Jede und jeder von uns trägt eine Verantwortung für alles, was passiert

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15.07.2018

Jede und jeder von uns trägt eine Verantwortung für alles, was passiert
Zum Urteil im NSU-Prozess

Mehmet Kubaşık (1966-2006), eines der Opfer der neonazistischen terroristischen Vereinigung NSU (Nationalsozialistischer Untergrund), war 39 Jahre alt und dreifacher Familienvater. Seine erste Arbeit in Deutschland fand er als Hilfsarbeiter in einem Großhandel für Obst und Gemüse, später schuftete er als Bauarbeiter. Er erlitt einen Schlaganfall und machte sich, nachdem er sich davon wieder erholt hatte, mit einem Kiosk selbstständig. Am Mittag des 4. April 2006 wurde er in einer Blutrache liegend hinter dem Tresen seines Kiosks tot aufgefunden. Viermal ist auf ihn mit einer Pistole geschossen worden, zweimal wurde er getroffen.

Einen Tag nach dem Tod Kubaşıks begannen die Befragungen seiner Angehörigen. Witwe und Kinder wurden nach etwaigen Drogengeschäften oder Mafia-Kontakten des Vaters befragt und lange selbst der Tat verdächtigt. Da der Verdacht gegen Mehmet Kubaşık bald öffentlich bekannt wurde, wurde die Familie daraufhin über Jahre stigmatisiert.

Die Witwe von Mehmet Kubaşık sagte im Verfahren gegen Beate Zschäpe unter anderem vor Gericht über ihren Mann: „Er war sehr liebevoll, er war sehr besorgt um seine Familie, war vernarrt in seine Kinder.“

Der Prozess gegen Beate Zschäpe und andere Beteiligte an den NSU-Verbrechen ist in erster Instanz beendet, das Revisionsverfahren wird sich wohl noch über Jahre hinziehen. Haben wir, haben Gesellschaft, Staat und Justiz, dann das Notwendige oder zumindest das Mögliche getan, um die schrecklichen Taten des NSU aufzuarbeiten? Nein!

Die Versuchung, die Ursachen bei Wenigen zu suchen, ist groß

Die Versuchung, die Ursachen für schlimme Taten bei einigen wenigen zu verorten, mit deren Bestrafung man dann oft genug das Notwendige glaubt getan zu haben, ist groß. Am deutlichsten wurde dies in der Zeit nach dem Nazi-Regime. Schuld an allem wurde Hitler und seinen prominenten Helfern zugewiesen. Die Millionen von Deutschen, die keinen Widerstand geleistet haben, oder die gar in ihren jeweiligen Rollen dazu beigetragen haben, dass so ein System überhaupt funktionieren konnte, blieben unbehelligt. Ihr Beitrag wurde ins kollektive Unbewusstsein verdrängt, um das hehre Selbstbild Deutschlands, das selbst nur Opfer der Nazis geworden ist, aufrecht zu erhalten. Nicht belangt wurden zum großen Teil insbesondere auch Juristen und Vertreter der Justiz, die dann im Nachkriegsdeutschland weiter Karriere machen konnten. Viele Profiteur_innen, Helfer_innen und Helfershelfer_innen der grausamen Verbrechen blieben so von der Justiz verschont.

Bekanntermaßen war Fritz Bauer, der unbeirrbar für eine schonungslose Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht eintrat, als hessischer Generalstaatsanwalt verantwortlich für das Zustandekommen des Auschwitz-Prozesses, der von Dezember 1963 bis August 1965 in Frankfurt am Main stattfand. Man muss sich immer wieder und gerade in diesen Tagen, in denen Menschen, die andere Menschen vor dem Ertrinken retten wollen, kriminalisiert werden, vor Augen führen, was das über eine Justiz und die staatlichen Strukturen aussagt, wenn jemand wie Fritz Bauer, der Massenmörder vor Gericht brachte, als Nestbeschmutzer betrachtet wurde, massiv bedroht worden ist und, wie er selbst sagte, feindliches Gelände betrat, sobald er sein Büro verließ.

Noch 1962 hielt der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl Fritz Bauer entgegen, es sei „noch zu früh“ für ein abschließendes Urteil über das „Dritte Reich“.

Warum bleibt Aufarbeitung so wichtig?

Und warum bleibt sie auch heute wichtig? Die Verbrechen der NSU sind nicht vergleichbar mit denen der Nazizeit. Darum geht es auch nicht.

