07.03.2020
Ibrahim Arslan – Überlebender des rassistischen Brandanschlags in Mölln
„Wir besetzen das Wort Opfer anders, indem wir es mit Stärke und Sympathie füllen“
Im Interview von Daniela Collette
Der rassistische Brandanschlag, der in der Nacht auf den 23. November 1992 auf zwei aus der Türkei eingewanderte Familien in der Kleinstadt Mölln in Schleswig-Holstein verübt wurde, war ein Gewaltanschlag aus neonazistischer Gesinnung. Er kostete die zehnjährige Yeliz Arslan, Ibrahim Arslans Schwester, ihrer Cousine Ayşe Yılmaz sowie ihrer Großmutter Bahide Arslan das Leben.
Ibrahim Arslan, der als siebenjähriger den Anschlag überlebte, kämpft seit vielen Jahren gegen die Verdrehung der Geschichte, die die Täter und Zuschauer_innen, ja auch eine ganze Stadt zum Opfer erklären will, während die Überlebenden bloß als Statisten eines Geschehens gelten sollen, dessen Hauptzeug_innen sie in Wirklichkeit sind. Ein Phänomen, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte deutscher Erinnerungskultur zieht, aber nur selten offen diskutiert wird, weil damit nicht wiedergutzumachende Versäumnisse und stets notwendige Veränderungen angesprochen werden.
Ibrahim Arslan regt zum Nachdenken über eine Kultur der Erinnerung an, die Verbrechenstaten erinnert, aber die Sicht der Überlebenden und ihrer Angehörigen als fremd abwehrt, das heißt sie weiterhin ausgrenzt und die Geschichte rassistischer Gewalt damit fortsetzt. Das Interview mit ihm für den Fritz Bauer Blog führte die Bochumerin Daniela Collette in Hamburg.
DC: Hallo Ibrahim, vielen Dank, dass Du Dich zu dem Interview bereiterklärt hast. Du bist in Mölln geboren und aufgewachsen?
IA: Ja.
DC: Und hast dort mit Deinen Eltern und Deiner Schwester und Deiner Großmutter Bahide Arslan gelebt. Kannst Du uns etwas über Deine Familie und Deine Kindheit in Mölln erzählen, vor dem Anschlag?
IA: Ja, und zwar bin ich 1985 in Mölln auf die Welt gekommen, am 13. März. Wir haben in einem großen Haus gelebt, mit mehreren Familienmitgliedern, so wie das viele migrantische Familien in Deutschland tun. Meine Oma hat meine Mutter damals aus der Türkei nach Deutschland geholt, hat sie sozusagen meinen Vater heiraten lassen. Wir sind die dritte Generation, die in Deutschland auf die Welt gekommen ist, mein Vater war die zweite Generation, meine Oma die erste Generation Gastarbeiter. Wir haben ein ganz normales Leben in Mölln geführt. Ich war nicht in der Kita, damals war das nicht so mit der Kita-Pflicht. Ich habe dann die Schule besucht und während der Schulzeit ist dieser rassistische Brandanschlag auf unsere Familie passiert, als ich sieben Jahre alt war. Ich habe eine Schwester gehabt, meine Eltern haben zwei Kinder gehabt, und wir sind größtenteils mit mehreren Kindern in einem Haus gewesen, weil meine Tante auch noch ein Kind hatte, meinen Cousin Emrah. Und meine Cousine Ayşe ist aus der Türkei nach Deutschland gekommen und hat auf meinen kleinen Bruder aufgepasst. Mein kleiner Bruder ist erst 1992 auf die Welt gekommen, kurz bevor der rassistische Brandanschlag auf unsere Familie ausgeübt wurde. (…)
DC: Deine Großmutter war die erste, die nach Deutschland gekommen ist und hat die Familie nachgeholt. Was für eine Frau war Deine Großmutter Bahide Arslan?
IA: Ja, meine Großmutter Bahide Arslan ist nach Deutschland gerufen worden, (sie ist) als Gastarbeiterin gekommen. Also sie ist nicht geflohen oder aus der Türkei weggezogen, um nach Deutschland zu ziehen, sondern sie hat in ganz armen Verhältnissen gelebt. Mein Vater berichtet manchmal, dass sie in der Türkei in einer Holzhütte gelebt haben, wo sie nicht mal ein vernünftiges Dach hatten, wenn es geregnet hat, hat es reingeregnet. Um das zu vermeiden, um ihrer Familie eine bessere Perspektive zu eröffnen, ist meine Oma – übrigens alleine –, als Frau nach Deutschland gekommen. Damals war sie schon verheiratet mit meinem Opa und sie hatte drei Kinder, meine zwei Onkel und meinen Vater. Ohne sie nach Deutschland zu holen, ist sie ekommen und hat ihre Kinder und ihren Mann erstmal in der Türkei gelassen, um zu gucken, ob sie das überhaupt hier hinbekommen, mit der Arbeit, mit der Sprache und allem Drum und Dran. Meine Oma hat zum Teil achtzehn bis neunzehn Stunden am Tag gearbeitet. Sie hat Erdbeeren gepflückt, in der Spargelsaison hat sie Spargel gepflückt. Und sie hat Kartoffeln gepflückt, also alles Mögliche, was auf den Feldern zu tun ist. Und nebenbei hat sie noch ein Gasthaus gereinigt. Sie war (…) kaum zu Hause. Sie kam nur zum Essen, dann ist sie wieder arbeiten gegangen und hat kaum geschlafen. (…) Ende der 1960er, Anfang der 70er hat sie dann meine Eltern, also meinen Vater geholt, mit ihren beiden anderen Söhnen und ihren Mann. Und sie hat in Deutschland noch ein Kind bekommen, Yeliz Arslan, meine Tante, ist auf die Welt gekommen. Das ist die Einzige aus der Familie von meiner Oma, die in Deutschland geboren ist. Dann haben sie sich hier eine neue Perspektive aufgebaut. Mein Vater hat in der Türkei geheiratet, aber damals schon in Deutschland gelebt, und er hat hier die deutsche Bildung genossen. Mein Vater ist mit sieben Jahren nach Deutschland gekommen. Sein kleiner Bruder war zwei Jahre jünger und sein älterer Bruder war zwei Jahre älter und sie haben hier die ganz normale Schule besucht und sind hier aufgewachsen, haben hier gearbeitet, haben Steuern bezahlt. Ein ganz normales Leben geführt, wie viele Arbeiterfamilien, Migrantenfamilien…
DC: Und wenn wir jetzt zu der Nacht von dem Brandanschlag kommen: Am 23. November 1992 verübten Neonazis einen Brandanschlag, zunächst auf ein anderes Haus in Mölln, aber noch in derselben Nacht wurde Dein Elternhaus angezündet. Bei dem Brandanschlag auf Euer Haus starb Deine Großmutter Bahide Arslan, Deine zehnjährige Schwester Feliz Arslan und Deine 14jährige Cousine Ayşe. Wie hast Du die Brandnacht erlebt?
IA: Unser Haus wurde vom 22. November auf den 23. November angezündet, mitten in der Nacht. Du hast Recht, es sind in Mölln zwei Häuser angezündet worden und das erste Haus ist auch ein von Migranten bewohntes Haus gewesen. Da ist zum Glück keiner ums Leben gekommen. Bei uns sind drei Menschen gestorben. Es war nämlich so: (…) Mölln ist eine kleine Stadt, da gibt es eine ganz geringe Anzahl von Feuerwehrleuten, aus dem Grund mussten Feuerwehrleute aus verschiedenen Städten kommen, also aus verschiedenen Dörfern in der Umgebung der Stadt Mölln. Und die Feuerwehr aus Mölln hat erstmal das erste Haus gelöscht, was ja auch Sinn macht. Und bevor unser Haus gelöscht wurde, also bevor die Feuerwehr kam, hat die Nachbarschaft geholfen, tatsächlich. Es waren solidarische Menschen in der Nachbarschaft, die dann rausgegangen sind, sie haben Bettlaken aufgespannt, um die Menschen aufzufangen, die eventuell aus dem dritten, vierten Stock runterspringen aus dem Haus. Mein Bruder, der 1992 auf die Welt gekommen ist, war sechs Monate alt, als das Haus angezündet wurde, er wurde von meiner Mutter aus dem Fenster runtergeschmissen, so dass die Nachbarn ihn auf dem Bettlaken aufgefangen haben. Meine Mutter ist hinterhergesprungen und logischerweise nicht auf dem Bettlaken, sondern, weil sie ja schwerer ist, auf die Pflastersteine geknallt und hat sich die Hüfte gebrochen. Das gleiche Szenario hat sich auf der anderen Seite des Hauses abgespielt. Und zwar hat meine Tante meinen Cousin Emrah auf den Schoß genommen und ist dann mit ihm gemeinsam runtergesprungen. Da ist auch ein Wunder geschehen, dass mein Cousin tatsächlich gar keine Schmerzen hatte und keine Brüche erlitten hat, aber meine Tante hatte auch einen Hüftbruch. Bei ihr war es so, dass ein Metallstab einmal komplett durch die Hüfte durchging, weil sie aus dem dritten Stock auf eine Metalltür gefallen ist. Bei uns, wir waren im ersten Obergeschoss im Haus, hat sich dieses Szenario abgespielt: ich habe mit meiner Schwester und meiner Cousine Ayşe in einem Zimmer geschlafen. Meine Oma Bahide hat im Wohnzimmer gebetet und hat dann gehört, dass das Haus brennt, weil ihr Mann die Tür aufgemacht hatte und die Brände gesehen hat. Das erste, was sie getan hat – so erkläre ich mir das -, sie ist in unser Zimmer gelaufen und hat sich das erstbeste Kind geschnappt und das war ich (Anmerkung: Ibrahim hat direkt an der Tür geschlafen). Sie hat mich in nasse Handtücher eingewickelt und hat mich in die gegenüberliegende Küche gebracht. In der Hoffnung, dass die Küche nicht brennt. Als sie dann zurückwollte, wahrscheinlich von der Küche zum Zimmer, um meine Schwester oder meine Cousine zu retten, ist sie selbst ums Leben gekommen. Sie wurde imTreppenhaus gefunden und meine Oma war tatsächlich die Einzige, die komplett verbrannt war, von Kopf bis Fuß. Die Treppe ist zwischen meinem Zimmer und der Küche. Meine Schwester und meine Cousine sind durch Rauchvergiftung gestorben, in dem gleichen Zimmer. Meine Cousine kam als Touristin nach Deutschland. Sie hatte nur noch eine Woche und wollte zurück in die Türkei. Sie war die Babysitterin von meinem Bruder und sie ist tot in die Türkei zurückgekehrt und nicht lebendig. (…)
„Ich habe brennende Töpfe gesehen und mit diesem Traum wache ich manchmal heute noch auf“
DC: Hast Du selber an die Brandnacht Erinnerungen?
