Das Massaker von Srebrenica

Genozid in Europa am Ende des 20. Jahrhunderts – Ahndung und Gedenken

Das Massaker von Srebrenica gilt als das schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Circa 8.000 bosnische Moslems wurden bei den Massakern in der Nähe der ostbosnischen Stadt Srebrenica im früheren Jugoslawien ermordet. Auf Grund der Erkenntnisse der UN-Gerichte in Den Haag besteht kein Zweifel daran, dass die Morde systematisch geplant waren und eine ethnische Gruppe vernichtet werden sollte, es sich also gemäß der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (Resolution 266 260 A (III) 1948) um Genozid handelt.

Zerfall eines Staates

Mit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes, den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umbrüchen in den ehemaligen Mitgliedsstaaten des Bündnisses, setzte zu Beginn der 1990er Jahre auch der Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien ein. Auf dessen Staatsgebiet bildeten sich nach 1991 mit Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Kosovo und Mazedonien sieben souveräne Staaten.

Bereits während der 1980er Jahre waren vor dem Hintergrund zunehmender wirtschaftlicher Probleme im gesamten Ostblock auch Zerfallserscheinungen des föderativen Systems in Jugoslawien zu Tage getreten. Ein infrastrukturelles und ökonomisches Entwicklungsgefälle sowie deutliche Unterschiede bei der Verteilung des Wohlstands zwischen den Teilrepubliken hatten bereits seit Gründung des ersten jugoslawischen Staates 1918 bestanden. Diese Kluft vertiefte sich weiter mit Etablierung der sozialistischen Marktwirtschaft ab Mitte der 1960er Jahre und verlief im Wesentlichen zwischen dem vergleichsweise gut entwickelten Norden, hierbei vor allem zwischen Slowenien, Kroatien und Bosnien auf der einen und Serbien mit Montenegro und dem Kosovo auf der anderen Seite.

Die immer stärker hervortretenden Strukturprobleme wuchsen sich in den 1980er Jahren auch in Jugoslawien zur politischen Systemkrise aus, vor deren Hintergrund zunehmend Abspaltungsbestrebungen der wirtschaftlich stärkeren nördlichen Teilrepubliken deutlich wurden. Diese waren immer weniger gewillt, Transferleistungen an die südlichen Teilstaaten, vor allem an Serbien zu leisten, das zu diesem Zeitpunkt in erster Linie aus ökonomischen Gründen auf eine Stärkung der bundesstaatlichen Ebene setzte.

Bis zum Tod Josip Broz Titos (*1892) am 4. Mai 1980, Anführer kommunistischer Partisanen gegen die deutschen und italienischen Besatzer während des Zweiten Weltkrieges und seit 1953 Staatspräsident Jugoslawiens, konnten diese wachsenden Spannungen noch weitgehend unter Kontrolle gehalten werden. Tito, der Jugoslawien mit dem Modell einer sozialistischen Marktwirtschaft und Blockfreiheit auf einen Sonderweg geführt hatte, war zentrale Integrationsfigur des Vielvölkerstaates.

Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Partisanenkampf vor 1945 schwand die politische Legitimationskraft des Befreiungskampfes angesichts der drängenden Wirtschaftsprobleme zusehends, während sich das politische System auf Bundesebene als reformresistent und schwerfällig erwies. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Paktes 1991 wurde schließlich auch der Status der Blockfreiheit bedeutungslos. Der relative Wohlstand sowie die Freiheiten, die das jugoslawische System seinen Bürgerinnen und Bürgern im Vergleich zu den Staaten des ehemaligen Ostblocks gewährt hatte, verloren angesichts steigender Arbeitslosigkeit, zunehmender Verteilungskämpfe zwischen den sechs Teilrepubliken, wachsender Unsicherheit und Orientierungslosigkeit an Bedeutung. Am Vorabend der Jugoslawien-Kriege stand die schwere Krise des politisch-ökonomischen Systems im Zentrum der innerjugoslawischen Spannungen, während nationalistische, ethnische und religiöse Faktoren zunächst kaum ins Gewicht fielen. Zukunftsängste und weitverbreitete Verunsicherung schufen jedoch die Voraussetzungen für eine ethnisch-nationalistische, polarisierende Propaganda und die Instrumentalisierung von wissenschaftlich nicht haltbaren Geschichtsbildern und Mythen.

