Erinnerungen an Heinrich Hannover (Teil I und II)

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26.02.2023

Berufliche Begegnungen, gemeinsame Projekte, linkspolitische Anliegen

Erinnerungen an Heinrich Hannover Teil I

Von Rolf Gössner

 

Der Tod des bundesweit bekannten Anwalts „der kleinen Leute und verfemten Minderheiten“, Heinrich Hannover, weckt in mir starke Erinnerungen an berufliche und persönliche Begegnungen sowie an gemeinsame Projekte. Ende der 1970er Jahre habe ich Heinrich Hannover kennen- und schätzengelernt. Sein Ruf als unerschrockener Strafverteidiger und als Bremer Anwalt von Kriegsdienstverweigerern, Kommunist*innen und widerständigen Menschen eilte ihm voraus. Aber auch sein „Ruf“ als „Terroristen-Anwalt“, der ihm von seinen politischen Gegnern verpasst worden ist.

Ich war Ende der 70er Jahre gerade nach Bremen gekommen und absolvierte in der Hansestadt meine Ausbildung als Gerichtsreferendar. Für die Anwaltsstation bewarb ich mich in der Hannover-Kanzlei, wo ich tatsächlich aufgenommen wurde. Beschäftigt war ich schwerpunktmäßig mit Anerkennungsverfahren von Kriegsdienstverweigerern. Dabei lernte ich Juristerei kennen, die pazifistisch ausgerichtet ist und die so zu einem wesentlichen Bestandteil meiner Ausbildung wurde. Hannovers Kanzlei leistete in jener Zeit mit diesen Verfahren wichtige Pionierarbeit. Wobei sein Engagement aus leidvollen Erfahrungen entsprang: Der Zweite Weltkrieg, an dem er im jugendlichen Alter von 17 Jahren als Soldat teilgenommen hatte, ließ ihn aus diesem Krieg als Pazifist und Antimilitarist zurückkehren, was er zeitlebens geblieben ist. Nicht ohne Genugtuung resümierte er später, seine weitgehend erfolgreiche juristische Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern habe „die Bundeswehr sicher eine kleine Kanone gekostet“.

Nach dem zweiten juristischen Staatsexamen und gleich zu Beginn meiner Berufstätigkeiten als Anwalt und Publizist Anfang der 1980er Jahre geriet ich unmittelbar in eine gewalttätige Auseinandersetzung mit der Polizei. Bei meiner juristischen Gegenwehr stand mir Heinrich Hannover anwaltlich zur Seite. Was war passiert? Am 6. Mai 1980 hatte Bremen den Protest von 15.000 Menschen gegen ein öffentliches Rekrutengelöbnis der Bundeswehr im Weser-Stadion erlebt – ein militanter Protest gegen Militarisierungstendenzen, der als „Bremer Krawalle“ in die Geschichte der Stadt einging. Gewaltsame Auseinandersetzungen mit vielen Verletzten, Steine flogen auf Polizeibeamte, Bundeswehrfahrzeuge gingen in Flammen auf – und ich war mittendrin: nicht als Demonstrant, sondern als Journalist in meiner damaligen Funktion als Bremer Redakteur der Tageszeitung (taz).

Ausgestattet mit einem offen getragenen Presse-Sonderausweis der Panzergrenadierbrigade 32 ging ich an jenem Tag auch im Weser-Stadion meiner Arbeit nach. Doch es dauerte nicht lange, da umringten mich drei mausgraue Bundeswehr-Feldjäger und ein Zivilpolizist und ermahnten mich eindringlich. Mein Vergehen: Ich hatte die Falschen fotografiert – nicht Demonstranten, die Steine auf mit Helmen und Plastikschilden geschützte Polizisten warfen, sondern Polizisten, die innerhalb des Stadions die Steine aufgriffen und sie in die ungeschützte Menschenmenge zurückschleuderten. Nachdem ich trotz der Ermahnung auf Pressefreiheit und Beweissicherung pochte und weiter fotografierte, stürzten sich Feldjäger unter „So, jetzt reicht’s“-Rufen auf mich, führten mich im Armdrehgriff an einem Spalier gewaltbereiter Feldjäger vorbei, stießen mich die Treppe hinab und übergaben mich der Polizei.