IA: Ja, ich habe brennende Töpfe gesehen und mit diesem Traum wache ich manchmal heute noch auf (…), in der Küche. Das schließe ich aus den Bildern in meinem Kopf, dass ich brennende Töpfe gesehen habe. Ich wurde als Letztes aus dem Haus raugeholt, so, wie die Feuerwehrleute das erzählen. Und zwar hat mein Onkel im Krankenhaus eine Zählung gestartet, er hat geguckt, welcher Mensch gestorben ist und wer überlebt hat (…). Ihm ist aufgefallen, dass einer fehlt, und das war ich. Ich war sieben Jahre alt, in nasse Handtüchern gewickelt, neben einem Kühlschrank in der Küche. Aus dem Grund haben die Feuerwehrleute mich im ersten Moment nicht gesehen und haben mich dann, nachdem mein Onkel sie aufgefordert hat, nochmal reinzugehen, gefunden. Das war vier Stunden nach den Löscharbeiten. Das heißt, ich war noch ganz lange in dem Haus, nachdem gelöscht worden war. Aus Berichten des Krankenhauses geht hervor, dass ich unterkühlt eingeliefert wurde, so dass ich wiederbelebt werden musste. Ich hatte nur eine leichte Brandwunde an der Nase. Was ich erinnern kann, sind diese brennenden Töpfe und der nächste Moment, das Aufwachen neben meiner Mama im Krankenhaus. Ich konnte mir überhaupt nicht erklären, warum wir in diesem Moment im Krankenhaus sind. Und ich wusste nicht, was mit meiner Mutter und meiner Tante passiert ist. (…) Ich wusste nur, irgendwas sehr Heftiges ist uns passiert, sodass wir hier gelandet sind.
DC: Dann war auch die Schwester nicht mehr da?
IA: Das wusste ich nicht, in diesem Moment wusste das auch meine Mutter nicht, wir haben erst ganz spät erfahren, dass meine Schwester gestorben ist, weil uns das keiner erzählt hat. Die meisten Leute, die uns besucht haben, haben gesagt, (sie) lebt und sie ist im Krankenhaus in Lübeck. Also wir waren in Mölln und sie haben uns gesagt, (sie) ist in Lübeck mit Ayşe zusammen, (damit) meine Mutter nicht nochmal traumatisiert werden sollte, haben sie versucht, (…) das zu verhindern, dass sie noch mehr Schmerz bekommt. Aus dem Grund haben sie diese Lüge erstmal erfunden, dass meine Schwester noch lebt.
DC: In den Dokumentationen, die man im Internet sieht, bist Du als kleiner hilfloser Junge am und im Krankenbett Deiner Mutter zu sehen, die schwer verletzt wurde. Und die Politiker – zum Beispiel der damalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein Björn Engholm – stehen medienwirksam daneben, wissen aber auch nicht so recht, was sie sagen sollen. Hast Du noch Erinnerungen daran? Hast Du verstanden, was da passiert, was diese Leute von Dir, von Euch wollten?
IA: Ich sage mal so, es sind sehr viele Politiker gekommen und gegangen. Als Siebenjähriger versteht man nie, wer kommt und wer geht. Ich weiß aber, dass das eine Imagesache war. Herr Engholm ist nach den Brandanschlägen nach Mölln gekommen, er hat uns im Krankenhaus besucht. Davor war er aber auch vor dem Haus und hat sich erstmal ein Bild von dem Brandhaus gemacht. Wenn Ihr Euch das mal anschaut, es gibt Dokumentarmaterial über die Zeit von damals und da sieht man klar und deutlich, dass Herr Engholm meinem Vater das Haus verspricht, also beziehungsweise mein Vater sagt, er möchte gerne, dass das ein Museum wird oder der Familie übergeben wird, dass das halt ein Erinnerungsort bleiben soll. Und Herr Engholm nickt und er bestätigt diese Forderung meiner Familie. Und da sieht man auch, dass dieses Nicken beziehungsweise auch dieses Dasein nur dem Image dieser Politiker genutzt hat. Alles andere wurde nicht umgesetzt. Wir haben das Haus weder bekommen, noch wurde das Haus zu einem Museum umgestaltet. Heute leben Geflüchtete in dem Haus, was total skurril ist. Es ist ein ganz normales Mietshaus.
„Uns ist wichtig, dass man Rassismus benennt“
DC: Da ist eine Gedenktafel vorne angebracht.
IA: Genau, da ist eine Gedenktafel vorne angebracht. Diese Gedenktafel hat übrigens auch eine Geschichte, und zwar, ich will jetzt nicht lügen, aber 1998 oder 1999 wurde diese Gedenktafel an dem Haus angebracht. Auf dieser Gedenktafel stand drauf:
Durch einen Brandanschlag sind in diesem Hause Yeliz Arslan, Bahide Arslan und Ayşe Yılmaz gestorben. Allerdings wurde, wie immer in den Medien, aber auch von unserer Politik, von unserer Gesellschaft, das Wort Rassismus ausgeschlossen. Für uns war das eine große Last, weil unser Haus nicht durch einen Brandanschlag verbrannt ist, sondern durch einen rassistischen Anschlag. Das ist wichtig für uns, dass man Rassismus benennt (…). Aus dem Grund haben wir 2012 ein eigenes Schild entworfen, und zwar exakt das gleiche Schild, nur mit dem Zusatz Rassismus drauf. Das haben wir der Stadt bei einer Pressekonferenz übergeben und sie aufgefordert, es am Haus anzubringen. Auch dort hat man keine Sensibilität gezeigt, man hat das nicht mit den Betroffenen abgesprochen. Es wurde einfach aus Eigeninitiative ein Schild entwickelt, bloß nicht das Wort Rassismus mit reinnehmen, sodass, wenn Leute aus dem Umfeld oder aus einer anderen Stadt das Haus angucken kommen, Kinder zum Beispiel, Schulen, da sollen sie bloß nicht sehen, dass das ein rassistischer Anschlag war, sondern einfach ein Brandanschlag. Und einen Brandanschlag kann jeder machen, aber einen rassistischen Brandanschlag, das verüben nur Rassisten, feige Faschisten.
DC: Nach dem Brand hat man Deiner Familie Unterstützung versprochen, auch von der Stadt Mölln, Du hast ja gerade schon angesprochen, Herr Engholm hat das Haus versprochen. Als Ihr dann aus dem Krankenhaus rauskamt, was wurde für Euch getan? Wie ging die Stadt Mölln mit Euch um?
IA: Also das, was ich jetzt sage, ist nicht nur das, was wir erlebt haben, sondern das wurde tatsächlich von der Stadt Mölln protokolliert. Alles, was ich sage, kann man auch schriftlich nachvollziehen. Das ist ein Protokoll, was die Stadt Mölln selber geführt hat. Es geht aus dem Protokoll hervor, dass man ganz intensiv versucht hat, uns Räumlichkeiten zu verschaffen. Also die haben Häuser, Wohnungen, Räume für uns gesucht, wo wir leben können. Und aus dem Protokoll geht hervor, dass ganz viele Leute, Bauämter, aber auch private Architekten, uns keine Räumlichkeiten zur Verfügung stellen konnten, weil es angeblich keine Räumlichkeiten gab. Keine freien Räumlichkeiten. (…) Aus dem Krankenhaus entlassen, wurden wir als allererstes in ein Gasthaus gebracht. Ein ganz normales Gasthaus, das gibt es in kleinen Städten, wo Menschen unterkommen, die als Gäste nach Mölln kommen. Das war für eine ganz, ganz geringe Zeit, dass wir da unterkommen sollten. Aber was mich natürlich so ein bisschen aufgeregt hat und auch bis heute zum Nachdenken bringt, ist: Meine Mutter und meine Tante haben sich ja die Hüfte gebrochen nach dem Brandanschlag. Meine Tante und meine Mutter mussten aus dem Krankenhaus mit Krücken alleine zum Haus finden. Das heißt, es wurde kein Krankentransport zur Verfügung gestellt und es wurden uns auch keine Möglichkeiten gezeigt, wie wir aus dem Krankenhaus zum Haus kommen. Die haben einfach gesagt, hier ist die Adresse, geht dahin. Meine Mutter berichtet, dass sie fünf Stunden vom Krankenhaus bis zum Haus gebraucht hat. Das sind ungefähr zwei Kilometer. (…) Ich weiß, dass meine Mutter mit Krücken zu Hause ohne Hilfe versucht hat, uns zu bekochen. Was eine Mutter natürlich macht, und auch die Wohnung sauber zu machen. Sie hat es nicht hinbekommen. Sie erzählt, sie hat einmal vier Stunden gebraucht, um Nudeln zu kochen, das kann man sich heute gar nicht vorstellen. Weil sie es nicht geschafft hat, mit den Krücken vom Wohnzimmer bis zur Küche zu gehen, sie musste krabbeln. Es gibt eine Geschichte von meiner Mutter, (in der ist) sie bis zum Küchenherd gegangen, irgendwie, in zwei, drei Stunden, und wir haben alle die ganze Zeit nach Essen gerufen. (…) Als meine Mutter am Herd war, hat sie versucht, die Nudeln in den Topf zu packen und dann ist sie umgefallen. In dem Moment ist eine Nachbarin von uns gekommen und sie haben dann zusammen die Nudeln gekocht, uns die Nudeln zum Essen gegeben und dann haben sie zusammen nochmal eine halbe Stunde geweint. Weil meine Mutter auf Hilfe angewiesen war, ganz einfach. Aber die Stadt Mölln beziehungsweise auch die Ämter, wie das heutzutage ist, Hilfebedürftigen Hilfe zu leisten, diese Sensibilität gab es nicht. Sie haben uns tatsächlich wirklich in diesem Moment allein gelassen. Allein mit unserem Schicksal, allein mit unserem Leid. Und jetzt wird wahrscheinlich auch gefragt, wo war denn Dein Vater. Und genau da komme ich zum Punkt, mein Vater ist auf den Weg gegangen, um uns Papiere zu besorgen, wir hatten ja nichts mehr. Wir hatten nichts mehr, wir waren obdachlos. Wir waren in dem Zustand eines Geflüchteten, eines Asylsuchenden, weil wir in dem Haus alles verloren haben. Geld, Papiere, unser ganzes soziale Leben war in dem Haus und alles war von einem Tag auf den anderen weg. Es gab keinen, der uns in dem Punkt unterstützt hat. Wir mussten alles selber machen und mein Vater war immer unterwegs und hat versucht, irgendwelche Sachen für uns zu klären. Auch Entschädigungen zu erkämpfen. Meine Mutter war alleine mit ihrer gebrochenen Hüfte und meine Tante war auch keine große Hilfe, weil sie noch mehr Leid erlitten hatte, indem sie sich nicht nur Hüfte gebrochen hat, sondern diese Metalldinger in ihrem Körper hatte. Aus dem Grund waren wir aufgeschmissen und wie soll ich als Siebenjähriger denn meine Familie ernähren, das funktioniert auch nicht. Und das ist übrigens, das ist alles in Deutschland passiert. Nochmal ganz wichtig zu erwähnen.