Es geht um das Prinzip. Es geht um unsere Haltung. Es geht darum, wie wir mit Verbrechen umgehen, und was wir tun, damit sie weniger werden. Es geht um eine gesamtgesellschaftliche Fehlerkultur und Reflexionsfähigkeit.

Einen unbewaffneten, völlig arglosen jungen Familienvater zu erschießen, der niemandem etwas getan hat, ist vor allem eines: jämmerlich feige. Die solches tun, sind weder Denker noch Kämpfer, sie stehen und standen für nichts, vor dem man Respekt haben könnte. Auch die Aussagen von Beate Zschäpe vor Gericht, soweit sie medial vermittelt worden sind, ringen einem kaum Achtung ab. Einige Nazis im Zuschauerraum des Gerichts applaudierten, weil einer der Helfer nur eine geringe Strafe bekommen hat. Derartigen Gestalten sollten wir mit Konsequenz, aber auch mit Mut entgegentreten. Mit Mut zur Selbsterkenntnis.

Aus Fehlern lernen kann nur, wer die Fehler auch sieht, und zu ihnen steht. Als Staat, Justiz und Gesellschaft müssen wir auf das dumme, unreflektierte, empathielose, grausam-schädliche Verhalten Einzelner klug, reflektiert, und mit Gefühl für den Menschen reagieren.

Beate Zschäpe lässt sich vielleicht wegsperren. Die Wahrscheinlichkeit, dass derart Schreckliches wie die NSU-Morde wieder passiert, lässt sich allerdings nur wirksam verringern, wenn alle Zusammenhänge schonungslos aufgearbeitet und analysiert werden, und wenn daraus Konsequenzen für die Zukunft gezogen werden. Diese Aufarbeitung muss zum einen juristisch erfolgen, wobei die Bestrafung der Beteiligten weniger im Vordergrund steht. Für Fritz Bauer stammte das Schuldstrafrecht aus der Affenzeit, und er wusste um die schädlichen Wirkungen gerade der Freiheitsstrafe. Im Vordergrund steht vielmehr, Unrecht zu ermitteln und öffentlich festzustellen. Auch und gerade auf anderen Ebenen jedoch muss eine Aufarbeitung erfolgen. Welche Strukturen in Politik, Medien, Justiz, Geheimdiensten und Polizei waren mit ausschlaggebend dafür, dass die NSU so lange ungehindert morden konnte? Und was kann jeder Einzelne von uns dafür tun, dass so etwas nicht wieder passiert?

Wie viele Politiker übernehmen derzeit Positionen der AfD, um an der Macht zu bleiben? Wie viele Medienschaffende berichten über die AfD und laden ihre Vertreter in ihre Sendungen ein, um Quote zu bekommen? Wie viele von uns kümmern sich zu wenig darum, was im Mittelmeer und anderswo Schreckliches passiert? Wie viele missbrauchen Flüchtlinge als Projektionsflächen für ihre Ängste und Ärgernisse, wie viele fallen viel zu leicht auf den Missbrauch der Flüchtlinge als Sündenböcke durch zahlreiche Politiker_innen herein? Uns allen muss bewusst sein, dass wir so großes Unrecht begehen, und auch einen künftigen Nährboden schaffen für Menschen wie die NSU-Täter, die sich so aus ihrer Bedeutungslosigkeit hieven wollen.

Jede und jeder von uns trägt eine Verantwortung für alles, was passiert

Diese Verantwortung ist unterschiedlich groß. Ihr gerecht zu werden beginnt damit, sich ihrer bewusst zu werden.

Die wenigsten von uns haben die Möglichkeit, allein Grundlegendes zu beeinflussen oder Schlimmes zu verhindern. Auch Helden sind wir alle nicht. Je mehr aber die biblische Frage: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ mit „Ja“ beantworten, und als „Bruder“ nicht nur den Geschäftskollegen, sondern jeden Menschen sehen, desto weniger Kinder müssen künftig die Ermordung ihres Vaters so betrauern, wie es die Kinder von Mehmet Kubaşık tun müssen.

Kontaktt.galli@galli-riedl.de

Fotos: Header ©Michael Schilling – Gedenktafel für Mehmet Kubaşık vor seinem früheren Kiosk; Denkmal für alle NSU-Todesopfer beim Dortmunder Hauptbahnhof (2013), ©Reclus.

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