Nun hoffte ich auf bessere Behandlung, doch jetzt ging’s erst richtig los: Die Beamten hatten ein Spalier gebildet, um mit mir – wie auch mit vielen anderen – eine Art Spießrutenlauf zu veranstalten: Ich wurde durch die Reihen gejagt, mit Tritten und Schlagstöcken traktiert und an den damals noch recht langen Haaren gezogen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich am Ende des Spaliers liegen blieb und Demonstranten mich in Sicherheit brachten.

Diese Polizeigewalt im Weser-Stadion beschäftigte, dank Heinrich Hannovers juristischer und rechtspolitischer Intervention, Presserat, Staatsanwaltschaft und Politik. Auch andere 6.-Mai-Geschädigte vertrat er gegen ungezügelte Staatsgewalt – allerdings leider ohne juristische Erfolge, denn die gewalttätigen Polizisten in Uniform und unter Helmen konnten nicht namhaft gemacht werden, so dass letztlich niemand zur Verantwortung gezogen werden konnte. Ein altes, bis heute nicht wirklich gelöstes Problem mangelnder Kontrolle von Polizei und Polizeihandeln.

Meine nächsten Begegnungen mit Heinrich Hannover führten ab Mitte der 1980er Jahre zu einem gemeinsamen Projekt: dem Forschungsvorhaben „Terroristen und Richter“ am Hamburger Institut für Sozialforschung. Als wissenschaftliche Mitarbeiter hatte er dafür die Journalistin und Sozialwissenschaftlerin Margot Overath und mich ausgesucht. Mit diesem Projekt sollte ein hochproblematisches Kapitel bundesdeutscher Rechtsentwicklung aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufgearbeitet werden. Es ging im Kern um die seinerzeit bereits zwei Jahrzehnte währende „Terrorismusbekämpfung“ und um die Frage, wie diese Entwicklung die Bundesrepublik, ihre parlamentarische Demokratie und den Rechtsstaat veränderte. Wir suchten Antworten auf die Frage, wie der Staat, wie die Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative mit der Bedrohung durch die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) umgehen – und wie mit ihren Protagonisten bis hin zu den angeblichen „Sympathisanten“.

Aus diesem mehrjährigen Forschungsprojekt ist 1991 ein dreibändiges Werk hervorgegangen, das im VSA-Verlag Hamburg erschienen ist: Im ersten Band Terroristenprozesse. Erfahrungen und Erkenntnisse eines Strafverteidigers rechnet Heinrich Hannover mit der Politischen Justiz der Bundesrepublik ab, der er seit den 1950er Jahren mehr als drei Jahrzehnte lang Gerechtigkeit abzutrotzen versuchte. Die zentrale These seiner Arbeit, nach der es im politischen Prozess nicht in erster Linie um Wahrheitsfindung gehe, sondern vielmehr um Feindbekämpfung, entwickelte der Autor aus der Perspektive des teilnehmenden und damit auch betroffenen Beobachters, der er in seiner Funktion als politisch bewusster Strafverteidiger in solcherart Strafverfahren war.

Im zweiten Band Das Anti-Terror-System. Politische Justiz im präventiven Sicherheitsstaat untersuchte ich die Entwicklung des polizeilich-geheimdienstlich-justiziellen Terrorismus-Sonderrechtssystems, das sich inzwischen entwickelt hatte, und seine gesellschaftlichen Funktionen und Auswirkungen. Auswirkungen, die nach und nach die gesamte linksorientierte Opposition bis hinein in die neuen sozial- und umweltpolitischen Bewegungen (der 80er Jahre) infiltrierten und die demokratisch-rechtsstaatliche Verfasstheit der Republik mehr und mehr aushöhlten.