Nationalistische Radikalisierung

In der Folge setze eine Aufladung der wirtschaftlichen Spannungen zwischen den Teilstaaten ein, die durch eine Vielzahl von Volksbefragungen über die Unabhängigkeit der Teilstaaten befördert wurde, bei denen die ethnische Zugehörigkeit zum alleinigen Abstimmungskriterium erhoben wurde. Die Wahlen von 1990 beschleunigten den staatlichen Zerfallsprozess weiter. In allen Teilrepubliken mit Ausnahme Serbiens gewannen konservativ-bürgerliche Parteien, die eine Unabhängigkeit des jeweiligen Teilstaates anstrebten. In Serbien behauptete sich die kommunistische Partei, die allerdings einen grundlegenden Wandel hin zu stark nationalistischen Positionen vollzogen hatte.

Die „Kroatische Demokratische Gemeinschaft“ (HDZ) unter Franjo Tuđman (1922-1999) trug zur gleichen Zeit durch ihren Wahlkampf, in dem immer häufiger auch Symbole des faschistischen kroatischen Ustascha-Staates im Zweiten Weltkrieg gezeigt wurden, massiv zu einer Verunsicherung der serbischen Minderheit in Kroatien bei. Nach ihrem Sieg novellierte die HDZ-Regierung zudem die kroatische Verfassung, die den serbischen Bevölkerungsteil vom zweiten gleichberechtigten Staatsvolk zur Minderheit herabstufte und ihre Rechte einschränkte. Im Alltag folgten berufliche Diskriminierung und Polizeiwillkür, anti-serbische Agitation und Relativierung der Verbrechen des Ustascha-Regimes während des Zweiten Weltkrieges heizten die Atmosphäre zudem weiter auf.

Bereits 1986 veröffentlichte die serbische Akademie der Wissenschaften ein Memorandum, in dem eine Diskriminierung serbischer Bürgerinnen und Bürger in Jugoslawien behauptet wurde, erstmals von Genozid an der serbischen Nation die Rede war, sowie eine Wiederherstellung der nationalen und kulturellen Integrität des serbischen Volkes gefordert wurde. Zunächst von jugoslawischen und serbischen Politikern durchgängig abgelehnt, wurden die Positionen des Memorandums indes von Slobodan Milošević (1941-2006 Den Haag), ab 14.12.1987 Staatschef der serbischen Teilrepublik, aufgegriffen und in der Folge instrumentalisiert. Ab 1988 wurden in mehreren serbischen Städten von staatlicher Seite Kundgebungen inszeniert, auf denen vermeintlicher „serbischer Volkswille“ mit zunehmender Aggressivität artikuliert wurde. Statt auf eine Beruhigung der Situation hinzuarbeiten, beförderten serbische, aber auch kroatische Politiker nationalistische Emotionen zur Absicherung ihrer jeweiligen Machtstellung.

Bosnien-Krieg 1992-1995

Von einer drohenden Aufteilung Jugoslawiens war die serbische Bevölkerung am stärksten betroffen. Gemäß einer Volkszählung von 1981 lebten in der serbischen Teilrepublik lediglich etwa sechzig Prozent der in Jugoslawien ansässigen Serbinnen und Serben, vierzig Prozent verteilten sich auf die übrigen Republiken, während neunzig Prozent der Sloweninnen und Slowenen und 75 Prozent der Kroatinnen und Kroaten jeweils in ihrer Republik ansässig waren. Die bosnischen Musliminnen und Muslime, die 1981 knapp vierzig Prozent der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas bildeten, mussten um die Integrität der Teilrepublik fürchten, sollte es zu einer Aufteilung des Bundesstaates kommen. Zugleich propagierte die serbische Politik unter Präsident Milošević mit zunehmender Aggressivität die Schaffung eines Großserbien unter Einbeziehung aller Gebiete, in denen Angehörige der serbischen Volksgruppe lebten.

Verhandlungen über eine mögliche Neuordnung Jugoslawiens scheiterten im Laufe des Jahres 1990 an den entgegengesetzten Positionen der führenden politischen Kräfte der Teilrepubliken, nachdem auf Ausgleich bedachte Politiker in zunehmend nationalistisch aufgeheizter Atmosphäre an den Rand gedrängt worden waren.

