnen gegeben hätte. Gib es überhaupt eine Möglichkeit, das im Gefängnis, ich sage das in Anführungsstrichen, „wieder gut zu machen“? Gibt es eine Möglichkeit für die Menschen, die in eine Situation kommen, wo sie zu Straftätern wurden, sich daraus zu befreien?

Also ich denke, wenn das passiert, in den Strukturen des Strafvollzuges, des Gefängnisses, so wie wir ihn jetzt kennen, da ist es eher die Ausnahme und vom System her nicht angelegt, nicht ermöglicht. Wenn man sich das vor Augen führt, sind Gefängnisse wirklich in diesem Sinne eine totale Institution. Es sind totale Institutionen, in denen eine Vielzahl an Menschen eingesperrt wird, um sie möglichst kostengünstig  bürokratisch verwalten zu können. Sonst würden wir gar nicht auf die Idee kommen, die Menschen die man zur Strafe einsperrt, alle zusammen in eine Rieseneinrichtung einzusperren. Also es geht letztlich darum – hunderte größere Anstalten haben über Tausend Inhaftierte – sie zusammen einzusperren und das möglichst kostengünstig. In diesem Kontext kann ich nicht, grundsätzlich zumindest, für alle Einzelfälle sprechen, kann nichts Positives entstehen. Also ich gehe soweit, oder was heißt ich geh’ soweit, ich bin überzeugt, wenn wir Tausend rechtschaffene Bürger nehmen und sperren die ein oder zwei Jahre lang ein, dann haben wir danach auch siebenhundert Straftäter.

IW: Was den ganzen Begriff der Resozialisierung ja etwas fragwürdig erscheinen lässt, oder? Wie ist Re-Sozialisierung eigentlich unter solchen Umständen dann überhaupt möglich? Hat der Ansatz überhaupt noch Sinn, auch ihn so weiter zu verfolgen?

„Resozialisierung darf kein Feigenblatt sein“

TG: Der Ansatz der Resozialisierung hat in jedem Fall Sinn, nur man darf ihn eben nicht als Feigenblatt benutzen oder in Sonntagsreden, sondern man müsste ihn wirklich leben und wirklich wollen. Und dann sind keine großen intellektuellen Aufschwünge notwendig, um zu sehen, dass ich niemanden in die Gesellschaft resozialisieren, eingliedern kann in dem Sinne, dass er sich zumindest in einem gewissen Rahmen normgetreu verhält, indem dass ich ihn aus dieser Gesellschaft ausschließe und in eine völlig lebensfremde Welt einsperre. Das Leben in Haft hat mit dem Leben in Freiheit überhaupt nichts zu tun. Trotz aller wohlklingenden Programme, Vorsätze und Strafvollzugsgesetzte. Das heißt, wenn ich wirklich den Ansatz verfolgen will – und der Ansatz ist gut und wichtig und richtig, es gibt keine Alternativen dafür –, dass ich sehe, jemand der sich straffällig verhält, und der bestimmte Normen nicht einhält, dass ich den nur dazu bewegen kann, in Zukunft möglichst Wenigen anderen zu schaden, bestimmte wichtige Regeln nicht zu brechen, in dem ich ihn positiv in die Gesellschaft integriere. Dieser Ansatz an sich ist richtig und wichtig, er kann aber im Strafvollzug im Grunde nicht funktionieren.

IW: War das einer der Gründe, warum Sie entschieden haben, dann Ihre berufliche Tätigkeit aus der Anstalt zu verlagern und als Rechtsanwalt tätig zu werden? Sie haben ja dann eine sehr einschneidende Entscheidung getroffen und gesagt: „Ich verlasse diese Tätigkeit, als Direktor von Haftanstalten, und werde wieder Rechtsanwalt.“

TG: Das war letztlich der Hauptgrund, wobei das für mich keine einfache, eindeutige Entscheidung war, sondern sie war mit vielen Konflikten, auch inneren Konflikten verbunden. Ich würde auch niemals soweit gehen zu sagen, alle Leute, die für die Justiz oder den Strafvollzug arbeiten, verhalten sich moralisch unanständig oder sowas, überhaupt nicht. Sondern da gibt’s ganz, ganz viele rechtschaffende, anständige Menschen, die auch innerhalb des Systems versuchen, es möglichst menschenwürdig und sinnvoll zu gestallten.

Aber ich habe mich letztlich selber ein Stück weit unter Zugzwang gesetzt, mit dem Buch und damit, dass ich diese Thesen aufstellte, die für mich eigentlich gar nicht so richtige Thesen waren, sondern es war für mich eigentlich klar, dass es so ist. Insofern hat mich ein bisschen überrascht, wie manche Leute reagiert haben, weil ich bei vielen Dingen gedacht hab’, es liegt doch eigentlich auf der Hand, das sind jetzt keine großen Weisheiten, die ich da von mir gebe. Aber das haben viele dann doch aufgegriffen. Ein Gefängnisdirektor sagt allen Ernstes, Gefängnisse gehören in dieser Form, wie wir sie jetzt haben, abgeschafft. Und dazu stehe ich auch und hab’ das immer wieder in den verschiedensten Kontexten vertreten.