DC: Gab es denn irgendwelche Entschädigungszahlungen aus Opferfonds, gab es das damals schon?
„Für meine Opferentschädigungsrente habe ich elf Jahre gekämpft“
IA: Zu den Entschädigungszahlungen kann ich natürlich nochmal explizit eine Frage beantworten, wenn Du möchtest, und das, was ich jetzt sage, kennen natürlich alle Betroffenen von rechter und rassistischer Gewalt, für Entschädigungszahlungen müssen Betroffene erst kämpfen. Das ist das Problem. Es ist nicht unbürokratisch,man muss diese Entschädigungsgelder erstmal rausfinden, dann muss man ärztlich beweisen, dass man überhaupt Anspruch auf diese Entschädigung hat. Dann muss man ärztliche Gutachten nachweisen, um diese Entschädigungen zu bekommen. Und dann muss man Ärzte finden, die einem helfen, unbürokratisch, und auch noch gucken, ob die Krankenkasse das übernimmt. Aber erstmal musst Du eine Krankenkasse haben, weil wir nichts hatten nach dem Brandanschlag. Dann muss man halt auch Geld haben, um immer zu diesen Orten zu kommen, und dann muss man noch Hilfe bekommen, um diese ganzen Formulare auszufüllen, weil eventuell beherrscht nicht jeder Migrant die deutsche Sprache. Diese ganzen Sachen mussten wir uns beibringen und ob Du es mir glaubst oder nicht, für meine Opferentschädigungsrente, die 140,00 Euro im Monat beträgt, habe ich elf Jahre, sage und schreibe elf Jahre lang gekämpft. Ich musste das Gericht davon überzeugen, dass meine Symptome durch den Brandanschlag gekommen sind und nicht ganz normale Grippesymptome oder sowas sind. Ich huste, ja, ich mache immer so komische Geräusche, und ich hatte Traumata, ich konnte nachts nicht schlafen.(…) Und ich musste erst ärztliche Gutachten (erbringen), und das waren ganz viele, ich habe jetzt mittlerweile so eine (dicke) Akte, ich musste mir das alles erkämpfen, damit ich diesen Status in dieser Gesellschaft habe, den Status des Opfers. Auch dafür muss ein Betroffener erstmal kämpfen. Wenn man bedenkt, dass Betroffene nicht, aber Täter diese Möglichkeiten schneller, effektiver, unbürokratisch bekommen, dann ist das für uns eine unverständliche und eine sehr unfaire Situation. Wenn man sich das anschaut, das ist ja nicht gelogen, sieht man, dass nach einer Haftentlassung von einem Täter ihm eine ganz normale psychiatrische Behandlung zusteht, ohne Bürokratie. Das versuche mal einem Betroffenen, einem Opfer zu erklären.
Eventuell besteht für einen Täter in unserer Gesellschaft sogar die Möglichkeit, das haben wir nach dem NSU festgestellt, für den Verfassungsschutz zu arbeiten. Der Verfassungsschutz stellt Ex-Nazis beziehungsweise immer noch aktive Nazis ein und bildet sie aus, um sie in die (Täter)-Struktur wieder reinzustecken, um Informationen zu sammeln. Deswegen ist es für uns unverständlich, wenn wir nach Arbeit suchen müssen, wenn wir verpflichtet sind, unser Leben, unser soziales Umfeld wieder aufzubauen, wir dafür kämpfen müssen, aber einem Nazi, einem Rassisten das einfach hingestellt wird, das ist eine unverständliche Situation. Und auch eine untragbare Situation.
DC: Wenn wir jetzt nochmal einmal auf die Zeit in Mölln nach dem Brandanschlag kommen: Ich habe in einem Interview von Dir gehört, dass Ihr danach in einem abgelegenen Haus untergebracht wurdet, wo Ihr jahrelang unter Angst gelebt habt, dass wieder was passiert, weil Ihr so abgelegen und alleine dort wart?
„Jede Nacht hatten wir die Angst, dass uns das wieder passiert“
IA: Genau. Also die Stadt Mölln hatte uns in diese Unterkunft, beziehungsweise in dieses Gasthaus gepackt, (…) ich will nicht lügen, aber ein oder zwei Wochen haben wir da gelebt. Und dann, hat die Stadt Mölln sich bemüht, ein Haus für uns zu suchen, eine Wohnung. Und während, der Zeit haben sie uns ein verlassenes Grundstück mit einem Haus darauf angeboten. Und dieses Haus war ähnlich wie unser Haus, also ein ganz großes Dreistockwerk-Haus. Das sollte abgerissen werden, aber bis es abgerissen wird, durften wir da drin wohnen. Für uns war das eine sehr erschreckende Situation, wir sind aus einem Dreistockwerk-Haus rausgekommen, das angezündet wurde, und hatten Angst, dass das eventuell nochmal passiert. Und diesmal sind noch weniger Familienmitglieder da, um sich gegenseitig zu beschützen. Meine Mutter berichtet, dass sie keine Nacht so richtig in dem Haus geschlafen hat. Und wir haben von 1993 bis 1995 in dem Haus gelebt, mit richtig vielen Ängsten. Jede Nacht hatten wir die Angst, dass uns das wieder passiert.
Meine Mutter und meine Tante berichten zum Beispiel, in einer Nacht war es so windig, da hat die Tür unten im Keller immer geklappert. Mein Vater hatte Elektroschocker zu Hause hinterlassen, falls jemand kommt, dass wir sie benutzen können. Wir hatten keinen Schutz, meine Mutter und meine Tante waren alleine zu Hause, kann man sich gar nicht vorstellen. Meine Tante hatte einen Stock in der Hand und sie sind zusammen in den Keller runtergegangen, um zu gucken, ob jemand da ist. Ob irgendein Nazi da ist oder so. Sie hatten total Angst. Meine Mutter erzählt, dass sie hinter meiner Tante stand und den Elektroschocker an ihrem Rücken und richtig Angst hatte, sie wussten nicht, was sie machen sollten, also gingen sie eng beieinander. Meine Tante hat dann so ganz leicht zu ihr gesagt: „Ist ja okay, dass wir gemeinsam Angst haben, aber falls Du irgendein Geräusch hörst und auf den Knopf drückst, dann bin ich weg. Dann bist Du alleine hier. Also nimm das Ding von meinem Rücken weg.“ Also auch mal ein Witz nebenbei…
Aus den Protokollen der Stadt Mölln geht hervor, (…) dass sie das Haus, welches angezündet wurde, durch eine Privatfirma renoviert haben. Und dann haben sie uns tatsächlich vor ein Dilemma gestellt, indem sie gesagt haben, wir haben keine andere Möglichkeit für Euch gefunden, entweder Ihr zieht in ein Fertighaus ein – Fertighäuser wurden damals für Asylsuchende eingerichtet – oder Ihr zieht wieder in das Haus ein, das angezündet wurde. (…) Unvorstellbar aber wahr wir, mussten wieder in dieses Haus einziehen.
DC: Diese Fertighäuser waren doch diese Barackenhäuser.
IA: Ja, heute sagen sie Container dazu. Damals waren das diese Fertighäuser, die man übereinandergestellt hat, nebeneinander, wo Asylsuchende unterkommen sollten. Das schrieben sie tatsächlich auch so in ihr Protokoll rein, und wir sind wieder in das Haus eingezogen, wo uns das ganze Leid zugestoßen ist. Ich berichte manchmal in Interviews, dass ich tatsächlich aus dem gleichen Fenster schauen musste, in dem gleichen Zimmer geschlafen habe, wo ich von meiner Oma gerettet wurde. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, aber wir haben versucht, das zu überwinden. Zum Teil haben wir das sogar geschafft, weil wir fünf Jahre da drin wohnen mussten.
