Kampf gegen die Straflosigkeit seit fast 50 Jahren

Argentinien

Die Republik Argentinien, achtgrößter Staat der Erde und reich an Klima- und Vegetationszonen,  hat eine Einwohnerzahl von rund 43.025.000. Das Land wurde von 1976 bis 1983 von einer rechtsgerichteten, extrem brutalen Militärjunta regiert, die schlimmste Menschenrechtsverletzungen zu verantworten hat. Sie stürzte das Land und Millionen Menschen in kürzester Zeit ins Elend. Unter den Folgewirkungen der neoliberalen Politik leidet ein Großteil der argentinischen Bevölkerung bis heute.

Die Militärs putschten 1976 gegen die Übergangsregierung von Isabel Perón, die für die peronistische Partei die Präsidentschaft innehatte. Ein Putsch gegen „eine Regierung, an der Sie selbst beteiligt und für deren Schamlosigkeit Sie als Vollstrecker der repressiven Politik mit verantwortlich waren“, wie der Schriftsteller und Journalist Rodolfo Walsh am 24. März 1977 in einem offenen Brief an die Junta-Generäle schrieb. Walsh wurde tags darauf von den Militärs ermordet.

Das Militär löste den Kongress auf, die politischen Parteien wurden verboten und die Unabhängigkeit der obersten Gerichtsbarkeit wurde aufgehoben, die Presse zensiert und das Kulturleben gleichgeschaltet. Hunderte geheime Haft- und Folterstätten wurden unter dem Vorwand eingerichtet, „linken Terrorismus“ zu bekämpfen, Tausende mussten ins rettende Exil fliehen, alle Studierenden wurde zu potenziellen Staatsfeinden erklärt. Walsh Brief nach einem Jahr Militärdiktatur dokumentierte den Widerstand und Überlebenskampf von Zehntausenden, die Opfer des Staatsterrors und der kriminellen Todesschwadronen wurden, weil sie sich gegen Unterdrückung und Ausbeutung wehrten, sich für soziale Projekte engagierten.

Dem staatlich sanktionierten Terror fielen mehr als 30.000 Menschen zum Opfer. Viele sind bis heute vermisst, ihre Leichen nicht auffindbar.

Unter den Opfern waren nach Angaben des Magazins DER SPIEGEL auch 74 Deutsche, die Historikerin und Geschäftsführerin der Elisabeth Käsemann Stiftung Dorothee Weitbrecht nennt die Zahl von 102 Personen, die „verschwanden“. Doch im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik (Außenminister war damals Hans-Dietrich Genscher, FDP) galt, wie eine Auswertung der Amtsakten ergab, die Devise, dass „unser Einsatz für die Menschenrechte“ nicht so weit gehen sollte, „dass er zu einer entscheidenden und nachhaltigen Beeinträchtigung des deutsch-argentinischen Verhältnissen führte“ (DER SPIEGEL, 18. Mai 2014). Diese an wirtschaftlichen und Waffenexportgeschäften orientierte Devise herrschte auch auf Seiten des US-Außenministers Henry Kissinger, der der argentinischen Junta 1976 das amerikanische Einverständnis mit einer harten Lösung des angeblichen „Terrorismusproblems“ signalisierte. Wie in Chile so auch in Argentinien war Kissinger bereit, die Menschenrechte zur Stabilisierung antikommunistischer, staatsterroristischer Militärregime zu opfern und “massenhaftes Blutvergießen, Folter und Verschwindenlassen” zu akzeptieren (vgl. Henry Kissinger’s Documented Legacy. A Declassified Dossier on HAK’s Controversial Historical Legacy, on His 100th Birthday, National Security  Archive (NSA)).

Beginn der Ahndung der Staatsverbrechen

Der erste gewählte Präsident nach dem Ende der Militärdiktatur, Raúl Alfonsín (1983-1989), wollte die Verbrechen während der Militärdiktatur ahnden. Er gründete im Dezember 1983 die Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas (CONADEP), die unter dem Vorsitz des Schriftstellers, Malers und Wissenschaftlers Ernesto Sabato (1911-2011) das Schicksal der Verschwundenen aufklären sollte. Die Ergebnisse wurden in Form des Berichts „Nunca Más“ am 20. September 1984 dem Präsidenten übergeben. Während Alfonsíns Amtszeit wurden mehrere Mitglieder der Junta wegen ihrer Mitwirkung am Staatsterror – dem Verschwindenlassen (Desaparecidos), der Folter und Ermordung von Oppositionellen oder Menschen, die als solche deklariert wurden – zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. Auf Druck der Militärs kam die juristische Ahndung jedoch nach kurzer Zeit zum Erliegen. In den 1990er Jahren bemühten sich argentinische Menschenrechtsorganisationen um neue Prozesse in Fällen von Opfern aus europäischen Staaten. In Argentinien begann eine ernsthaftere juristische Auseinandersetzung erst wieder ab etwa 2003.