Die Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens vom 25. Juni 1991 waren Auftakt zu einer militärischen Auseinandersetzung, in deren Verlauf bis 1995 bis zu 100.000 Menschen getötet und etwa zwei Millionen vertrieben wurden. Sämtliche Verhandlungsinitiativen der Europäischen Union (EU) blieben erfolglos. So auch die von vielen Hoffnungen begleitete internationale Jugoslawienkonferenz im September 1991, nach deren Scheitern sich die Regierung der Bundesrepublik Deutschland im Alleingang entschloss, Slowenien und Kroatien völkerrechtlich anzuerkennen. Die anderen EU-Staaten folgten der Entscheidung der rot-grünen bundesdeutschen Regierung nur zögerlich, der Schritt zur Anerkennung wurde von vielen als konfliktverschärfend angesehen. Andere betrachteten ihn als verspätet. Fest steht, dass die bewaffnete Auseinandersetzung durch die völkerrechtliche Sanktionierung der Teilung Jugoslawiens nicht ausgelöst wurde. Tatsache ist auch, dass der serbische Präsident Slobodan Milošević, gestützt auf Ressourcen der ehemaligen jugoslawischen Armee, das Ziel, ein Großserbien mit Waffengewalt zu schaffen, sowohl vor, als auch nach der Anerkennung mit aller Konsequenz durchzusetzen versuchte. Erbediente sich dabeieiner Arbeitsteilung zwischen rest-jugoslawischer Armee und paramilitärischen Verbänden, die ihre Kämpfer aus der serbischen Minderheitsbevölkerung in den abgespaltenen ehemaligen Teilrepubliken rekrutierte. Zentrales Element der Kriegsführung waren ethnische Säuberungen. Allein zwischen August und Dezember 1991 wurden aus serbisch kontrollierten Gebieten Kroatiens circa 80.000 Musliminnen und Muslime sowie Kroatinnen und Kroaten vertrieben. Im November nahmen serbische Einheiten die ostkroatische Stadt Vukovar ein und zerstörten sie größtenteils, hier kam es erstmals zu genozidalen Handlungen.

1992 verlagerte sich der Kriegsschauplatz nach Bosnien. Die Ausmaße der Kämpfe sollten die bisherigen bald in den Schatten stellen. Obgleich es bei Kriegsausbruch keinerlei Anzeichen für eine Bedrohung der in Bosnien lebenden Serbinnen und Serben gegeben hatte, erreichte die serbische Strategie, eine verängstigte Bevölkerung zum Aufstand zu veranlassen und die Aufständischen alsdann durch Einheiten der ehemaligen jugoslawischen Armee unter Heranziehung von paramilitärischen Banden zu unterstützen, in Bosnien grausame Wirklichkeit. Ab April 1992 belagerten die bosnischen Serben Sarajevo, im Mai wurde auf bosnischem Gebiet eine Republika Srpska ausgerufen, zu deren Präsident Radovan Karadžić(*1945) gewählt wurde. Zwar zog sich die rest-jugoslawische Armee offiziell aus bosnischem Territorium zurück, hinterließ den bosnisch-serbischen Kämpfern allerdings ein umfangreiches Waffenarsenal und einen Großteil der militärischen Ausrüstung. Diese Milizionäre bildeten fortan unter dem Kommando von Ratko Mladić (*1942) den militärischen Arm der „Serbischen Republik“. Aufgrund ihrer militärischen Überlegenheit kontrollierten sie ab 1992 zwei Drittel des bosnischen Territoriums. Aus diesen Gebieten vertrieben sie Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen. Erst 1995, nach massiven Kriegsverbrechen, die von bosnisch-serbischen Nationalisten unter maßgeblicher Verantwortung ihres politischen Führers Radovan Karadžić, der militärischen Führung unter Ratko Mladićmit Unterstützung durch die serbische Republik unter Präsident Slobodan Milošević begangen worden waren, kehrte sich die militärische Lage nicht zuletzt durch das Eingreifen der NATO um. Bei der Rückeroberung der serbisch besetzten Gebiete kam es wiederum zu zahlreichen Racheakten und Kriegsverbrechen durch Angehörige der kroatischen und bosnischen Armeen.

In dieser Situation gelang es dem US-amerikanischen Diplomaten und Unterhändler Richard Holbrooke (1941-2010), im Oktober 1995 einen Waffenstillstand zu vermitteln. Auf dieser Grundlage handelten die Konfliktparteien in Dayton (Ohio, USA) einen Teilungsplan aus. Das Dayton-Abkommen wurde am 14. Dezember 1995 in Paris unterzeichnet, in dem sich die Vertragsparteien verpflichteten, den Geflüchteten, Vertriebenen und Deportierten eine Rückkehr zu ermöglichen.