DC: Wie hat die Nachbarschaft, die Zivilgesellschaft in Mölln darauf reagiert? Habt Ihr viel Hilfestellung bekommen oder wart Ihr die Störenfriede, die den sozialen Frieden in Mölln gestört habt?
„Wir sind die Schandflecken von Mölln gewesen“
IA: Na ja, es ist so, dass wir – das können wahrscheinlich auch viele von rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt Betroffene erzählen – wir sind die Schandflecken von Mölln gewesen, ebenso wie die Holocaust-Überlebenden das manchmal sagen, dass sie die Schandflecken von Deutschland sind, dass wir für immer Mölln mit den rassistischen Brandanschlägen verbunden haben. Immer, wenn man uns gesehen hat, hat man sich an die rassistischen Brandanschläge erinnert. Das hat man uns auch spüren lassen. Ich würde sagen, wir haben sehr wenig bis gar keine Hilfe von der Zivilgesellschaft in Mölln bekommen. Von der migrantischen Gesellschaft haben wir sehr viel Zuspruch bekommen, indem sie uns oft besucht haben. Sie haben uns nie alleine gelassen, sie waren oft um uns herum, weil sie auch zum Teil selbst Angst hatten, dass ihnen das auch passiert. Einige von der migrantischen Gesellschaft haben uns tatsächlich nicht mehr begrüßt und wollten nichts mehr mit uns zu tun haben, weil sie gesagt haben, uns kann auch sowas passieren, wenn wir die kennen. Solche Sachen haben wir gehört. Aber das waren ganz, ganz wenige, die meisten waren solidarische Leute, die immer neben uns standen und uns besucht haben und immer mit uns waren.
Wir haben danach versucht, uns zu organisieren, tatsächlich. Ich rede jetzt von meiner eigenen Perspektive, ich war, als wir in das Haus gezogen sind, schon ein Teenager und wir waren oft draußen mit Freunden spazieren. Was uns zugestoßen ist, hat uns natürlich alle in Mölln zum Nachdenken gebracht. Jetzt müssen wir uns aus einer Notwendigkeit organisieren, damit wir auf den Straßen gemeinsam sind. Wenn wir irgendwo spazierengehen, beispielsweise einkaufen, dann gehen wir nicht mehr alleine, sondern gehen zu fünft, zu sechst. Warum? Weil wir kein Vertrauen in diese Stadt und in die Zivilgesellschaft haben, dass sie uns schützen. Wir müssen uns selber schützen. Das war auch tatsächlich so, dass wir sehr oft unterwegs waren, beispielsweise gibt es jedes Jahr in Mölln ein Schützenfest und auf diesem Schützenfest waren ganz viele Nazis. Das war bekannt für seine Nazis. Wenn wir ein Karussell benutzen wollten, mussten wir mit mehreren Leuten gehen, ein paar haben aufgepasst, die anderen sind Karussell gefahren. So hat sich unser Leben gestaltet. Hört sich an, wie eine Diktaturstadt, -staat, wo man Angst um sein Leben haben muss, und das war in der Zeit auch so . Es haben wöchentlich Häuser gebrannt, wöchentlich wurden Menschen angegriffen, ermordet von Neonazis, und es gab keine Konsequenz. Wir haben als Migranten gesagt, wir mussten uns selbst organisieren, uns eventuell sogar bewaffnen, damit wir uns im Fall der Fälle wehren können.
DC: Es kam in der Bevölkerung zur klassischen Täter-Opfer-Umkehr. Wie man es auch im Fall des NSU (Nationalsozialistischen Untergrund) gesehen hat, wurde von Drogen und Zuhälterei gemunkelt, von Drogenkriminalität. Obwohl es einen Bekenneranruf und die Zeugenaussage eines kleinen Mädchens gab und die Täter überführt wurden.
IA: Es gibt sogar eine Spiegel-TV-Reportage, direkt eine Woche nach dem Brandanschlag. Während wir da noch im Krankenhaus sind, werden die Leute, die in Mölln wohnen, gefragt, was denkt ihr über den Brandanschlag. Und es wird eine Demo gezeigt. Im Dokumentarfilm sagen tatsächlich alle Nachbarn von uns, die wir halt auch kennen, dass sie denken, dass da was anderes dahintersteckt. Und einige sagen sogar Zuhälterei, wo ich denke, „Hallo, Ihr seid mit uns aufgewachsen. Ihr seid unsere Nachbarn. Es gab einen Bekenneranruf. Wie könnt Ihr das sagen?“ Einige sagen, es waren wahrscheinlich nicht die zwei Täter. Ich denke, wen will man da schützen, will man Rassismus schützen oder will man die zwei Deutschen schützen, die unser Haus angezündet haben. Was will man? Das war eine typische Täter-Opfer-Umkehr, auch bei uns, obwohl es diese Bekenneranrufe gab. Obwohl wir dieses Glück im Unglück hatten, dass die Täter sich selbst ergeben haben. Aber (…) in dieser Gesellschaft, für unsere Justiz ist es so, dass sie erst von einer rassistischen Motivation überzeugt werden müssen, damit sie das anklagen. Das ist doch Wahnsinn. Sonst heißen die Menschen Einzeltäter oder verwirrte oder verrückte Leute oder Geistesgestörte. Warum kann man Rassismus nicht einfach benennen?
„Der Rassismus wird unter den Teppich gekehrt“
DC: Der Brandanschlag wurde in den Medien stark aufgegriffen, ich kann mich noch gut daran erinnern. Wie wertest Du die Rolle der Medien rückblickend?
IA: Also rückblickend würde ich sagen, dass sie zum größten Teil nicht von einem rassistischen Brandanschlag gesprochen haben. Und dass sie das Thema Rassismus nicht benannt haben (…). Wir können das Thema Rostock-Lichtenhagen mal aufmachen, da gab es auch Medienberichte. Das waren vier Tage, vier Tage lang wurde ein Geflüchtetenheim angegriffen, angezündet beziehungsweise mit Steinen beschmissen. Dort gab es vier Tage lang Berichterstattung und man kann sehen, auch darüber gibt es Dokumentation, dass dort kein Rassismus benannt wird. Das wird runtergestuft als „Krawalle“ und es wird „Ausschreitungen“ dazu gesagt. Das Thema Rassismus hat da überhaupt gar keine Bedeutung, sodass die Zivilgesellschaft oder die Mehrheitsgesellschaft solidarisch werden könnten, um dagegen anzugehen. Aus dem Grund würde ich sagen, sie haben unsensibel Bericht erstattet und bewusst Rassismus aus ihrer Berichterstattung rausgenommen, so wie das heute auch immer noch ist. Den Rassismus somit unter den Teppich gekehrt.
DC: Helmut Kohl sprach damals, angesprochen, warum er nicht zu den Gedenkveranstaltungen nach Mölln fährt, abfällig vom “Beileidstourismus”, also sehr abfällig. Das wurde fast das „Unwort des Jahres“, das zeigt auch so ein bisschen die Stimmung der Politikerriege damals.
IA: Ich glaube, Helmut Kohl hat diese Aussage bewusst getroffen, weil er höchstwahrscheinlich auch rassistische Tendenzen bei sich selber erkannt hat. Helmut Kohl hat nicht nur gesagt, er möchte nicht nach Mölln fahren, um dem Beileidstourismus nicht beizutreten, sondern Helmut Kohl ist auch derjenige, der gesagt hat, „Das Boot ist voll“, wir können keine Geflüchteten mehr aufnehmen. (…) Helmut Kohl hat ganz wenig für die Migranten und Migrantinnen in Deutschland getan. Im Gegenteil, er hat ganz viel dafür getan, heranwachsende Jugendliche, Deutsche zu motivieren, rassistische Taten zu verüben. Das ist eine These, die ich jetzt gerade aufstelle, was heftig ist, denn ich sage bewusst, dass Politiker und Politikerinnen, auch heute, bewusst Hetze betreiben, um Jugendliche zu motivieren, solche rassistischen Taten auszuüben. Weil sie (Anm.: die Jugendlichen) davon ausgehen, okay, wenn unsere Regierung hinter uns steht, werden wir keine Konsequenz tragen müssen, dann machen wir es. Und genauso ist es auch passiert, es sind wöchentlich Häuser abgebrannt. Wenn man dann eine Solidarität von einem Bundeskanzler erwartet, dann kommt dieser Spruch: Ich würde nicht dahin fahren, weil „man nicht in Beileidstourismus ausbrechen“ wolle. Dann hat man eine Bestätigung für seine Tat. Da sagt man, ja, mein Bundeskanzler fährt auch nicht dahin, also bestätigt er mich, also ist das okay, was ich getan habe. Das ist fatal und auch darüber wird in dieser Gesellschaft nicht empört gesprochen.
DC: Letztlich wurde als Folge der rassistischen Anschläge, es war damals eine Dauerserie, die 1990er Jahre, ich habe es noch sehr schlimm in Erinnerung, auch das Grundrecht auf Asyl abgeschafft. Auch das ist ja eine Täter-Opfer-Umkehr.
IA: Genau, genau. Auch dazu hat Herr Kohl ganz viel beigetragen.
DC: Ja.
IA: (lacht) Also wir haben hier einen Menschen, den diese Gesellschaft als Held feiert, weil er dazu beigetragen hat, dass die Mauer fiel. Und auf der anderen Seite haben wir einen Menschen, der ziemlich rassistisch gehandelt hat und eventuell sogar viele Menschen motiviert hat, diese rassistisch motivierten Taten auszuüben. Und da reden wir von einer etablierten Politik, weil das die CDU war, ein etablierter Politiker, und nicht ein bewusster Rassist. Wenn er in der NPD oder sowas wäre, hätte ich gesagt, okay, das kann man auf die Partei zurückführen. Und dann stehen sie heute da und reden von Solidarität. Das ist ein bisschen unverständlich.
