Ein Angriff auf uns alle! Verfolgung von LSBTIQ-Personen in Tschetschenien

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02.02.2019

Angriff auf uns alle!
Verfolgung von LSBTIQ-Personen(1) in Tschetschenien

Laut des Russian LGBT Network, der führenden russischen Nichtregierungsorganisation auf diesem Gebiet, wurde Anfang Dezember 2018 in der autonomen Republik Tschetschenien eine neue Verfolgungswelle losgetreten, die sich gegen (vermeintlich) homosexuelle Menschen richtet.

Igor Kochetkov, Aktivist und Leiter des Netzwerks, gab in einer Pressemitteilung am 14. Januar 2019 bekannt, dass in Tschetschenien, das zur Russischen Föderation gehört, etwa vierzig Personen von Polizei- und Militärkräften inhaftiert und mindestens zwei Personen zu Tode gefoltert wurden. Seit Dezember 2018 hatten sich verstärkt Betroffene an das Netzwerk gewandt und von schwersten Menschenrechtsverletzungen berichtet.[2]

Bereits Anfang 2017 waren in der internationalen Presse Schlagzeilen zu lesen, wie: “Chechnyaaccusedof ‘gay genocide’ in ICC complaint”[3], „After Anti-Gay Crackdown in Chechnya, a Witness Steps Forward”[4], “Chechens tell of prison beatings and electric shocks in anti-gay purge: ‘They called us animals’”[5] und „Behörden verfolgen und töten Schwule in Tschetschenien“[6]. Damals wurden im Rahmen von mehreren Verfolgungswellen über hundert russische Staatsbürger_innen aufgrund ihrer (vermeintlichen) Homosexualität verhaftet und verschleppt. Ein Überlebender erinnerte sich an die abwertenden und menschenverachtenden Worte eines Beamten, der aus dem Grund der Verhaftung keinen Hehl machte und sagte: „You were brought here because you are faggots. You bring shame on our people: you shouldn’t exist. We will fight homosexuality in the Chechen Republic.“[7]

In den (mitunter inoffiziellen) Haftanstalten wurden die Inhaftierten verhört und auf grausame Weise gefoltert, bis sie ihre „nicht traditionelle sexuelle Orientierung“ zugaben und die Namen von weiteren Personen mitteilten. Daraufhin starben einige an den Folgen der Folter und mehrere versuchten, sich in der Haft das Leben zu nehmen.

Seit Beginn der ersten großen Verfolgungswelle Ende 2016 hat das besagte LGBT-Netzwerk etwa 150 Menschen aus Tschetschenien evakuiert und einige Staaten haben sich bereit erklärt, den Verfolgten Asyl zu gewähren. Darunter auch Deutschland, wo Homosexualität jahrzehntelang einen Straftatbestand darstellte und der Bundestag sich erst 2017 dazu durchringen konnte, die Opfer des staatlichen Unrechts zu rehabilitieren.[8]

Indessen besteht kein Zweifel daran, dass die Verfolgungswellen von den staatlichen Behörden und vom autokratischen Herrscher des Landes, Ramzan Kadyrov, getragen wurden und getragen werden. So hatte Kadyrov im Februar 2017 proklamiert, dass bis zu Beginn des Fastenmonats Ramadan (Mai 2017) alle homosexuellen Männer eliminiert werden.[9] Nachdem die begangenen Menschenrechtsverletzungen ans Tageslicht gekommen waren und er zunehmend in Erklärungsnot geriet, verkündete er im Juli 2017 kaltschnäuzig: „Bei uns gibt es solche Leute gar nicht. Wir haben keine Schwulen. Und wenn es sie gibt, nehmt sie mit nach Kanada, weit weg von uns, damit unser Blut gesäubert wird.“[10] Im Mai 2018 bekräftigte der russische Justizminister Alexander Konowalow die Aussage von Kadyrov und behauptete vor dem UN-Menschenrechtsrat: „(…) [we] failed to confirm not only the existence of facts of violations of these rights, we were unableto find even members of the LGBT community in Chechnya.”[11] Einem Land wie Russland, das über einen Inlandsgeheimdient (FSB) mit etwa 350.000 Mitarbeiter_innen verfügt, soll es nicht gelungen sein, die tschetschenische LSBTIQ-Community ausfindig zu machen?