2009 begann ein Verfahren gegen 16 frühere Militärangehörige wegen 86 Verbrechen gegen die Menschlichkeit, es wurden 150 Zeuginnen und Zeugen angehört, darunter 80 Opfer und Überlebende der Militärdiktatur. Der Marine-Kapitän Alfredo Astiz und 15 weitere Angeklagte wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, 12 der Verurteilten erhielten lebenslängliche Haftstrafen. Entscheidend für das demokratische Argentinien war aber nicht die Höhe der Strafe, sondern dass die Opfern und Überlebenden endlich Gerechtigkeit erlebten. Unter den Ermordeten, deren Geschichte in dem Prozess endlich zur Sprache kam, waren zwei französische Nonnen, mehrere Menschenrechstaktivistinnen und Mitbegründerinnen der „Madres de Plaza de Mayo“ sowie der Schriftsteller R. Walsh.

General Jorge Rafael Videla

General Jorge Rafael Videla, der erste Junta-Präsident (1976-1981), der 1985 in einem der ersten Prozesse zugab, dass während seiner Amtszeit 7.000 bis 8.000 Oppositionelle ermordet wurden, deren Leichen die Militärs verschwinden ließen und ins Meer warfen, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, jedoch bereits 1990 wieder freigelassen. 1998 wurde er aufgrund des Kindesraubes an oppositionellen Frauen – die Kinder wurden zur Adoption gegeben, ihre Mütter ermordet – erneut inhaftiert und anschließend unter Hausarrest gestellt, 2001 abermals verhaftet und wieder unter Hausarrest gestellt. Dieser wurde 2008 aufgehoben und der General in ein Militärgefängnis verlegt. Im Dezember 2010 wurde Videla, mit 14 weiteren Tätern, erneut zu lebenslanger Haft verurteilt. Seit 2011 stand er mit Ex-Militärpräsident R. Bignone wegen des Kindesraubes und der Weitergabe der Kinder an argentinische Militärangehörige erneut vor Gericht und wurde im Juli 2012 zu 50 Jahren Haft verurteilt.

Die „Mütter der Plaza de Mayo“ („Madres de Plaza de Mayo“)

Die „Mütter der Plaza de Mayo“, deren Kinder „verschwanden“, umrundeten – weil Proteste im Stehen verboten waren – seit dem 30. April 1977 jeden Donnerstag den Platz vor dem Präsidentenpalast und forderten Aufklärung der Verbrechen und Bestrafung der Täter. Als Symbol ihres Widerstands trugen sie ein weißes Kopftuch. Aus Angst vor einer Radikalisierung der Opposition wurde ihr Protest von der Militärherrschaft geduldet.

1999 gründeten einige der Kindern der Mütter bzw. Großmütter der Plaza de Mayo die Organisation HIJOS (Hijos por la Identidad y la Justicia contra el Olivido y el Silencio; HIJOS heißt übersetzt „Kinder“). Die Organisation schätzt, dass etwa 500 Kinder von „verschwundenen“ Frauen von den Militärs heimlich zur Adoption gegeben wurden. Bis 2012 gelang es in 105 Fällen, Elternteile oder Familien ausfindig zu machen und zusammenzuführen, die Suche geht weiter. Für die Kinder ist die Konfrontation mit der Wahrheit äußerst schmerzhaft, sind ihre Adoptivväter doch nicht selten selbst unter den Folterern und Mördern ihrer leiblichen Eltern gewesen.

Koalition gegen die Straflosigkeit in Argentinien

Die Koalition gegen die Straflosigkeit wurde 1998 gegründet, um das Schicksal deutscher Staatsangehöriger und von deutschstämmigen Argentinier/-innen zu klären. Den Hintergrund bildete die Verabschiedung zweier Amnestiegesetze in Argentinien, die den Militärs weitgehend Straffreiheit garantierte. Der Koalition unterstützt mit ihrer Arbeit die Familien der „Verschwundenen“ und die argentinischen Menschenrechtsorganisationen.

Es gelang der Koalition, die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth in 34 Fällen von der Notwendigkeit von Ermittlungen und Zeugenverhören zu überzeugen. Die Ermittlungen führten 2001 zu drei Haftbefehlen im Falle der ermordeten Elisabeth Käsemann. Im Januar 2004 wurde als Resultat in den Fällen Elisabeth Käsemann und Klaus Zieschank die Auslieferung von Junta-General Jorge Videla und zweier Militärs beantragt, allerdings stellte die Staatsanwaltschaft in allen anderen Fällen 2003/04 die Ermittlungen ein:

– das Ermittlungsverfahrens gegen den Werksleiter Juan Tasselkraut von Mercedes Benz wegen Beihilfe zum Mord an dem Gewerkschafter Diego Núnez, dessen Privatdresse er an die Militärs weitergegeben hatte,
– das Verfahren hinsichtlich der nicht-deutschen Opfer aus der Völkermordanzeige der Rechtsanwälte Claus Richter und Wolfgang Kaleck,
– das Verfahren hinsichtlich der deutsch-jüdischen Tatopfer, “weil keines der Opfer die deutsche Staatsangehörigkeit besaß.“ Es handelte sich um die Kinder von Flüchtlingen vor dem Nationalsozialismus, denen aufgrund einer Verordnung von 1941 die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt wurde – mithin eine Verlängerung des NS-Unrechts,
– die Verfahren in den restlichen noch offenen Ermittlungsverfahren.