DC: Es gab nachfolgend, trotz des Ausblendens des Themas Rassismus in den Medien, durchaus auch Solidaritätsdemonstrationen – auch Anti-Nazi, Antirassismus-Demonstrationen. Damals verstärkt auch in Westdeutschland, nachdem in Mölln, Lübeck, Solingen rassistische Anschläge verübt wurden. Wie erleben denn Betroffene diese Solidaritätsdemonstrationen, wo teilweise eine sehr aufgeheizte Atmosphäre herrscht?
IA: Viele Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch andere wissen, wer ihre Freunde und ihre Feinde sind und gehen gemeinsam mit Antifa-Deutschen auf Demonstrationen, aber die Menschen, die da auf diese Demo kommen, bringen natürlich eine gewisse Wut mit, aus ihrem Engagement, und andere wiederum bringen ihren eigenen Nationalstolz mit. Und aus dem Grund clasht es immer auf diesen Demos. Ich kann das auch so erklären – oft ist es passiert in der Vergangenheit, aber auch heute –, an Demos nehmen ja nicht nur Türken teil, sondern auch Kurden und auch Afghanen, Araber, wie auch immer. Es soll ja auch genauso sein. Aber wenn sie dann ihren Nationalstolz mitbringen, also ihre Fahnen, dann kann es sehr schnell dazu kommen, dass sie sich gegenseitig schlagen. Ist ja auch in der Vergangenheit oft passiert, dass Kurden und Türken aneinandergeraten sind und genau das ist eine perfekte Situation für Neonazis. Die sagen dann, wir brauchen nichts mehr tun, sie hauen sich gegenseitig die Köpfe ein. Weil diese Menschen in dieser Demo das Ziel aus den Augen verlieren, warum sie überhaupt da sind. Die sind ja eigentlich da, um gegen Rassisten, deutsche Rassisten, anzukämpfen. Natürlich kriegt die Antifa auch ihren Senf dabei ab, weil sie sich irgendwie positionieren müssen, auch dort stellen wir uns irgendwie hinter die nationalistischen Türken oder wir stellen uns hinter die nationalistischen Kurden. Aus dem Grund passiert es oft, dass bei solchen Demos eine große Schlägerei passiert.
Das wird von den Medien dann so aufgegriffen: Guck mal die Linken sind linksradikal und die sind ganz schlimm und mit denen darf man nichts zu tun haben. Allerdings habe ich noch nie in meinem Leben gehört, vielleicht kannst Du mich da bestätigen, dass ein Linker unschuldige Menschen ermordet hat. Ich habe auch noch nie gehört, dass Linksradikale nachts unschuldige Menschen anzünden. Aus dem Grund würde ich dieses Thema erst gar nicht aufmachen, wenn ich vom Thema Rechtsradikalismus spreche. Bei den Demos sollte es darum gehen, dass man seinen eigenen Nationalstolz zu Hause lässt, weil man dort gegen Rassisten demonstriert (…). Ich glaube nicht, dass die Migranten und Migrantinnen Angst haben vor dem sogenannten schwarzen Block, sondern dass diese Berührungsängste nicht da sind. Sie denken so: der schwarze Block beziehungsweise die Linken sind für die Kurden und wir sind gegen Kurden, also gehen wir nicht zu den Demos. Wir müssen einfach diesen typischen Kurden-Türken-Konflikt in der Türkei lassen, wir sollten uns auf unsere Probleme in Deutschland konzentrieren. Wir haben ein ganz großes Problem hier und davon sind wir als Mehrheitsgesellschaft betroffen. Die Antifa-Deutschen, aber auch die Migranten und Migrantinnen sind von den rassistischen Übergriffen in Deutschland bedroht. Und aus dieser Notwendigkeit muss eine große Solidarität entstehen.
DC: Du hast auch schon mal von jahrelanger Schikane durch die Polizei in Mölln gegen Dich, Deinen Bruder und Deine Familie berichtet. Kannst Du da noch etwas zu erzählen?
„Wie sie uns rassistisch behandelt haben, sowas hätten sie mit einem weißen Deutschen nicht gemacht“
IA: Ja, die Polizei hat meinen Vater sehr oft ohne einen benannten Grund verhaftet. Ich kann mich sehr gut an eine Situation erinnern, wo die Polizei mit vier Polizeihunden kam, wo mein Vater irgendwie Randale gemacht hat, weil er betrunken war. Unsere Nachbarn haben Schweinefleisch und Urin vor unsere Haustür geschüttet. Es ist normal, dass mein Vater sich da aufregt hat, er wurde provoziert von unseren Nachbarn. Da kam die Polizei und hat ihn mit diesen Hunden angegriffen, sie haben die Hunde auf ihn losgelassen. Mein Vater wurde gebissen und mit diesen Wunden, ohne behandelt zu werden, ins Gefängnis gebracht. Er musste einen Tag lang bleiben und wurde erst am nächsten Tag mit den Wunden, ohne dass die behandelt worden sind, freigelassen, damit er ins Krankenhaus gehen kann, wegen Tollwutgefahr und sowas. Wie sie uns rassistisch behandelt haben, sowas hätten sie mit einem weißen Deutschen nicht gemacht. Also sie hätten jemand vielleicht beißen lassen, aber hier ist es Pflicht, dann die Feuerwehr beziehungsweise den Krankenwagen zu holen, selbst wenn man Pfefferspray einsetzt. Das haben sie nicht gemacht. Auch dafür gibt es Beweise, mein Vater war in der türkischen Zeitung und hat von dieser Schikane sehr oft berichtet. Das ist nicht an einem Tag passiert, sondern das ist mehrmals passiert, selbst ich, als Kind mit elf, zwölf Jahren, wurde von der Polizei sehr oft mit meinem Fahrrad angehalten. Dann wurde von der Möllner Polizei sehr oft gesagt: Na ja, Du bist von der Familie Arslan, Du wirst sowieso irgendwann straffällig, Du kannst jetzt erstmal weiterfahren. Ich wurde sogar am Tag der offenen Tür von der Polizei abgefangen und dann haben sie zu mir gesagt: Ja, was willst Du hier großartig sehen, Du wirst irgendwann sowieso im Gefängnis landen.
DC: Kannst Dir die Zelle angucken,…
IA: …kannst Dir die Zelle anschauen, nach dem Motto. Ich bin dann natürlich nach Hause gerannt und habe erstmal geweint. Das waren Zustände, die für uns nicht tragbar sind, sodass wir den Entschluss gefasst haben, in eine Großstadt zu ziehen, wo uns keiner kennt. Weil wir davon ausgegangen sind, hier werden wir keine vernünftige Ausbildung genießen, aufgrund unseres Nachnamens, aufgrund unserer Geschichte. Wir werden hier keine vernünftigen Nachbarn haben, die uns akzeptieren, wie wir sind. Und wir werden hier nicht die Opferrolle einnehmen können, weil wir in deren Augen immer noch die Täterperspektive präsentieren. Aus dem Grund sind wir ausgezogen.
DC: Du hast es schon ein bisschen erzählt, man erlebt jahrelang strukturellen Rassismus nach einem solchen lebensbedrohenden Anschlag. Was macht das mit jemandem?
IA: Mit einem Wort, wütend. Wenn ich das ausholend erzählen soll, das traumatisiert einen und ich würde sagen, das macht einen krank, definitiv krank, weil man immer mit diesem Gefühl lebt, dass man schuld daran sein könnte, dass das passiert ist. Wir wurden dazu verurteilt, schuldig zu sein, das können wir bis heute nicht verzeihen und nicht verarbeiten. Dieser Zustand macht Menschen, die Opfer von rassistischer Gewalt werden beziehungsweise betroffen von rassistischer Gewalt sind, krank. Bewusst reden Menschen von einem zweiten Anschlag, weil der erste Anschlag, das ist der unvermeidbare Anschlag, und dann gibt es diesen zweiten Anschlag, der aus der Gesellschaft, von den Medien, von der Polizei, von der Justiz ausgeübt wird. Was ich hier versucht habe, detailliert zu erzählen, das macht Menschen krank. Sie versuchen, mit ihrer Krankheit weiterzuleben und müssen am Ende eventuell unter Depressionen leiden. Ganz viele Menschen berichten davon, auch Überlebende von dem Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstrasse, dass sie überlebt haben, aber hinterher soviel Angst hatten und soviel Wut und auch so viele rassistische Umstände um sich herum gemerkt haben und sensibilisiert waren bezüglich Rassismus, dass sie depressiv geworden sind. In der Keupstrasse hat sich sogar einer umgebracht. (…) Das ganze Lebensumfeld ist durch diesen rassistischen Anschlag komplett umgewandelt worden. Da hat der Staat definitiv versagt, weil er diesen Menschen direkt nach dem Anschlag keine schnelle Hilfe hat zukommen lassen. Weil diese Gesellschaft einfach keinen Wert auf die migrantische Community legt, ganz banal ausgedrückt.