Inzwischen offenbarte ein Bericht der OSZE, der in etwa gleichzeitig zur neuesten Verfolgungswelle veröffentlicht wurde, dass die russischen Behörden gar nicht gewillt sind, Ermittlungen einzuleiten.[12] In Anbetracht des homophoben Kurses, den die russische Regierung unter der Führung von Wladimir Putin und unter der Einflussnahme der russisch-orthodoxen Kirche seit Jahren verfolgt, ist dies leider wenig verwunderlich.[13] Im aktuellen Human Rights Watch World Report 2018, der am 17. Januar 2019 veröffentlicht wurde, heißt es dazu: „Authorities continued to enforce the discriminatory ‘gay propaganda’ law.“[14] Offensichtlich haben die Reaktionen von Moskau zu einem Klima der Straflosigkeit beigetragen, das die Hemmschwelle für weitere Menschenrechtsverletzungen sinken ließ.

Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit führt jedoch nicht nur zu den Autoritäten und Verantwortungsträgern, sondern auch zu den sozialen Verhältnissen in Tschetschenien, die als erzkonservativ, patriarchal, familistisch, heteronormativ und religiös-fundamentalistisch zu beschreiben sind. Sie bilden den Nährboden für die weit verbreitete Auffassung, dass die Gesellschaft von LSBTIQ-Personen „gesäubert“ werden müsste. Tatsächlich arbeiten die staatlichen Behörden und die Familienangehörigen der Verfolgten oft Hand in Hand, um dem „Problem“ Einhalt zu gebieten. In einigen Fällen kam es sogar zu „Ehrenmorden“ – verübt von den eigenen Familienangehörigen, die davon überzeugt waren, dass Schande über die Familie gebracht wurde und das Ansehen nur so wieder hergestellt werden könne. Darüber hinaus ist dokumentiert, dass Familien ihre homosexuellen Angehörigen ins Zentrum für Islamische Medizin (Grosny) gebracht haben, wo ihnen der „Teufel“ ausgetrieben werden sollte.[15] Der familiäre Umgang mit LSBTIQ-Personen belegt eindrücklich, dass hinter den Verfolgungswellen nicht nur die Behörden stecken, sondern auch eine zutiefst homophobe und heteronormative Gesellschaft.

Unter diesen Umständen ist es Kadyrov gelungen, sich als Bewahrer und Verteidiger der Traditionen zu inszenieren. Diesen „Erfolg“ teilt er mit einer zunehmenden Zahl von Autokraten weltweit, die einer rückwärtsgewandten Vision folgen, die sich mit dem Soziologen Zygmunt Bauman als „Retrotopie“ bezeichnen lässt.[16] Für Menschen, die als „nicht traditionell sexuell Orientierte“ gelten, ist in dieser konservativen Vision, die der Vielfalt feindlich gegenübersteht, freilich kein Platz. Daher wird die bloße Existenz von LSBTIQ-Personen, wie die Aktivistin und Schriftstellerin Masha Gessen unterstreicht, als Affront gegen die Vision und als Kampfansage gewertet.[17]

Die Verfolgungswellen zeigen unmissverständlich, dass der Weg, der sich an einer Retrotopie orientiert, nicht zu den Menschenrechten führt, sondern sich Stück für Stück von ihnen entfernt.

Der Angriff auf LSBTIQ-Personen in Tschetschenien ist ein Angriff auf die Menschenrechte und damit ein Angriff auf uns alle!

Kontaktstefan.schuster@buxus-stiftung.de

Headerfoto: Eric Rolph at English Wikipedia, Double-alaskan-rainbow, CC BY-SA 2.5

AMERKUNGEN

[1] Die Buchstabenreihe LSBTIQ steht für: Lesben, Schwule, Bi- und Pansexuelle, Trans*-, Inter*- und Queer-Personen.