Im dritten Band Drachenzähne. Gespräche, Dokumente und Recherchen aus der Wirklichkeit der Hochsicherheitsjustiz von Margot Overath geht es um die am eigenen Leib der unmittelbar Betroffenen erfahrene und erlittene Wirklichkeit der Politischen Justiz in Zeiten des Terrors und der „Terrorbekämpfung“. Dieser Band ist mit aktiver Unterstützung von Betroffenen zustande gekommen, von Angeklagten, Verurteilten und deren Verteidigern. Dabei geht es auch – am Beispiel einzelner Gerichtsverfahren – um die zahlreichen verschärften Sonderbedingungen, die „Terroristenprozesse“ auszeichnen und die rechtsstaatliche Prinzipien streckenweise infrage stellen.

Das dreibändige Werk liefert insgesamt Antworten auf die Fragen, welche Auswirkungen und Folgen die verschärfenden Rechtsänderungen und Aufrüstungsmaßnahmen haben, die im Zuge der damaligen Terrorismus „Terroristenbekämpfung“ vorgenommen und vollzogen wurden – und die seitdem, besonders seit 9/11, mit mehreren „Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzen“ noch ausgeweitet und weiter verschärft worden sind (zur weiteren Entwicklung: Gössner, Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der ‚Heimatfront’. Hamburg 2007, sowie Datenkraken im Öffentlichen Dienst. ‚Laudatio’ auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat. Köln 2021). Die Auswirkungen haben den demokratischen Rechtsstaat und die politische Kultur in diesem Land jedenfalls in erheblichem Maße negativ beeinflusst – bis in die heutige Zeit.

Heinrich Hannovers Verdienst war es u. a., solche bürgerrechtsgefährdenden Entwicklungen engagiert und kritisch aufgearbeitet, angeprangert und auf notwendige Änderungen gedrängt zu haben. Er hat damit das Bewusstsein vieler Zeitgenossen für staatliche Willkür und ungerechte Zustände im Rechtssystem geschärft. Nun ist Heinrich Hannover tot. Er starb am 14. Januar 2023 im hohen Alter von 97 Jahren in Worpswede. Auch künftigen Generationen von Juristen, Anwältinnen und Strafverteidigern kann und sollte sein jahrzehntelanges humanistisch-demokratisches, friedenspolitisches und aufklärendes Wirken als Vorbild dienen.

Im Text erwähnte Literatur:

Heinrich Hannover, Terroristenprozesse. Erfahrungen und Erkenntnisse eines Strafverteidigers. Hamburg 1991 (Band 1)

Rolf Gössner, Das Anti-Terror-System. Politische Justiz im präventiven Sicherheitsstaat. Hamburg 1991 (Band 2)

Margot Overath, Drachenzähne. Gespräche, Dokumente und Recherchen aus der Wirklichkeit der Hochsicherheitsjustiz. Hamburg 1991 (Band 3)

Rolf Gössner, Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der ‚Heimatfront’. Hamburg 2007

Ders., Datenkraken im Öffentlichen Dienst. ‚Laudatio’ auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat. Köln 2021


Sein Engagement für Gerechtigkeit und für die Aufarbeitung verdrängter Kapitel politischer Justiz

Erinnerungen an Heinrich Hannover Teil II

Inzwischen sind zahlreiche Nachrufe auf den Strafverteidiger, Publizisten und Kinderbuchautor Heinrich Hannover erschienen. Anders als in früheren Zeiten würdigen heute alle Verfasser sein Leben, sein Engagement für Gerechtigkeit, sein humanistisch-demokratisches, friedenspolitisches und aufklärerisches Wirken. Einen lesenswerten Nachruf hat Norman Paech in der vorigen Ausgabe von Ossietzky veröffentlicht – in derselben Ausgabe, in der auch ich einige meiner Erinnerungen an berufliche und persönliche Begegnungen sowie an gemeinsame Projekte niedergeschrieben habe. Dem möchte ich nun ein weiteres, ziemlich verdrängtes Kapitel aus der bundesdeutschen Frühgeschichte der 1950er und 60er Jahre hinzufügen.