„Wir sind keine Menschen zweiter, dritter Klasse“
Ich kann ein Beispiel nennen. Ihr könnt Euch bestimmt an den rassistischen Anschlag auf dem Breitscheidplatz erinnern, für mich ist das rassistisch, nicht islamistisch, wenn man aus einer Ideologie Menschen ermordet und aus seinem Hass. Da gab es auch Opferfamilien, weil auch da Menschen gestorben sind. Ich kann mich daran erinnern, ein Jahr nach diesem Breitscheidplatzangriff haben sich die Opfer zu Wort gemeldet und gesagt, wir brauchen solidarische Unterstützung, unmittelbare Hilfen, unbürokratisch, wir haben noch keine Entschädigung bekommen. (…) Ihr redet die ganze Zeit über den Täter. Ihr habt es alle mitbekommen, in der nächsten Woche war Angela Merkel dort auf dem Breitscheidplatz und hat die Opfer getroffen, die Opferfamilien, und sie hat allen schnelle und unbürokratische Hilfe versprochen, ärztliche Betreuung und die Solidarität der Gesellschaft. Und was ist passiert? Es gab Beiträge im Fernsehen, in den Nachrichten, bei der ARD zum Beispiel gab es diese Sprüche, Solidarität mit Betroffenen, das muss schnell sein, das muss jetzt da sein, wir müssen uns gesellschaftlich mit den Betroffenen solidarisieren, wir dürfen uns hier nicht auf die Täterperspektive konzentrieren. Und dann haben sie gesagt, wir müssen diesen Menschen unbürokratisch Hilfe leisten, das ist unsere Pflicht. Sie haben auch von Solidarität gesprochen und jetzt sage ich Dir, das, was sie da gesagt haben, haben Holocaust-Überlebende schon seit siebzig Jahren gesagt, das sagen wir heute, das sagen wir seit fünfzig Jahren, wir Migranten. Wo ist das? Muss erst ein deutscher Weihnachtsmarkt angegriffen werden, damit diese Gesellschaft solidarisch wird? Aber mit wem werden sie da solidarisch? Mit der Mehrheit der weißen deutschen Gesellschaft, die angegriffen wurde? Das muss man sich mal reinziehen. Nach dem Angriff in Neuseeland beispielsweise, auf die Moschee, bin ich am selben Tag, weil das ein Freitag war, in das Freitagsgebet in die Moschee gegangen. Unsere Moschee wurde nicht von der Polizei beschützt, aber der Breitscheidplatz wurde mit Pollern und Polizeischutz begleitet. Warum? Weil das die deutsche Kultur angegriffen hat. Das funktioniert so nicht, wir sind keine Menschen zweiter, dritter Klasse, wir gehören auch zu dieser Gesellschaft.
DC: Die, Stadt Mölln hat jährliche Gedenkveranstaltungen initiiert, unter anderem auch mit Gottesdiensten und der Bürgermeister sprach. Wurde Deine Familie in die Planung mit einbezogen?
IA: Nein, definitiv nicht! Die Stadt Mölln hat nicht nur diesen Gedenktag durchgeführt, sondern sie hat ihn auch organisiert. Sie haben jedes Jahr im August einen Organisationstisch, wo sie darüber sprechen, wie sie den Tag gestalten. Zu diesem Organisationstisch wurden wir zehn Jahre lang nicht eingeladen. Wir haben von der Existenz dieses Orga-Teams nichts gewusst. Irgendwann habe ich meinem Vater die Frage gestellt: Die Stadt Mölln, wo organisieren sie denn das alles, wer entscheidet zum Beispiel, welcher Musiker kommt. Wer entscheidet, dass der Gottesdienst in der Kirche ist und nicht in der Moschee? Sie haben gesagt, „wir haben so einen Orga-Tisch, könnt Ihr gerne mal kommen.“ Ich bin dann hingegangen und saß an einem Tisch mit den Repräsentanten der Stadt Mölln und auch Repräsentanten der türkischen Community, das Türkische Konsulat war da und die türkische Moscheegemeinde. Da haben sie gemeinsam an diesem Tisch unseren Gedenktag organisiert, was uns gehört, unser Gedenken. Ich habe mich zweimal zu Wort gemeldet und habe gesagt: „Passen Sie mal auf, ich bin auch heute hier und wir haben Forderungen und Wünsche an Euch. Wir wollen zum Beispiel ein antifaschistisches Konzert in Mölln haben. Was denken Sie darüber? Oder wir möchten eine Demonstration in Mölln haben, die die Antifa immer unabhängig von der Stadt organisiert hat, jetzt wollten wir, dass die Stadt das organisiert.“ Sie haben das abgelehnt. Mit den Worten: „Herr Arslan, wir sitzen hier an einem demokratischen Tisch, wir können hier gemeinsam an diesem Tisch entscheiden, demokratisch abstimmen, wer die Entscheidung über das Gedenken hat.“ Wer die Herrschaft über unser Gedenken hat.
Ich dachte, mich tritt ein Pferd, ich habe gesagt, „das ist unser Gedenken und Ihr wollt darüber abstimmen, wer die Entscheidung darüber hat. Also das ist nicht abstimmbar und vor allen Dingen bin ich hier heute alleine, Ihr könnt gar nicht demokratisch abstimmen. Es ist am Ende nur einseitige Demokratie, dann machen wir unser eigenes Gedenken“, habe ich gesagt, „ich sitze mit Euch nicht an diesem Tisch, wenn Ihr das demokratisch abstimmt.“
„Wir leisten seit 2012 Widerstand gegen eine Gedenkveranstaltung, die über die Betroffenen hinweg entschieden wird“
Seit 2012 beziehungsweise seit 2013 haben wir eine eigene Gedenkveranstaltung in Mölln. Das heißt, es gibt in Mölln zwei Gedenkveranstaltungen, total skurril, aber wir leisten gerade seit 2012 extrem Widerstand gegen eine institutionelle Gedenkveranstaltung, die über die betroffenen Köpfe hinweg entschieden wird. Das ist unser politisches Engagement in Mölln, um zu zeigen, wir hinterfragen die deutsche Gedenkkultur, wir hinterfragen sie nicht nur, sondern wir distanzieren uns vom institutionellen Gedenken, solange sie nicht die Herrschaft beziehungsweise die Entscheidungsposition den Betroffenen überlassen. Es ist halt ein göttliches Bild, die Stadt Mölln kommt jedes Jahr zur Gedenkveranstaltung und legt ihren Kranz nieder vor dem Haus. Wir halten eine Mahnwache vor dem Haus und man lädt uns zur Gedenkveranstaltung (Anm.: der Stadt) ein, unsere Familie. Und wir laden ihn (den Bürgermeister, d. Red.) zu unserer Gedenkveranstaltung ein. Auch das könnt Ihr euch gerne anschauen kommen.
Dann hat die Stadt Mölln 2007 (…) die Möllner Rede ins Leben gerufen. Die Möllner Rede sollte ein Appell gegen einen rassistischen Umgang in der Gesellschaft sein. Den haben wir uns erkämpft, wir haben gesagt, wir möchten die Redner für die Möllner Rede stellen, bis 2012 war das für die Stadt Mölln okay. 2012 haben wir Frau Beate Klarsfeld als Rednerin eingeladen, bekannt als Nazi-Jägerin, und nach der Rede von Frau Beate Klarsfeld wurde das für die Stadt Mölln zu politisch. Die haben gesagt, wir möchten die Möllner Rede nicht mehr in Mölln haben, das haben sie tatsächlich so gesagt. Es sei ihnen zu politisch, wir sollen keinen Redner und keine Rednerin mehr für die Möllner Rede einladen. Wir haben gesagt, das ist ein direkter Angriff auf unsere Position, weil wir die Redner gestellt haben, und auch das haben wir der Stadt Mölln entzogen und machen die Möllner Rede gerade im Exil. Seit 2013 ist die Möllner Rede im Exil und in verschiedenen anderen Bundesländern durchgeführt.
DC: Der Bürgermeister von Mölln, Jan Wiegels, (…) hat gesagt, dass die Stadt Mölln durch den Brandanschlag von 1992 als Stadt gebrandmarkt sei und dass das eine historische Last sei, die die Stadt trägt. Stilisiert sich die Stadt Mölln damit nicht zum eigentlichen Opfer?
IA: Das ist nicht nur eine These von Dir, sondern das ist eine tatsächliche Form der Stadt, die sie anwenden. Sie haben uns das vor zwei Jahren direkt ins Gesicht gesagt, dass die Stadt Mölln betroffener ist als die Familie selbst. Das hat der Bürgermeister dort am Gedenktag selbst formuliert, exakt so.
DC: Unglaublich.
IA: Unglaublich, aber wahr. Wir haben gesagt, wir möchten gerne mit der Stadt Mölln darüber sprechen, wie sie zu diesem Entschluss kommt, dass sie selbst betroffen sind. Ich kann es irgendwo nachvollziehen, weil die Stadt Mölln sich tatsächlich als Opfer sieht. Sie sind davon abgestempelt, von den rassistischen Brandanschlägen, und sie wollen Til Eulenspiegel Stadt bleiben, sie wollen eine Kurstadt bleiben und nicht eine Stadt, wo eine rassistische Tat passiert ist. Sie wollen, dass es so in den Medien rüberkommt, dass es Einzeltäter sind und es eine Einzeltat, was nie wieder passieren kann. Allerdings ist das nicht die Lösung zum Bekämpfen des Rassismus. Das ist ein weiteres Problem, indem man die Betroffenen deformiert und ihnen ihre Betroffenheit wegnimmt. (…)
DC: Also fühlt sich Mölln betroffener als die Familie.
IA: Genau, die Stadt Mölln ist tatsächlich in diesem Bereich, dass sie sagen, die Familie oder die Brandanschläge haben uns so deformiert, dass wir an einem Imageverlust leiden, dass wir bemüht sind, an diesem Imageverlust zu arbeiten. Ich kann das auch so formulieren, die Stadt Mölln hat direkt nach diesen rassistischen Brandanschlägen der Stadt Rostock einen Brief geschrieben, das wissen auch viele nicht, 1993 – diesen Brief habe ich nämlich gefunden. In diesem Solidaritätsbrief geht es darum, wie man das Image der Stadt wieder aufbauen könnte. Weil die Stadt Rostock einen immensen Imageverlust durch die Anschläge beziehungsweise durch die rassistischen Pogrome in Rostock-Lichtenhagen erlitten hat und wie sie damit umgehen? Aberwitzig ist, die Stadt Rostock schreibt denen auch und in diesem Brief geht es genau um dieses Stadtimage, unser Problem. Aber keiner von den Briefen nimmt Bezug auf Betroffene und Opfer. „Wie seid Ihr mit Euren Betroffenen umgegangen, wie seid Ihr mit Euren Opfern umgegangen, wie geht Ihr mit Eurem Gedenken um?“ Das zeigt, wie unsensibel sie mit Betroffenen umgehen beziehungsweise wie stark sie als Stadt darunter leiden, was da passiert ist.