[2] Vgl. Russian LGBT Network: Igor Kochetkovfiled a complaintregardingthenewwaveof LGBT persecution in Chechnyatothe Investigative Committee, 29. Januar 2019 [Abruf am 30.01.2019 unter: https://lgbtnet.org/en/newseng/igor-kochetkov-filed-complaint-regarding-new-wave-lgbt-persecution-chechnya-investigative] / Russian LGBT Network startedtheevacuationfromChechnya, 22. Januar 2019 [Abruf am 22.01.2019 unter: https://lgbtnet.org/en/newseng/russian-lgbt-network-started-evacuation-chechnya] / New waveofpersecutionagainst LGBT people in Chechnya: around 40 peopledetained, at least twokilled, 14. Januar 2019. [Abruf am 22.01.2019 unter: https://lgbtnet.org/en/newseng/new-wave-persecution-against-lgbt-people-chechnya-around-40-people-detained-least-two-killed].

[3] BBC News [Abruf am 26.01.2019 unter: https://www.bbc.com/news/world-europe-39937107].

[4] The New York Times [Abruf am 26.01.2019 unter: https://www.nytimes.com/2017/10/16/world/europe/chechnya-gays-roundup-kadyrov.html].

[5] The Guardian [Abruf am 26.01.2019 unter: https://www.theguardian.com/world/2017/apr/13/they-called-us-animals-chechens-prison-beatings-electric-shocks-anti-gay-purge].

[6] DIE ZEIT [Abruf am 26.01.2019 unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-04/tschetschenien-homosexuelle-maenner-festnahmen-verschleppung].

[7] Russian LGBT Network (2017): “TheysaidI’m not a human, that I am nothing, that I shouldratherbe a terrorist, than a fagot.” LGBT Persecution in the North Caucasus: a Report. Saint-Petersburg. [Abruf am 30.01.2019 unter: https://www.ilga-europe.org/sites/default/files/chechnya_report_by_rus_lgbt_n_31_july_2017.pdf].

[8] Vgl. DIE ZEIT, "Schwule werden mit neuem Gesetz rehabilitiert" [Abruf am 28.01.2019 unter: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-06/homosexualitaet-bundestag-gesetz-rehabilitiert].

[9] Vgl. Pink News, "Chechnya’spresident: I will eliminatethe gay communitybythestartof Ramadan" [Abruf am 30.01.2018 unter: https://www.pinknews.co.uk/2017/04/21/chechnyas-president-i-will-eliminate-the-gay-community-by-the-start-of-ramadan/].

[10] SPIEGEL ONLINE, "Verfolgungskampagne in Russland. 'Schwule sind Teufel. Nehmt sie alle mit'" [Abruf am 26.01.2019 unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-tschetschenien-ramsan-kadyrow-rechtfertig-homosexuellen-verfolgung-a-1157954.html].

[11] Russian LGBT Network: Russian Justice Minister: “Wewereunableto find evenmembersofthe LGBT community in Chechnya.” 16.05.2018 [Abruf am 22.01.2019 unter: https://lgbtnet.org/en/newseng/russian-justice-minister-we-were-unable-find-even-members-lgbt-community-chechnya].

[12] Vgl. OSZE - Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (2018): OSCE Rapporteur’s Report underthe Moscow Mechanism on alleged Human Rights Violations and Impunity in theChechenRepublicoftheRussianFederation [Abruf am 26.01.2019 unter: https://www.osce.org/odihr/407402?download=true].

[13] So hatte beispielsweise die russisch-orthodoxe Kirche vor den Olympischen Spielen in Russland 2014 gefordert, Homosexualität unter Strafe zu stellen. Siehe dazu: SPIEGEL ONLINE, "Russische Kirche will Homosexualität unter Strafe stellen" [Abruf am 30.01.2019 unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/orthodoxe-kirche-will-homosexualitaet-in-russland-verbieten-a-942898.html].

[14] Human Rights Watch (2019): World Report 2019. Events of 2018 [Abruf am 22.01.2019 unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/world_report_download/hrw_world_report_2019.pdf].

[15] Vgl. OSZE - Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (2018): ebd.

[16] Vgl. Bauman (2017), Retrotopia. Berlin: Suhrkamp Verlag.

[17] Vgl. Gessen (2017): WhyAutocrats Fear LGBT Rights [Abruf am 30.01.2019 unter: https://www.nybooks.com/daily/2017/07/27/why-autocrats-fear-lgbt-rights-trump/]. http://www.pinknews.co.uk/2017/04/21/chechnyas-president-i-will-eliminate-the-gay-community-by-the-start-of-ramadan/

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