Danach war es für mich irgendwann die Frage der Glaubwürdigkeit, auch mir selber gegenüber zu sagen, okay, wenn ich das vertrete, dann passt das nicht mehr zusammen, wenn ich dann trotzdem mein gutes Geld im Staatsdienst verdiene und auf der anderen Seite diese Thesen vertrete. Deswegen war für mich dann die letze Konsequenz zu sagen, dann muss ich rausgehen.

IW: Eine Konsequenz aus erlebter Wirklichkeit, oder? Und was sind die Themen, die Sie dann jetzt als Rechtsanwalt aufgegriffen haben? Sind Sie weiter auf dem Gebiet der Strafrechtsreform tätig oder was sind Ihre Themen als Rechtsanwalt? Welche Menschen vertreten Sie?

„Das Asyl- und Flüchtlingsrecht halte ich für eine Frage der globalen Gerechtigkeit“

TG: Natürlich vertrete ich viele Straffällige, viele, die schon in Haft sind, wo es darum geht, dass sie vorzeitig entlassen werden. Ich bin auch an einigen Wiederaufnahmeverfahren dran, wo wir der Überzeugung sind, da ist jemand zu Unrecht verurteilt worden. Ein weiterer großer Themenschwerpunkt ist das Asyl- und Flüchtlingsrecht. Das halte ich für eine der Fragen, wenn nicht die Frage dieser Zeit. Als Frage der globalen Gerechtigkeit, wie kümmern wir uns in der Wohlstandsgesellschaft um Menschen, denen es viel, viel, viel schlechter geht, wie können wir da einigermaßen zu einer globalen Gerechtigkeit kommen. Darum war das für mich ganz wichtig, dass ich in diesem Bereich reinkomme, deshalb mache ich auch viel auf dem Gebiet Flüchtlings- und Asylrecht.

IW: Was ist Ihr Apell in der jetzigen Situation in Sachen Flüchtlingspolitik, im Hinblick auf die Abschiebungen, die wir jetzt haben?

TG: Es ist ganz interessant, das Flüchtlingsrecht hat in meiner Wahrnehmung sehr viel mit dem Strafrecht zu tun, weil beide hochgradig symbolisch überfrachtete Themenbereiche sind. Da wurden ja teilweise kollektive Emotionen geweckt, Ängste, Aggressionen gegen Flüchtlinge, Ängste vor Überfremdung und Ängste vor Straftätern werden geweckt, werden befeuert, werden aber dann auch wieder durch demonstrative Akte befriedigt, sei es eben, jemanden ins Gefängnis zu sperren oder jemanden abzuschieben. Dann gibt es eben wieder einen Fernsehbericht, dass wieder ein Flieger nach Afghanistan gegangen ist.

„Mein Appell ist: näher hinschauen und befasst Euch mit den Menschen!“

TG: Ich empfehle allen, da näher hinzuschauen und sich auch mit den Menschen, die das betrifft, zu befassen. Die allermeisten, die Angst vor Überfremdung haben oder eine generelle Abneigung gegen alles Fremde und gegen Flüchtlinge, Zuwanderer, die haben eigentlich noch nie einen gesehen oder sich mit einem näher befasst. Und sie sollten das mal machen und werden dann sehr schnell feststellen, dass die allermeisten – wenn sie sich nicht schon aus Gründen der Empathie oder der Menschlichkeit dazu durchringen können, ja, denen müssen wir helfen – dann feststellen werden, sie sind überhaupt keine Belastung, sie sind wirklich eine Bereicherung.

Und das meine ich jetzt nicht im ideologischen Sinn von „wir sind alle bunt“, sondern da sind Menschen, die haben teilweise soviel auf dem Kasten, die haben so tolle Eigenschaften, auch Charaktereigenschaften, von denen wir hier in dieser Wohlstandsgesellschaft, in der wir unsere Zeit mit vollkommen irrelevanten Dingen verbringen, nichts mehr wissen.

Da geht es auch um Menschen, die ganz existenzielle Dinge erlebt haben und von denen wir ganz viel profitieren können.

Ganz profan übrigens, unsere Kanzlei arbeitet auch mit der IHK, der Industrie- und Handelskammer zusammen, und die sagt, die Wirtschaft läuft Sturm. Weil sie in ganz vielen Bereichen, zum Beispiel bei Bäckereien oder im Pflegewesen, nicht mehr genügend Auszubildende finden, weil die Deutschen das nicht machen wollen. Da haben sie tolle Leute aus Afghanistan oder sonst wo, die machen das, die können das, und die werden dann abgeschoben, aus symbolischen Gründen.

Also das ist mein Apell, näher hinzuschauen, und befasst Euch mit den Menschen!

IW: Dankeschön für das Gespräch, Herr Galli.

Interview: Dr. Irmtrud Wojak
Kamera: Jakob Gatzka
Transkription: Antonia Samm

Januar 2018

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