Das Massaker von Srebrenica

Der Begriff der ‚ethnischen Säuberung’ zieht sich wie ein roter Faden durch zahlreiche Darstellungen zu den post-jugoslawischen Kriegen zwischen 1992 und 1995. Alle Kriegsparteien versuchten, im Verlauf der militärischen Auseinandersetzungen, andere Ethnien auszugrenzen und zu vertreiben, wenngleich in unterschiedlicher Härte.

Die Formulierung der ‚ethnischen Säuberung’ deckt aus völkerrechtlicher Perspektive alle Maßnahmen ab, die dazu dienen, eine nationale, ethnische oder religiöse Bevölkerungsgruppe aus einem bestimmten Gebiet zu entfernen, einschließlich historischer und kultureller Zeugnisse, die die Identität dieser Gruppe widerspiegeln und an ihre bisherige Präsenz erinnern. Ziel ist es, ein ethnisch-national oder religiös homogenes (‚gesäubertes’) Territorium zu schaffen. Die Bandbreite der Aktionen reicht hierbei von Stigmatisierung, sozialer Ausgrenzung, Drohung, Einschüchterung, Entrechtung über die Zerstörung der wirtschaftlichen und kulturellen Grundlagen bis hin zu Massenvergewaltigung, Deportation und Völkermord, wobei die entsprechenden Tabubrüche in der Regel stufenweise erfolgen. Genozid stellt gemäß Völkerrecht eine eigene Kategorie dar.

Ethnische Säuberungen haben stets spezifische Voraussetzungen. Massengewalt ereignet sich nicht, sie geschieht nicht als Ausdruck eines spontanen, angeblichen Volkswillens, sie wird vielmehr politisch generiert. Zu ihren Voraussetzungen gehört die Definition eines Feindes sowie seine Entmenschlichung, die Forderung nach Deckungsgleichheit von Ethnie, Nation und Territorium, die Heraufbeschwörung von Ängsten und Bedrohungsszenarien, auch die Inszenierung und propagandistische Instrumentalisierung von gewaltsamen Zwischenfällen. Die Eskalation der Gewalt unterliegt dann oftmals einer Eigendynamik.[1]Diesem Muster folgten auch die Säuberungen und der Genozide im ehemaligen Jugoslawien. Entscheidende Akteure waren hierbei Slobodan Milošević und seine Helfer, die ab Mitte der 1980er Jahre in Folge der politischen Wende hin zum Nationalismus eine Lawine der Gewalt ins Rollen. Sie benutzten hierbei nationalistisch verzerrte Vergangenheitsbilder, die zumeist auf Kriegserinnerungen aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgriffen oder ihren Ursprung in der Kosovo-Schlacht von 1389 hatten. Verzerrte Wirklichkeiten und Opfermythen wurden geschaffen, vermeintliche Ansprüche begründet, Bedrohungsszenarien kreiert, Ängste einer zutiefst verunsicherten Bevölkerung geschürt und in Bahnen einer kollektiven Paranoia gelenkt. Unzureichende Aufarbeitung der Vergangenheit und mangelnde Aufklärung erleichterten die Entstehung und Instrumentalisierung historisch falscher Geschichtsbilder.

Die Ermordung von über 8.000 bosnischen Muslimen nach der serbischen Eroberung der UN-Schutzzone Srebrenica war dabei durchaus nicht das einzige Völkermord-Verbrechen im Verlauf der post-jugoslawischen Kriege. Es wurde jedoch, nicht zuletzt auf Grund der hohen Zahl der Opfer sowie des Umstandes, dass es in einer UN-Schutzzone verübt wurde und ihm umfangreiche internationale mediale Aufmerksamkeit zuteilwurde, zum Synonym für die Genozide während der post-jugoslawischen Kriege.