Heinrich Hannover wäre gerne Wirtschaftsanwalt in Bremen geworden. Doch gleich zu Beginn seiner Anwaltstätigkeit 1954 hatte er die Pflichtverteidigung eines Kommunisten übertragen bekommen. Von da an übernahm er weitere Mandate dieser Art. Und er machte dabei die bittere Erfahrung, vor einer im wahrsten Sinne des Wortes „Politischen Justiz“ verteidigen zu müssen – genauer: vor einer politisch motivierten Sondergerichtsbarkeit, die stramm nach antikommunistischer Tradition Kommunist*innen und andere Linke wie „innere Feinde“ behandelte.

Es war ein gemeinsames Anliegen, das uns Anfang 2000 dazu bewegte, zusammen eine Pressekonferenz in Bremen zu veranstalten, um mit unseren gerade erschienenen Büchern auf dieses dunkle Kapitel und seine Langzeitfolgen aufmerksam zu machen: mit Heinrich Hannovers Memoiren Die Republik vor Gericht 1954-1974. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts sowie mit der Neuauflage meines Buches Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges. Verdrängung im Westen – Abrechnung mit dem Osten?, für das Hannover ein Vorwort beigesteuert hatte; beide Bücher sind im Berliner Aufbau-Verlag erschienen. Aus diesen gesammelten Erfahrungen, Analysen und Erkenntnissen leiteten wir rechtspolitische Forderungen ab.

Doch worum genau ging es bei unserer publizistischen Erinnerungsarbeit? Mit der deutschen Einheit und dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre schien die Zeit gekommen, nicht nur die DDR-Geschichte, sondern auch das so stark verdrängte Tabu-Thema politischer Verfolgung in Westdeutschland offiziell aufzuarbeiten. Dazu gehören zwei weitere, unmittelbar zusammenhängende Grundbelastungen bundesdeutscher Frühgeschichte, die die Bundesrepublik allzu lange negativ prägten: die verspätet-mangelhafte Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit sowie die Wiedereingliederung von Altnazis in Staat und Gesellschaft, in Bundeswehr, Polizei, Geheimdienste und Justiz.

Von politischer Verfolgung betroffen waren in erster Linie Kommunist:innen, ihre Unterstützer und„Sympathisanten“ – aber auch linke Bündnispartner und bloße Kontaktpersonen. Das Ausmaß ist heute kaum mehr vorstellbar: Von 1951 bis 1968 gab es Strafermittlungsverfahren gegen 150.000 bis 200.000 Personen und Tausende von Verurteilungen. Mehr als doppelt so viele – etwa eine halbe Million – waren direkt oder indirekt von staatlichen Ermittlungsmaßnahmen betroffen: so von langfristigen Observationen, Abhöraktionen und Untersuchungshaft. Selbst gewaltlose Proteste gegen die damalige Wiederaufrüstung wurden als kriminelle Delikte verfolgt, wenn sie als „kommunistisch gesteuert“ galten. Menschen wurden wegen „Staatsgefährdung“ oder„Geheimbündelei“ bestraft, weil sie für ein entmilitarisiertes, neutrales Gesamtdeutschland eintraten oder weil sie deutsch-deutsche Kontakte pflegten.

Strafrechtlich verfolgt wurden also überwiegend Menschen, die „keine politischen Morde, keine Aufstandsversuche, keinerlei Gewalttaten“ begangen hatten, wie der Anwalt und spätere NRW- Justizminister Diether Posser zu Recht hervorgehoben hat. Zwar schloss nur etwa jedes zwanzigste Ermittlungsverfahren mit einer Verurteilung ab – das ergibt 7.000 bis 10.000 Verurteilungen meist zu mehrmonatigen, teils zu mehrjährigen Freiheitsstrafen. Doch auch wer nicht bestraft wurde, konnte existentiellen Schaden nehmen: durch monatelange Einzel-U-Haft, jahrelange. Einschränkungen der staatsbürgerlichen Rechte, Pass- und Führerscheinentzug, Verlust des Arbeitsplatzes und Renteneinbußen.