„Opfer und Überlebende sind keine Statisten, sie sind die Hauptzeugen der Geschehnisse”
Auch eine sehr krasse Geschichte ist: ich war am 25. Jahrestag als Referent in eine Schule in Mölln eingeladen. Ich mach seit über drei Jahren Schulbildungsarbeit als Zeitzeuge und erkläre Schülern und Schülerinnen durch einen
Workshop, wie diese rassistischen Brandanschläge passiert sind beziehungsweise wie das heute ist, durch kontinuierlichen Rassismus, aus der Perspektive der Betroffenen. Und ich zeige keine Täterbilder und so. Die Stadt Mölln habe ich sehr oft angeschrieben, aber auch die Schulen in Mölln, die haben nie Interesse daran gehabt. Bis auf den 25. Jahrestag, da haben sie gesagt: Sie dürfen ein Mal kommen, eine Veranstaltung in einer Schule machen. Also habe ich gesagt: okay, ich komme. ich nutze ja die Gelegenheiten. Da bin ich hingegangen, wir haben lange Diskussionen geführt und irgendwann kam tatsächlich dieses Thema, wer fühlt sich betroffener. Und da hat der (..) Lehrer der Schule gesagt, die Schule lädt Zeitzeugen von damals ein. Wir haben schon oft mit Zeitzeugen hier etwas gemacht. (..) Ich habe natürlich geguckt und habe gefragt, „wen habt Ihr denn aus meiner Familie eingeladen beziehungsweise wen habt Ihr von der Familie Yaşar eingeladen?“ Familie Yaşar ist die andere Familie aus dem Haus in der Ratzeburger Straße. Dann sagt er zu mir, „Nein, nein, nicht betroffene Familien“, die haben schon mal Feuerwehrleute eingeladen und auch Polizisten, die damals ermittelt haben. Ich dachte, ich höre nicht richtig. Also wie kann das sein, dass sie die Feuerwehr als Betroffene sehen, wenn es die tatsächlichen Betroffenen gibt, die noch nicht eingeladen sind, die kann man ja immer noch einladen. Was ist mit den wahren, mit den Hauptzeugen des Geschehens, was ist mit denen. Und in diesem Moment kommt natürlich immer wieder mein Spruch, Opfer und Überlebende sind keine Statisten, sie sind die Hauptzeugen der Geschehnisse. Aber die Stadt Mölln und auch andere Städte behandeln diese Menschen als Statisten. Sie spielen nur eine Nebenrolle in dem ganzen Gedenken.
DC: Es gibt ja jetzt diesen Freundeskreis, Möllner Rede im Exil, der die Möllner Rede im Exil jedes Jahr in einer anderen Stadt organisiert.
IA: Ja.
DC: Wie kann man Euch einladen?
IA: Es ist ja eigentlich keine Einladung, sondern es ist eine Notwendigkeit der Solidarität. Verschiedene Städte schreiben uns an, meistens sind das natürlich Leute, die in antifaschistischen Strukturen schon vernetzt sind. Die sagen, wir möchten gerne die Möllner Rede im Exil bei uns in der Stadt aufführen. Wir gucken uns das an, ob das mit der Thematik für dieses Jahr passt. Es gibt halt Ausfallkriterien. Es gibt mehrere Städte, die anfragen, und es hängt immer damit zusammen, wie bereit sind die Leute, dafür Arbeit zu leisten. Wir wollen auch, dass die jeweiligen Leute, die uns einladen, tatsächlich die komplette Organisation übernehmen. Wir stellen nur die Redner und Rednerinnen, alles andere organisieren die Leute, die uns einladen. Damit wollen wir etwas schaffen, was zu der Gedenkkultur beitragen soll, wir wollen, dass an unserem Gedenken alle teilnehmen, alle solidarischen Menschen sollen den Glauben daran haben, dass dieses Gedenken auch ihnen gehört. Verstehst Du? Also wir wollen der Solidaritätsgemeinschaft beziehungsweise der Gesellschaft ein sympathisches Gedenken präsentieren, was jeder gestalten kann. Allerdings nur mit Betroffenen, ohne die Betroffenen ist es kein authentisches Gedenken. Das passiert auch, mittlerweile ist es so, dass die Städte, die uns einladen, die komplette Organisation übernehmen und versuchen, mit dieser Möllner Rede selbst zu intervenieren und ihre Kämpfe darzustellen. Das ist auch ganz, ganz wichtig, finde ich, so schaffen wir eine solidarische Gemeinschaft. So werden wir eine Gesellschaft der Vielen.
DC: Wenn man Jahrzehnte nach dem Anschlag wieder von vermehrten rassistischen Anschlägen hört, wenn der NSU-Mord durch Deutschland zieht und Polizei, Politik und Zivilgesellschaft die Opfer zu Tätern deklariert, erlebt man da eine Re-Traumatisierung?
IA: Definitiv, eine Re-Traumatisierung ist eigentlich täglich in unserem Leben da, weil wir durch unseren Alltag re-traumatisiert werden. Wenn der Alltagsrassismus auf einen trifft, das passiert ja leider, sobald man aus der Haustür geht, merkt man rassistische Umstände in seiner Umgebung, wenn man in den Bus einsteigt, wenn man arbeiten geht, wenn man in der Schule ist, merkt man, wie der Alltagsrassismus präsent ist. Und das alles führt zur Re-Traumatisierung, das stimmt.
„Das ist Rassismus, wenn man das Wissen der Migranten ignoriert“
DC: Die Taten waren Botschaftstaten ohne Bekennerschreiben, die Botschaften kamen aber bei den Adressaten an. Wie die Demo “Kein zehntes Opfer” gezeigt hat, dass die migrantische Bevölkerung durchaus die Botschaft verstanden hat, wenn es auch sonst keiner verstanden hat.
IA: Genau, die “Kein zehntes Opfer”-Demo war in Kassel 2006, davor gab es auch schon Demonstrationen, die auf rassistische Taten hingewiesen haben. Allerdings wurde von der Justiz kaum etwas unternommen. Beispielsweise gab es auch in Mölln eine Demonstration, drei Wochen bevor unser Haus angezündet wurde, wurde ein Kornspeicher in Mölln angezündet. Wo ein Gerücht umging, dass in dem Kornspeicher Geflüchtete unterkommen sollten, dieser Kornspeicher wurde aber trotzdem angezündet. Ich würde sagen, Mölln und die Umgebung hat eine kleine rassistische Struktur, eine effektive rassistische Struktur, die man hätte ermitteln können, wenn man es gewollt hätte. Es wurde aber in keinem rassistischen Milieu ermittelt in dieser Zeit. Es wurde als Brand abgestempelt und die Brandursache bei dem Kornspeicher war unklar. Allerdings gab es diese Demo drei Wochen vorher. Da halten Antifa-Leute und Menschen aus migrantischem Milieu ein Transparent in die Luft, während sie laufen, da steht drauf: „Hoyerswerda, Rostock, Mölln?“ Drei Wochen bevor unser Haus angezündet wurde. „Ohne uns!“, sie wollen in Mölln sowas nicht haben. Und genauso: weil es ja schon neun Opfer gab wollte man kein zehntes Opfer. Sie sollen jetzt bitte in der rassistischen Ecke ermitteln und in allen Ecken ermitteln, damit es dieses zehnte Opfer nicht gibt. In Mölln hätte man eventuell, wenn man bei diesem Kornspeicher an allen Ecken ermittelt hätte, zumindest diesen Rassisten, die unser Haus angezündet haben, Furcht eingejagt. Man hätte die davon abhalten können. Das ist meine These dazu. Das gab es nicht und aus dem Grund ist unser Haus angezündet worden. Dieses Wissen der Migranten und Antifa, das gibt es, dieses Vorwissen. Allerdings wird es unter den Teppich gekehrt und auch das ist ein ganz großes Problem in dieser Gesellschaft, auch das ist ein rassistischer Umgang, weil man dieses Wissen der Migranten und Migrantinnen und der Antifa einfach ignoriert. Das ist Rassismus, wenn man das Wissen der Migranten ignoriert. Das ist ähnlich in Schulen, wenn Migrantenkinder von Arbeiterfamilien kommen, dann gehen sie in Stadtteilschulen und nicht in Gymnasien, weil das Wissen von diesen Menschen ignoriert wird.
DC: Auch Du erlebst wieder vermehrt rassistische Bedrohungen und die Möllner Rede im Exil 2019 in Frankfurt konnte nur unter massivem Polizeischutz stattfinden. Die Rednerin wurde vorher mit Morddrohungen bedacht. Was macht das mit einem Menschen? Was macht das mit Dir?
IA: Ich sage mal so, eigentlich nichts, weil wir mit diesen Bedrohungen schon unser ganzes Leben lang leben. Es passiert auch, ohne dass wir eine Möllner Rede organisieren. Das hat auch Idil Baydar, die die Möllner Rede gehalten hat, genauso formuliert. Sie hat sich davon nicht abbringen lassen und die Möllner Rede trotzdem gehalten. Sie hat gesagt, sie kriegt auch als Comedian Morddrohungen. Allerdings ist das ein direkter Anschlag auf unsere eigene Gedenkkultur und das sehen wir als ein Problem, weil man unser Gedenken damit wieder und wieder in Frage stellt beziehungsweise jetzt mittlerweile sogar angreift. Wir haben die Möllner Rede trotzdem gehalten und ich sage mal so, obwohl wir mit diesen Drohungen leben, dass wir jederzeit sterben können oder angegriffen werden können, leben wir letztendlich in dieser Gesellschaft. Das ist unser Statement in Schulen, aber auch in der Öffentlichkeit: Wenn wir nichts tun, werden sie uns angreifen. Dann lass uns gemeinsam etwas tun, damit wir sie stoppen, bevor sie uns angreifen. Genauso versuche ich auch andere Menschen zu motivieren. Bei den NSU-Morden zum Beispiel (…) sind auch Menschen die Opfer gewesen, die vorher nichts aktiv gegen Rassisten getan haben oder politisch aktiv waren. Das sind stinknormale Menschen gewesen, die ihre Steuern bezahlt haben und arbeiten gegangen sind und sich ein sicheres Leben in Deutschland erhofft haben. Und trotzdem gestorben sind.
