Dr. Helmut Kramer – das Gewissen der niedersächsischen Justiz

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14.06.2024

Dr. Helmut Kramer nach 46 Jahren in der „Affäre Puvogel“ rehabilitiert

„Der große Widerstand im Unrechtsstaat bleibt nur möglich,
wenn der kleine Widerstand gegen das Unrecht im staatlichen Alltag
geübt und wie eine kostbare Pflanze gehegt und gepflegt wird.“

– Fritz Bauer
Widerstandsrecht und Widerstandspflicht
des Staatsbürgers (1961)

 

In der niedersächsischen Justiz gibt es zwei Justizjuristen, die die Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht zu ihrer Lebensaufgabe machten: Dr. Helmut Kramer (geboren 1930) und Dr. Fritz Bauer (1903-1968). Mit ihrer Kritik und Opposition an der schleppenden und, wenn überhaupt, dann nur halbherzigen Auseinandersetzung mit den Verbrechen während des nationalsozialistischen Regimes, standen sie damals meist allein. Doch sie scheuten nicht davor zurück, die Verbrechen der eigenen Zunft aufzudecken. Und sie wollten sie vor Gericht bringen – trotz aller Abwehrmauern, denen sie gegenüberstanden.

Die niedersächsische Justizministerin Dr. Kathrin Wahlmann (SPD) hat jetzt eine Disziplinarverfügung aufgehoben, mit der noch im Jahr 1978 das demokratische Dienstverständnis des Richters Dr. Helmut Kramer geahndet wurde, der sich mit der stillen Integration von NS-Juristen in das demokratische System der Bundesrepublik nicht abfinden konnte und wollte.

Was war der Hintergrund?

„Es steht dem Richter ebenso wenig wie dem Beamten zu, seinem Vorgesetzten Verfehlungen vorzuwerfen oder dessen Ansehen durch Verbreitung von Tatsachen im Bereich der Behörde zu untergraben, selbst wenn die Tatsachen zutreffend sind.“ – Mit dieser Begründung rügte der Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig, Rudolf Wassermann (1925-2008), im Jahr 1978 in der sogenannten Affäre Puvogel Dr. Helmut Kramer und leitete ein Disziplinarverfahren gegen ihn ein. Kramer habe die gebotene Achtungspflicht gegenüber seinem dienstvorgesetzten Minister verletzt, indem er Auszüge aus dessen Dissertation an Kollegen versandte. Ohne Achtung vor der Autorität des Vorgesetzten sei eine geordnete Behördentätigkeit nicht möglich, hieß es dort weiter in alter obrigkeitsstaatlicher Diktion. Selbst wenn es sich bei den verbreiteten Auszügen um Tatsachen handelte, sei es Kramer nicht bloß um Information, sondern um Kritik gegangen, die die Untragbarkeit von Dr. Hans Puvogel (1911-1999) als Justizminister belegen sollten.

Dr. Hans Puvogel (CDU) war 1976 von Ministerpräsident Ernst Albrecht zum niedersächsischen Justizminister berufen worden. Helmut Kramer veröffentlichte daraufhin die rassistischen Inhalte der Dissertation Puvogels aus dem Jahr 1937, in der er die Kastration von Menschen befürwortet hatte, die als „Schwerverbrecher“ nach nationalsozialistischer Auffassung als rassisch minderwertig galten und als „Asoziale“ ausgerottet werden sollten. „Der Wert des Einzelnen für die Gemeinschaft bemißt sich nach seiner rassischen Persönlichkeit“, hieß es in der Dissertation. Puvogels Ministerlaufbahn endete im April 1978 und er trat zurück, nachdem er sich auch nach deren Bekanntwerden nicht von dem nationalsozialistischen Gedankengut distanziert hatte.

Das Gewissen der niedersächsischen Justiz

Dass die Niedersächsische Justizministerin die Verfügung gegen Dr. Helmut Kramer von 1978 aufhebt, ist ein verspätetes positives Signal. Es geschieht in Zeiten, wo es „Menschen mit klarem inneren Kompass“, den Frau Dr. Wahlmann in ihrer Begründung hervorhebt, mindestens ebenso dringend zur Verteidigung des Rechtsstaats und der Demokratie braucht wie vor rund 45 Jahren. In der Pressemitteilung des Ministeriums heißt es:

Dr. Helmut Kramer war jahrzehntelang das Gewissen der niedersächsischen Justiz. Durch sein Engagement in der Puvogel-Affäre wurde er ein leuchtendes Vorbild für uns alle. (…) Wir brauchen deshalb auch in Zukunft Menschen mit klarem inneren Kompass, die unsere verfassungsmäßigen Werte auch gegen Widerstände und zur Not auch unter Inkaufnahme persönlicher Nachteile vehement verteidigen – kurzum: Menschen wie Dr. Helmut Kramer.“

Helmut Kramer, der mit 94 Jahren aus gesundheitlichen Gründen den Aufhebungsbescheid nicht entgegennehmen konnte, freute sich gleichwohl aus diesem Anlass, dass damit „auch das damals noch herrschende obrigkeitsstaatliche Richterbild zurückgewiesen wird.” In seiner Erklärung zur Aufhebung heißt es weiter:

„Die Vorstellung von Richterinnen und Richtern als gehorsamen Vasallen ihrer Dienstvorgesetzten (…) war niemals mit den Grundsätzen eines demokratischen Dienst- und Arbeitsverhältnisses vereinbar. Ministerinnen und Minister sind zwar einerseits Leiter der obersten Dienstbehörde, andererseits jedoch auch Parteipolitiker und als solche das legitime Objekt auch scharfer Kritik jeder Bürgerin und jedes Bürgers – einschließlich von Beamtinnen und Beamten, Richterinnen und Richtern.“

Zeit seines Berufslebens hat Helmut Kramer sich dem falschen Gehorsam und der falschen Loyalität entgegengestellt, die vor ihm Fritz Bauer als eine der Ursachen des nationalsozialistischen Unrechtsstaats angeprangert hat. Er hat sich damit um den Rechtsstaat verdient gemacht. Denn Helmut Kramer hat in der Puvogel-Affäre ein Zeichen gesetzt, wie sich durch eigenes Handeln die widerstandslose Indienstnahme der Justiz im „Dritten Reich“ überwinden lässt.

In seinem Archiv, das künftig im Fritz Bauer Forum verwahrt wird und wo derzeit zusammen mit Weggefährten und dem Sohn Helmut Kramers an der Ausarbeitung eines Archiv- und Forschungsprojekts gearbeitet wird, finden sich zahlreiche Beispiele für die mutige und beständige Auseinandersetzung mit dem Justizunrecht, die Helmut Kramer in Niedersachsen vorangetrieben hat.

Autorin: Dr. Irmtrud Wojak (Fritz Bauer Forum)

Quellen:

Niedersächsisches Justizministerium: https://www.mj.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/das-gewissen-der-niedersachsischen-justiz-232889.html

NDR: https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/braunschweig_harz_goettingen/Puvogel-Affaere-Frueherer-Richter-nach-46-Jahren-rehabilitiert,helmutkramer100.html;

beck-aktuell: https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/rehabilitierung-olg-richter-helmut-kramer-hans-puvogel-affaere

Evangelische Zeitung: https://www.evangelische-zeitung.de/puvogel-affaere-ministerin-rehabilitiert-frueheren-richter-kramer

Kontakt: info@fritz-bauer-forum.de

Foto: Porträts von Helmut Kramer (c) Privatbesitz

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