Die „Koalition gegen Straflosigkeit“ veröffentlichte aufgrund der Verfahrenseinstellungen eine Stellungnahme (in Justicia y Verdad, Rundbrief No. 12 / Februar 2005), in der sie die Einstellungsverfügungen kritisierte: „Besonderes Entsetzen löste die Argumentation aus, dass man das Schicksal von ‚Verschwundenen’ nicht genau kenne und deshalb nicht mit vollständiger Sicherheit davon ausgehen könne, dass diese ermordet wurden. Durch den 1984 veröffentlichten Bericht der argentinischen Wahrheitskommission CONADEP, ‚Nunca Más’, ist die Ermordung von 6.000 Personen eindeutig als historische Tatsache nachgewiesen.“

Die Angehörigen der Verschwundenen verfassten zusammen mit Vertreter*innen von kirchlichen und Menschenrechtsorganisationen einen Offenen Brief, in dem sie erklären, dass sie die Absicht, die Fälle von deutsch-argentinischen Verschwundenen nicht weiterzuverfolgen, nicht akzeptieren können. Die deutsche Justiz müsse sich des Grundgesetzes würdig erweisen.

General Jorge Videla und Admiral Emilio Massera (antisemitischer Hardliner unter den Junta-Generälen, der als Oberkommandierender der Marine verantwortlich für das Folterzentrum in der Marineschule Escuela de Mecánica de la Armarda/ESMA war), wurden aufgrund der deutschen Haftbefehle von den argentinischen Behörden festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Den Auslieferungsersuchen kam Argentinien nicht nach.

Urteil wegen der Beteiligung der Militärs am „Plan Cóndor“ (05/2016)

Vierzig Jahre, nachdem die Junta an die Macht kam, deren Geheimdienst Oppositionelle grenzübergreifend verfolgte und dabei mit den Geheimdiensten anderer rechtsgerichteter Diktaturen in Lateinamerika kooperierte, wurden im Mai 2016 Verantwortliche wie der ehemalige Militärpräsident Reynaldo Bignone (1982-1983) zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. General Videla entkam dieser juristischen Ahnung durch das Berufungsgericht, er starb 2013.

Das Berufungsgericht in Buenos Aires verurteilte jedoch 15 ehemalige Militärs, deren Opfer aus Uruguay, Chile, Paraguay, Bolivien und Argentinien kamen. Sie ließen sie verschleppen, foltern und ermorden, im Rahmen des „Plan Cóndor“ („Operation Cóndor“) auch zurück in ihr Geburtsland bringen – wo sie ebenfalls ermordet wurden. Die Operation war 1975 unter Führung des chilenischen Geheimdienstchefs Oberst Manuel Contreras beschlossen worden, um sozialistische und soziale Aktivitäten in Elendsvierteln oder in Gewerkschaften zu verhindern.

Weitere juristische Ahndung und historische Forschung

Eine Erfolgsgeschichte kann weder die historische Auseinandersetzung noch die juristische Ahndung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Argentinien genannt werden. Die Anstrengungen hierfür werden noch Jahre weitergehen und müssen unterstützt werden. Wobei Überlebende und Angehörige zusammen mit argentinischen Menschenrechtsorganisationen die Hauptlast tragen. Sie bekommen Unterstützung von der internationalen Zivilgesellschaft, von NGOs und politischen Akteur*innen.

Eine wunder Punkt ist, dass nachdem die Regierung von Néstor Kirchner 2005 die Amnestiegesetze aufgehoben hat und damit Gerichtsverfahren gegen die für die Verbrechen verantwortlichen Militärs und Polizisten, auch Richter und Ärzte, ermöglichte (nach Angabe des Rechtsanwalts Wolfgang Kaleck gegen an die 600 Personen, DIE ZEIT, 3. Dezember 2015), die Beteiligung von großen Konzernen wie Mercedes Benz weiterhin ungeahndet geblieben ist. Somit blieb auch die gezielte Ausschaltung der organisierten Arbeiterbewegung und das gewaltsame Verschwindenlassen von Gewerkschafter*innen und Betriebsrät*innen eine offene Wunde.

Gleiches gilt für die Aufklärung der Geschichte der Kinder von Opfern und Widerstandskämpfer*innen gegen die Militärdiktatur, die zur Adoption an Anhänger*innen der Militärdiktatur gegeben wurden. Erst in jüngerer Zeit werden die Hintergründe ihres Schicksals offen angesprochen und für manche von ihnen ist die (öffentliche) Aufdeckung ihres Schicksals so schmerzhaft, dass sie die eigenen Eltern oder Großeltern lieber nicht kennenlernen möchten.

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