Der Höhepunkt dieser justiziellen Verfolgungsgeschichte war 1956 mit dem Verbot der Kommunistischen Partei (KPD) durch das Bundesverfassungsgericht erreicht worden – ein Urteil, das nach neuerer Forschung anhand zuvor geheimgehaltener Dokumente als verfassungswidrig gelten kann, u. a. wegen unzulässiger exekutiver Einflussnahme (Foschepoth, 2017). Mit dieser zweifelhaften Entscheidung wurde letztlich die Kriminalisierung der politischen Betätigung von Kommunisten und ihren Organisationen verfassungsrechtlich legitimiert.

Die Politische Justiz gegen Kommunisten wirkte lange Zeit in stiller oder offener Übereinkunft mit der Mehrheit der Bevölkerung. Der tief verwurzelte Antikommunismus, der allgegenwärtige Kommunistenverdacht, die Angst vor„kommunistischer Unterwanderung“ lähmten bis hinein in die Gewerkschaften und die SPD, die sich selbst mit „Unvereinbarkeitsbeschlüssen“ gegen (mutmaßliche) Kommunisten abzuschotten versuchten.

Erst 1968 fand die 17 Jahre währende Kommunistenverfolgung ein Ende: Die damalige CDU/SPD-Bundesregierung initiierte eine Liberalisierung und Korrektur des politischen Strafrechts, zumindest teilweise, und erließ auf Grundlage des Straffreiheitsgesetzes eine „Rechtskorrektur“-Amnestie für verdächtigte und bereits angeklagte Betroffene in laufenden Strafverfahren. Die Betroffenen, insbesondere jene, die ihre Strafe längst „verbüßt“ hatten, wurden jedoch –bis heute – weder rehabilitiert noch entschädigt, obwohl die damaligen Staatsschutzprozesse mit rechtsstaatlichen Prinzipien und bürgerrechtlichen Maßstäben kaum zu vereinbaren waren.

Aus diesen Gründen hatte Heinrich Hannover im September 1999, ein halbes Jahr vor unserer oben erwähnten Pressekonferenz, seinen früheren Anwaltskollegen Gerhard Schröder (SPD) angeschrieben, mit dem er einst in politischen Verfahren verteidigt hatte und der 1998 Bundeskanzler einer rot-grünen Regierungskoalition geworden war. Hannover wollte ihn an seine frühere Haltung als Strafverteidiger erinnern und ihn nun als Kanzler bitten, endlich dafür zu sorgen, „dass die noch lebenden Opfer der Justiz des Kalten Krieges, die wie Du weißt, nicht nur in der DDR, sondern auch in der alten Bundesrepublik produziert worden sind, rehabilitiert und entschädigt werden“. Und er betonte: „Es besteht dringender Handlungsbedarf! Die betroffenen Menschen sind alt, es sterben immer mehr weg.“

Der Bundeskanzler ließ seinem ehemaligen Anwaltskollegen über einen Ministerialdirektor antworten, dass „die Strafverfahren, die Sie im Auge haben, unstreitig nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geführt worden“ seien – trotz allen damit verbundenen Unrechts. Hannover widersprach dieser euphemistischen Einschätzung vehement: Die damalige Justiz „war eine Waffe im Kalten Krieg“, um Kommunisten und ihre Kontaktpersonen, kommunistische Organisationen und ihre Bündnispartner aus dem öffentlichen Meinungsbildungsprozess auszuschließen. Bei den damaligen Urteilen handle es sich um „rechtsstaatswidriges justizielles Unrecht“ mit existentiellen Folgen für die Betroffenen – unter ihnen auch kommunistische Widerstandskämpfer, denen sämtliche Wiedergutmachungsansprüche für die in der Nazizeit erlittene Zuchthaus- und KZ-Haft aberkannt worden sind. Nicht selten hatten an solchen Entscheidungen auch „furchtbare Juristen“ mitgewirkt, Altnazis, die schon dem Naziregime gedient hatten und sich mit politischer Verfolgung bestens auskannten.