„Solidarische Menschen haben uns gezeigt, dass wir hierbleiben können“
DC: Idil Baydar hat auch gesagt, „Was wollt Ihr uns noch nehmen?!“
IA: Genau.
DC: „Ihr habt uns doch schon alles angetan.“
IA: Perfekt formuliert! Das Einzige, was sie uns noch nehmen können, ist dieses Leben, also das Leben in unserem Körper. Unser Wissen, unsere Sehnsüchte, unsere Statements, was wir sagen, das können sie uns doch nicht nehmen, das wird immer in dieser Gesellschaft bestehen bleiben. Das einzige, was sie uns noch nehmen können, ist unser Leben, und das ist sowieso abgezählt. Wir werden eh irgendwann sterben. Und dieser Körper besteht aus Fleisch und Knochen, das wird irgendwann sterben. Aber unser Wissen, das, was wir übermitteln, das wird für die Ewigkeit bleiben.
DC: Woher nimmst Du die Kraft, immer weiter zu kämpfen? Möchtest Du nicht manchmal einfach Deine Familie nehmen und abhauen?
IA: Wohin? Wohin ist die gute Frage, ich kenne leider keinen Staat, wo es keinen Rassismus gibt. Ich finde, in Deutschland haben wir zumindest die Möglichkeit der Meinungsfreiheit, also wir können hier ohne Angst in der Öffentlichkeit sprechen, ohne verhaftet zu werden. Wir haben die Möglichkeit, ganz viele Menschen dazu zu motivieren, solidarisch mit Betroffenen zu werden. Das nutzen wir aus und solidarische Menschen haben uns gezeigt, dass wir hierbleiben können. Das muss man auch sagen, wenn alle Deutschen Nazis oder Rassisten wären, hätten wir ein grundsätzliches Problem, das wäre definitiv ein Zustand, der nicht ertragbar wäre und zum Auswandern zwingt. Das ist ja auch im Nationalsozialismus damals passiert. Wieviele Menschen sind geflohen, über 200.000 Deutsche sind aus Deutschland geflohen. Warum? Weil sie einen rassistischen Umstand einfach nicht ertragen konnten. Aus dem Grund hätten wir auch aus Deutschland auswandern müssen, aber das kommt für uns nicht infrage, solange es solidarische Menschen hier gibt. (…) Da reicht es schon, wenn die Nachbarschaft solidarisch ist, wenn die dich so akzeptieren, wie du bist, so wie ich auch die Menschen akzeptiere, wie sie sind.
DC: Du reist als Zeitzeuge und Botschafter gegen Rassismus durch Deutschland und besuchst Schulklassen. Wie erlebst Du die Zusammenarbeit mit den Kindern und Jugendlichen, mit den ganz jungen Menschen?
IA: Die Zusammenarbeit ist hervorragend, erstmal erwarten die Schüler und Schülerinnen immer einen Holocaust-Überlebenden, weil es heißt, heute kommt ein Zeitzeuge. Dann ist die erste Überraschung immer, wenn sie mich sehen, oh, er ist nicht so alt und er ist auch so angezogen wie wir, also kann das uns allen passieren. Das ist die erste Überraschung der Schüler. Das ist schon mal eine sehr effektive, gelungene Zusammenarbeit. Und dann erzähle ich meine Geschichte und die Geschichten der anderen Betroffenen. Ich zeige keine Täterbilder, ich nenne keine Täternamen in meinem Workshop. Und trotzdem haben die Schüler Interesse an meinem Workshop und sagen am Ende, und das betone ich auch heute wieder, sie sagen, wir haben uns nie mit der Opferperspektive auseinandergesetzt. Wir haben uns immer mit den Tätern auseinandergesetzt. Ich nenne bewusst Namen von Opfern des NSU: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut… Ich nenne dann am Ende den Namen des Täters oder einen Namen eines Täters. Die Finger gehen bei dem Täter hoch und bei den Opfern geht kein Finger hoch. Das ist aber ein Problem der Gesellschaft, nicht der Schulen.
Wir leben in einer Tätergesellschaft, wir beschäftigen uns den ganzen Tag über mit den Tätern, mit der Täterperspektive. Aber kaum wird über die Betroffenen gesprochen, das Thema Betroffene kommt gar nicht in der Öffentlichkeit zum Ausdruck. Aus dem Grund möchte ich dort eine ganz große Bildungslücke füllen, indem ich die Betroffenenperspektive in die Schulen bringe. Es wird bei dem einem oder anderen Schüler ein Trigger ausgelöst und ein Empowering-Prozess startet. Auf einmal reden ganz viele Kinder, Heranwachsende, über rassistische Zustände in ihrem Alltag. Das ist Wahnsinn, das nennt man Empowerment-Prozess, das berichten auch Holocaust-Überlebende oder auch Wissenschaftler, die diese Perspektiven erarbeiten, nur Betroffene können sich gegenseitig empowern. Warum? Weil ich von meinen Geschehnissen, von meinen Erlebnissen, von meinem Alltag erzähle und sobald ein anderer das hört, sieht der automatisch eine Wiederspiegelung in seinem Alltag. Und dann sagt er, guck mal, ich habe das auch erlebt, ich erlebe das jeden Tag. Und heute habe ich die Möglichkeit, darüber zu sprechen, sonst habe ich die Möglichkeit nicht – und schon sprechen sie. Es passieren emotionale Momente, Schüler und Schülerinnen fangen an zu weinen. Es passieren „empowernde“ Momente, Schüler und Schülerinnen kommen auf die Idee, sich zu organisieren und sich mit der Opferperspektive auseinanderzusetzen. Am Ende heißt es, wir erschaffen eine neue Gesellschaft, eine Gesellschaft, die sich mit den Tätern nicht auseinandersetzt beziehungsweise wenig auseinandersetzt, dadurch auch nicht mit den Tätern sympathisiert, sondern sich mit den Opfern und Betroffenen auseinandersetzt und mit ihnen sympathisiert.
Wir besetzen das Wort Opfer anders, indem wir es mit Stärke und Sympathie füllen und nicht mehr als passiv und schwach und unterdrückt ausdrücken. Wir müssen die Wörter neu besetzen. Das versuche ich, den Schüler beizubringen und das geht hervorragend, ich bekomme super Feedback. Allerdings mache ich das ehrenamtlich (lacht), ich habe immer noch nicht die Möglichkeit, aktiv in Schulen an einem Bildungsbaustein zu arbeiten. Auch dort, denke ich, dass noch ganz viel fehlt. Ich habe selber Recherchen durchgeführt, wir haben diese Bildungslücke in unserem Bildungssystem in der gesamten Bundesrepublik Deutschland immer noch nicht gefüllt: Migrationsgesellschaft und Gastarbeitergeneration, das fehlt in unserem Bildungssystem, und aus dem Grund sind diese Menschen uns immer fremd. Aus dem Grund fühlen sich Migranten und Migrantinnen in der Schule auch nicht repräsentiert, weil ihre Geschichte fehlt. Die Geschichte ihrer Familie fehlt. Und das müssen wir ändern.
DC: Das leitet zur letzten Frage. Was würdest Du Dir von der deutschen Gesellschaft wünschen?
IA: Also eigentlich habe ich die Frage ja ausführlich beantwortet, indem ich die Problematik der Gedenkkultur genannt habe. Ich habe gesagt, dass wir die Gedenkkultur der Mehrheitsgesellschaft infrage stellen, indem wir eine eigene machen. Das haben übrigens auch Holocaust-Überlebende jahrelang versucht und machen es immer noch. Ich habe gesagt, wir müssen neue Bildungswege schaffen, wir müssen neue Bildungsbausteine entwickeln, wo wir die Perspektive dieser Menschen hervorbringen. Das können wir nur gemeinsam mit Betroffenen, nur gemeinsam mit Migranten schaffen, wenn wir sie auch in diese Systeme mit einfließen lassen. Das wünsche ich mir tatsächlich. Ich wünsche mir einen vernünftigen Umgang auf Augenhöhe, eine Kommunikation auf Augenhöhe mit Betroffenen.
DC: Möchtest Du noch etwas, das unerwähnt geblieben hinzufügen, was Dir wichtig ist?
IA: Ganz viel, aber das würde jetzt, glaube ich, den Rahmen sprengen. Ich könnte zum Beispiel ganz viel über die NSU-Opfer sprechen, aber ich bin kein NSU-Opfer. Ich mache es auch oft in Schulen, dass ich Beispiele von unserer Familie nenne, aber auch von anderen Familien. Für mich ist immer wichtig, dass die Leute, wenn sie mein Interview sehen oder wenn sie das, was ich hier sage, hören, dass sie wissen, dass das nicht auf Mölln zu reduzieren ist. Und dass dieser Umgang nicht auf die Möllner Gesellschaft zu reduzieren ist, sondern wir ein gesamtgesellschaftliches Problem haben. Das ist, glaube ich, aber auch in dem Interview gut rübergekommen.
DC: Ja, vielen Dank für das Interview.
IA: Ich danke Euch.
Das Interview wurde im Februar 2020 in Hamburg aufgenommen.
Interview: Daniela Collette
Redaktion: Dr. Irmtrud Wojak (BUXUS STIFTUNG)
Fotos: Sabrina Richmann, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von I. Arslan
Zitat: „Ibrahim Arslan, ‚Wir besetzen das Wort Opfer anders, indem wir es mit Stärke und Sympathie füllen‘. Im Interview mit Daniela Collette“, in: Fritz Bauer Blog, 1. März 2020, URL: https://www.fritz-bauer-blog.de/de/startseite/ibrahim-arslan