Nach dem Übergreifen des Bürgerkrieges auf Bosnien-Herzegowina flüchteten zahlreiche bosnische Muslime nach Srebrenica, einer Kleinstadt des Teilstaates. Als bosnisch-serbische Einheiten die Stadt unter Führung ihres Militärchefs Ratko Mladić am 11. Juli 1995 einnahmen, hielten sich dort circa 42.000 Zivilisten, darunter etwa 35.000 Geflüchtete auf. Das Gebiet war zur UNO-Sicherheitszone erklärt worden, in der rund 350 niederländische UN-Soldaten Schutz gewähren sollten. Diese hatten den bosnisch-serbischen Truppen militärisch nichts entgegenzusetzen, sie waren ungenügend ausgerüstet, zudem reichte das UN-Mandat nicht aus, um Sicherheit mit Waffengewalt zu gewährleisten. Mehrere tausend Geflüchtete versuchten, zu Fuß in bosnisch-muslimisch kontrolliertes Territorium zu entkommen. Die überwiegende Mehrheit der Geflüchteten suchte auf der UN-Basis im sechs Kilometer entfernten Dorf Potočari Schutz. Am Abend des 11. Juli drängten sich dort etwa 25.000 Menschen unter katastrophalen hygienischen Bedingungen, darunter zahlreiche Frauen und Kinder.

Nachdem die serbischen Einheiten auch Potočari eingenommen hatten, begannen die Soldaten unter dem Befehl Mladićs‘, Frauen und Männer zu trennen. Die Blauhelm-Soldaten schritten nicht ein. Etwa 8.000 Bosniaken wurden ermordet. Sie wurden an verschiedenen Stellen verscharrt, um die Spuren des Massenmordes zu beseitigen.

Die Ahndung der Verbrechen

Am 25. Mai 1993 wurde mit UN-Resolution 827 der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, ICTY) gemäß Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen in Den Haag eingerichtet. Seine Zuständigkeit erstreckte sich auf Verbrechen, die in den post-jugoslawischen Kriegen ab 1991 begangen wurden. Das letzte Strafverfahren wurde am 29. November 2017 abgeschlossen. In den 24 Jahren seines Bestehens wurde über 4.500 Zeugen vor dem Tribunal gehört, hiervon allein mehr als tausend zu den Massakern von Srebrenica. Der frühere serbische Präsidenten Slobodan Milošević starb im März 2006, bevor ein Urteil hinsichtlich seiner Mitverantwortung für den Genozid gefällt werden konnte. Radovan Karadžić, ehedem Präsident der bosnischen Serben, wurde am 24. März 2016 vom Haager Tribunal aufgrund von Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vierzig Jahren Haft, Ratko Mladić am 22. November 2017 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

In dem 2012 gegen ihn eröffneten Gerichtsverfahren hatte Mladić sich in elf Anklagepunkten wegen Völkermords, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verantworten, darunter das Massaker von Srebrenica mit mehr als 8.000Toten, die mehr als tausend Tage währende Belagerung Sarajevos sowie die Geiselnahme von UN-Soldaten. Die Richter des UN-Tribunals sahen es als erwiesen an, dass Mladić in seiner Position entscheidend für die Durchführung einer „gemeinsamen kriminellen Unternehmung“ war, die zum Ziel hatte, alle Nicht-Serben aus der Republika Srpska zu entfernen.

Bis zur Auflösung des Gerichtshofs am 31. Dezember 2017 wurden insgesamt 161 Personen angeklagt, 84 Personen wurden verurteilt. Zwar wurden Kriegsverbrechen ungeachtet der ethnischen Zugehörigkeit der Beschuldigten verfolgt, die überwiegende Zahl der vor dem Tribunal verhandelten Fälle betraf jedochVerbrechen, die von Serben und bosnischen Serben begangen worden waren.

Der ICTY war der erste von den Vereinten Nationen geschaffene internationale Gerichtshof zur Ahndung von Kriegsverbrechen nach den Nürnberger Prozessen und den Verfahren von Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 24 Jahren seines Bestehens hat der Gerichtshof einen Maßstab geschaffen, eine normative Grundlage internationalen Rechts für die Lösung militärischer Konflikte sowie für den Umgang mit Kriegs- und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelegt. In diesem Zusammenhang hat er auch das Signal ausgesandt, dass militärische und politische Anführer, die Massenverbrechen zu verantworten haben, damit rechnen müssen, vor ein internationales Gericht gestellt zu werden.