Auf die Einwände Hannovers ließ der Bundeskanzler über seinen Ministerialdirektor erwidern, dass das Bundesjustizministerium „aus Rechtsgründen“, insbesondere wegen des Grundsatzes der Gewaltenteilung, keine Möglichkeit sehe, die damaligen Gerichtsurteile per Gesetz aufzuheben. Deshalb seien auch weder Rehabilitierung von Verurteilten noch Entschädigungen möglich (mit Ausnahme von gewissen „Härtefällen“).

Und so mussten wir während unserer Pressekonferenz im März 2000 den Medien und der Öffentlichkeit mitteilen, dass Bundeskanzler Schröder sich weigert, für eine Rehabilitierung der westlichen „Justizopfer des Kalten Krieges“ zu sorgen, und damit das in den 1950er und 60er Jahren begangene Justizunrecht im Rahmen des Möglichen wiedergutzumachen. „Die Herstellung von Gerechtigkeit“, so Heinrich Hannover, sei „immer eine Sache des guten Willens der jeweils herrschenden Machtträger“. Angesichts des offenkundig fehlenden guten Willens forderte Hannover in seinem Abschlussschreiben an Schröders Ministerialdirektor diesen auf: „Richten Sie Ihrem Chef bitte aus, dasser sich schämen möge.”

Bei dieser Weigerungshaltung ist es unter sämtlichen Bundesregierungen bis heute geblieben. Selbst wenn Rehabilitierung und Entschädigung angesichts der wenigen noch lebenden Betroffenen in den allermeisten Fällen zu spät kommen würde, gilt weiterhin: Dieses Justizunrecht muss dringend der gesellschaftlichen Verdrängung entrissen und die noch lebenden „Justizopfer des Kalten Krieges“ müssen nach Einzelfallprüfung rehabilitiert und entschädigt werden. Dies gilt im Übrigen auch für die meisten Betroffenen von Berufsverboten der 1970er und 80er Jahre: Denn schon ab 1972 erfuhr die Kommunistenverfolgung mit dem „Radikalenerlass” in der sozialliberalen Ära eine Fortsetzung mit anderen Mitteln. Hunderttausendfache Regelanfragen und ausufernde Gesinnungsüberprüfungen durch den „Verfassungsschutz”, tausendfache Berufsverbotsverfahren und über tausend Berufsverbotsmaßnahmen gegen Stellenbewerber oder -inhaber*innen im öffentlichen Dienst bedrängten zwei Jahrzehnte lang die gesamte Linke dieses Landes.

Diese Berufsverbote-Politik verstieß in den meisten Fällen gegen Gleichheitsgrundsatz und Diskriminierungsverbotsowie gegen die Grundrechte auf Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Berufsfreiheit. Diese bis heute nicht aufgearbeitete Politik vergiftete das politisch-kulturelle Klima, führte zu Einschüchterung und Abschreckung, zerstörte zahlreiche Lebensperspektiven und Berufskarrieren mit lebenslangen existentiellen Folgen.

Auch diese Geschichte mitsamt den damit verbundenen Grundrechtsverletzungen und erlittenen Folgen gehört endlichder Verdrängung entrissen. Zu fordern sind: eine rückhaltlose offizielle Aufarbeitung (wie bislang erst in Niedersachsen und Baden-Württemberg), vollständige Rehabilitierung der Betroffenen nach Einzelfallprüfung sowie materielle Entschädigung für nachweislich erlittene Benachteiligungen und Einbußen bei Renten und Pensionen.

