Kampf gegen die Straflosigkeit in Chile seit 50 Jahren

Chile liegt an der Westküste Lateinamerikas und hat heute etwas über 18 Millionen Einwohner. Die Zahlenangaben über die Opfer und Überlebenden der chilenischen Militärdiktatur, die 1973 mit einem Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung von Präsident Dr. Salvador Allende an die Macht kam und bis 1990 dauerte, sind unterschiedlich. Es ist inzwischen (2016) von 50.000 politischen Häftlingen, die Haft und Folter überlebten, und von 3.300 Verschwundenen und Hingerichteten auszugehen. Die Zahlen haben sich im Laufe der Jahre immer weiter erhöht. Es gibt kaum eine Familie, die nicht von der Verfolgung während der Militärdiktatur betroffen ist, auch wenn darüber längst nicht in jeder Familie gesprochen wird. Die Wunden sind tief und Chile ist in vieler Hinsicht ein gespaltenes Land, in dem es jedoch immer eine starke Opposition gegen die Verletzung der Menschenrechte gab.

Rettig-Kommission

In Fällen systematischer Verfolgung, die von staatlichen und/oder militärischen Stellen ausgeht, ist die Zahl der Opfer- und Überlebenden, die nach der Beendigung der Gewaltregime von staatlich eingesetzten Untersuchungskommissionen ermittelt werden, meist deutlich geringer als die Zahlen, die unabhängige Nicht-Regierungsorganisationen ermitteln. So auch in Chile, wo laut Rettig-Kommission, einer nach dem Anwalt Raúl Rettig Guissen (1909-2000) benannten Untersuchungskommission, 2.279 Menschen ermordet wurden beziehungsweise verschwanden (957 Desaparecidos). Eine aktualisierte Fassung des Berichts der “Comisión de Verdad y Reconciliación Nacional” kam 1996 zu dem Ergebnis, dass 3.197 Menschen ermordet wurden, darunter 1.102 “Verschwundene” (pdf des Berichts).

Valech-Kommission

Die staatliche “Comisión Nacionál sobre Prisión y Tortura”, eine im Jahr 2001 eingesetzte Wahrheitskommission unter dem Vorsitz des Weihbischofs Sergio Valech Aldunate (auch Valech-Kommission genannt), publizierte am 30. November 2004 einen Bericht über Fälle von Folter und Gräueltaten, die von der Rettig-Kommission nicht untersucht worden waren. Der Bericht ist auf der Webseite der “Comisión Nacionál sobre Prisión y Tortura” nachzulesen. Aufgedeckt wurde, dass Menschen unter dem Verdacht “links” zu sein, von der chilenischen Geheimpolizei gefoltert, verschleppt und ermordet wurden. Es wurde auch nachgewiesen, dass es sich um systematische Folterungen handelte, an denen sämtliche Teilstreitkräfte der Armee und die Sicherheitsorgane, Polizei und Geheimdienste, aktiv beteiligt waren und die über die gesamte Dauer der Militärdiktatur stattfanden (17 Jahre). Der Bericht deckte die ständige Weiterentwicklung systematischer Foltermethoden auf. Es wurden 27.255 politische Gefangene anerkannt, wobei auch hier die Zahl der Opfer um Zehntausende höher sein kann. Fast alle (94%) wurden gefoltert.

Der Bericht enthält zahlreiche Zeugenaussagen von Überlebenden. Eine gekürzte deutsche Ausgabe des Berichts wurde 2008 publiziert: Nationale Kommission von Politischer Haft und Folter (Hrsg.), “Es gibt kein Morgen ohne Gestern”. Vergangenheitsbewältigung in Chile.Hamburg: Hamburger Edition, 2008.

Beatrix Brinkmann, selbst eine Überlebende der Militärdiktatur, fasste die Fortschritte bei der Aufklärung der Verbrechen im Herbst 2005 so zusammen: “Zusammengefasst würde ich sagen, dass die begrenzten Fortschritte hinsichtlich der Aufklärung der Wahrheit bezüglich der Menschenrechtsverletzungen in Chile hauptsächlich dank der Beharrlichkeit der selber davon Betroffenen erreicht worden sind, wobei sie von Menschenrechtsorganisationen unterstützt wurden. Aber auch dank der selbstlosen und ununterbrochenen Arbeit der Anwälte, die die Prozesse in diesem Bereich führten, und in letzter Zeit auch dank einiger ehrbaren Richter, welche die Untersuchung der Verbrechen vorantrieben. Eine entscheidende Rolle hat auch der internationale Druck gespielt, der während der Diktatur äußerst nachdrücklich war, heute allerdings kaum mehr spürbar ist.” (Vgl. http://www.gerechtigkeit-heilt.de/kongress/dokumentation/brinkmann_recht_auf_wahrheit.html, 6.4.2015)

2011: Zahl der Opfer und Überlebenden erhöht sich weiter

Die Zeitung Handelsblatt meldete am 18. August 2011, dass sich die Zahl der Opfer und Überlebenden weiter erhöhte. Eine chilenische Regierungskommission, so das Handelsblatt, habe “die Zahl der Opfer der Militärdiktatur auf 40.018 erhöht. Damit hat das Land offiziell anerkannt, dass weit mehr Menschen als bisher angenommen in der Zeit umgekommen sind.  Chile hat offiziell anerkannt, dass weit mehr Menschen als bisher angenommen zu Opfern der Militärdiktatur im Land geworden sind. Eine Regierungskommission hob die Zahl am Donnerstag auf 40.018 an. Darin sind jene, die gefoltert oder wegen ihrer politischen Einstellung inhaftiert wurden, genau so enthalten, wie die 3.065 Menschen, die von den chilenischen Streitkräften während der Diktator von Augusto Pinochet (1973-1990) getötet wurden oder verschwanden. Die bisherige Zahl von 27.153 überlebenden Opfern der Diktatur, die eine monatliche Entschädigung von der chilenischen Regierung enthalten, wurde durch die neue Untersuchung um 9.800 angehoben.”

2013: Chilenische Richter bekennen sich zu ihrem Versagen

Vierzig Jahre nach dem Putsch der Militärs in Chile im September 1973 bekannten sich erstmals chilenische Richter zu ihrem Versagen während der Militärdiktatur, insbesondere gegenüber den Angehörigen der Verschwundenen. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 5. September 2013, dass die chilenische Richtervereinigung erklärte: “‘Es muss klar gesagt und vollständig anerkannt werden: Das Justizsystem und insbesondere das Oberste Gericht versagten damals in ihrer Rolle als Garanten der grundlegenden Menschenrechte und dabei, diejenigen zu schützen, die Opfer der Misshandlung durch den Staat waren’, teilte die Richtervereinigung mit. Auch ‘die chilenische Gesellschaft’ baten die Richter um Vergebung.”

Die Frage, was solche Entschuldigungen, die Jahrzehnte zu spät kommen, noch bewirken können, bleibt offen. Nur eine Justiz, die die Menschenrechte respektiert und verteidigt, die Straflosigkeit von Verbrechen nicht hinnimmt, kann in Chile zur Überwindung der Wunden beitragen, die von der Militärdiktatur verursacht wurden. Ob sie dauerhaft geheilt werden können, ist fraglich.

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