Auch der 1994 eingesetzte Internationale Strafgerichtshof für Ruanda war ein so genannterad hoc-Gerichtshof, ein Tribunal, das ausschließlich zur Ahndung in einem konkreten Konflikt begangener, klar definierter Verbrechen etabliert worden war. Nach der offiziellen Einstellung der Arbeit der beiden Gerichtshöfe übernahm der Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court) ICC die Ahndung von Menschenrechtsverletzungen, Genozid, Humanitäts- und Kriegsverbrechen sowie Verstöße gegen die Genfer Konventionen.[2]

Nach Abschluss der Tätigkeit des ICTY wurde ein so genannter Residualmechanismus eingerichtet, der mögliche weitere Verfahren auf geordnetem Wege an die nationale Gerichtsbarkeit überleiten sollte. Bereits seit 2003 hatte der Internationale Strafgerichtshof ICC mit örtlichen Gerichten zusammengearbeitet und einen Beitrag zum Aufbau eines Justizsystems für die Nachkriegszeit geleistet. Wenngleich die Möglichkeiten der Einklagbarkeit von Menschenrechten auf internationaler Ebene weiter verbessert werden müssen, setzten die beiden ad hoc-Tribunale Meilensteine auf dem Weg zu einer verlässlichen internationalen Strafgerichtsbarkeit im Bereich des Völkerrechts. Insgesamt leistete der Internationale Gerichtshof einen wesentlichen Beitrag zur Beendigung von Straflosigkeit der Verbrechen und zur Wahrheitsfindung.

Gedenken an die Opfer und Überlebenden des Massakers von Srebrenica

Internationale Gerichtsbarkeit kann nationale gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit begleiten, aber nicht ersetzen. Die Geschehnisse von Srebrenica sind daher weiterhin Gegenstand politischer Kontroversen und Instrumentalisierung. So weigert sich die Regierung der serbischen Teilrepublik Bosnien und Herzegowinas bis heute, das Massaker von Sebrenica als Genozid anzuerkennen. Eine entsprechende Resolution hatte Großbritannien in den UN-Sicherheitsrat eingebracht. In der Abstimmung über die UN-Resolution im April 2015 legte Russland als einziges Land sein Veto im UN-Sicherheitsrat ein, sie ist somit abgelehnt. Kein serbischer Politiker, ungeachtet der Parteizugehörigkeit, hat bislang den Begriff des Völkermordes verwendet.

2003 wurde in Potočari ein Gedenkfriedhof eingeweiht. Mehrere Tausend Opfer des Massakers sind dort beigesetzt. 2015, zum 20. Jahrestag des Verbrechens, nahm auch der serbische Ministerpräsident, Aleksandar Vučić (*1970), an der Gedenkzeremonie in Srebrenica teil. Vučić, während des Krieges radikaler Nationalist, der damals im serbischen Parlament gedroht hatte, für jeden toten Serben würden hundert Muslime sterben, seit 2017 Präsident Serbiens, reichte zwar die Hand zur Versöhnung, die Wunden sind jedoch viel zu tief. Bis zu einer eventuell möglichen Aussöhnung zwischen den verschiedenen Volksgruppen sind noch zahlreiche Hürden zu überwinden, ein Prozess historischer Auseinandersetzung, der eine Anerkennung des Völkermords und Bereitschaft zu offenem Dialog voraussetzt, steht erst am Anfang.

Autor: Dr. Christian Ritz
Headerbild: ©Faruk Kaymak
Kontakt: info@fritz-bauer-forum.de


 

Anmerkungen

[1] Vgl. Jacques Sémelin, Säubern und Vernichten. Die Politik der Massaker und Völkermorde. Hamburg 2007 mit weiterführender Literatur zur allgemeinen Problematik „ethnischer Säuberungen“.

[2] https://www.icc-cpi.int/.

 

Literatur (Auswahl)

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Marie-Janine Calic, Der Krieg in Bosnien-Herzegovina. Ursachen – Konfliktstrukturen – Internationale Lösungsversuche. Frankfurt am Main 1995.

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Links

http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/209414/das-massaker-von-srebrenica (Eine Zusammenfassung der wichtigsten Fakten zum Massaker von Srebrenica)

http://www.bpb.de/apuz/256927/mythos-tito (Zur Bedeutung Titos für die Entwicklung Jugoslawiens)

http://www.bpb.de/apuz/256927/mythos-tito (Zur staatlichen Auflösung Jugoslawiens)

http://www.jura.uni-koeln.de/sites/strafrecht_kress/Home/Interview_Srebrenica2.pdf (zur UN-Mission im früheren Jugoslawien)

http://www.bpb.de/apuz/256925/erinnerungen-an-ein-untergegangenes-land (Zur Entwicklung nach den Kriegen)

http://www.icty.org/ (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia)

https://www.icc-cpi.int/ (International Criminal Court)

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