Auch diese Forderung ist im Sinne Heinrich Hannovers, über den Ossietzky-Mitherausgeber Otto Köhler in einem Freitag-Artikel zu dessen 80. Geburtstag (2005) in der ihm eigenen ironisch-sarkastischen Art geschrieben hatte: Der zu Feiernde sei in seinen 50 Anwaltsjahren „nie etwas Rechtes geworden“ – ganz anders als dessen frühere Anwaltskollegen Gerhard Schröder, der zum Bundeskanzler avancierte, und Otto Schily, der vom „Terroristenanwalt“ zum Bundesinnenminister und sicherheitspolitischen Hardliner mutierte. Und tatsächlich: Hannover ist abseits solch machtpolitischer Mutationen seinem Kampf um Gerechtigkeit und damit sich selbst treu geblieben. Oder aus Sicht von Otto Köhler: Selbst die „vielen Niederlagen, die Heinrich Hannover in seinem langen Juristenleben errungen hat“, seien letztlich zugleich Siege, „weil sie diesen Staat zwangen, sich kenntlich zu machen.“

Doch Heinrich Hannovers Wirken ging, wie gezeigt, weit darüber hinaus: Dieser „gesellschaftliche Streiter gegenmilitante Unvernunft und justizförmiges Unrecht“ hat staatlich bedrängten und verfolgten Menschen geholfen und mit seiner substantiellen Justizkritik ein Stück Justizgeschichte geschrieben. Und das beinhaltet auch und gerade die Einforderung politischer Konsequenzen, die wir nun in seinem Sinne weiter betreiben müssen.

Erweiterte Fassung des Beitrags von Rolf Gössner in: Ossietzky Nr. 4/2023.

Der 1. Teil seiner Erinnerungen an Heinrich Hannover erschien in: Ossietzky Nr. 3/2023: https://www.ossietzky.net/artikel/erinnerungen-an-heinrich-hannover-i/

 

Im Text erwähnte Literatur:

Briefwechsel (1999-2000) Heinrich Hannover Bundeskanzler Gerhard Schröder: http://www.heinrich- hannover.de/briefwechsel.htm

Heinrich Hannover, Die Republik vor Gericht. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts 1954-1974 (Band I, Berlin 1998) und 1975-1995 (Band II,Berlin 1999).

Rolf Gössner, Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges. Verdrängung im Westen Abrechnung mit dem Osten? (Hamburg 1994; Berlin, erw.Neuauflage 1998); mit einem Vorwort von Heinrich Hannover.

Rolf Gössner/Peter Kleinert, Ein Staat sah Rot, TV-Film (SAT1/RTLplus), 1994, darin: Interview mit RA Heinrich Hannover.

Otto Köhler, „Drei Freunde“, in: Freitag v. 4.11.2005: https://www.freitag.de/autoren/otto-koehler/drei-freunde

Josef Foschepoth, Verfassungswidrig! Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg. Göttingen 2017.

50 Jahre Radikalenerlass: „Das war keine Erfolgsgeschichte“, von Hermann G. Abmayr (Interview) und Oliver Stenzel, in: KONTEXT, 12.01.2022: https://www.kontextwochenzeitung.de/politik/563/das-war-keine-erfolgsgeschichte-7951.html

 

© Dr. Rolf Gössner – Veröffentlichung mit Einwilligung von Autor und Ossietzky – Verlag mail@rolf-goessner.de

HeaderBild: Heinrich Hannover  2016; der Journalist und Redakteur Kurt Nelhiebel, dessen Webseite das Fritz Bauer Forum der BUXUS STIFTUNG betreut, war mit Heinrich Hannover ebenfalls befreundet, er schildert einen Besuch bei Heinrich Hannover an dessen letztem Wohnsitz Worpswede in einem persönlichen Porträt.


 

Quelle: OSSIETZKY. Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft, Nr. 3-2023 v. 4.02.2023 und Nr. 4-2023 v. 18.02.2023. Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Otto Köhler.

Begründet 1997 von Eckart Spoo / Redaktion: Rüdiger Dammann

https://www.ossietzky.net/zeitschrift/

Einzelexemplare und Abos über: Ossietzky Verlag GmbH, Siedendolsleben 3, 29413 Dähre.

Mailadresse Verlag: ossietzky@interdruck.net / Internet: https://www.ossietzky.net/

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