Seenotrettung ist kein Verbrechen

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06.09.2018

Seenotrettung ist kein Verbrechen
Ich bin sicher, es wird irgendwann in ein paar Jahren Urteile von Menschenrechtsgerichtshöfen geben, die uns Recht geben, aber in der Zwischenzeit ertrinken die Menschen trotzdem.“

Markus von „Mission Lifeline“

 

Von Aaron Collette und Daniela Collette (Bochum)

Einfach mal hingehen und „Hallo“ sagen geht nicht… Nachdem wir einen halben Tag zu Fuß und per Fähre die Häfen Maltas um Sliema, La Valetta und The Three Citys abgeklappert haben, haben wir endlich das Schiff „Lifeline“ der Seenotrettungs-Organisation „Mission Lifeline“ gefunden. Hinter einem Zaun liegt das Schiff, das neben einem riesigen Industrieschiff geradezu winzig erscheint, bewacht durch die Hafenpolizei Maltas. Herangehen dürfen wir nicht. Letztlich kommt der Maschinist der „Lifeline“ auf uns zu und wir tauschen Email-Adressen aus. Mit Hilfe der Crew gelingt es uns dann, für den Folgetag eine offizielle Besuchsgenehmigung zu erlangen.

Einige Tage später haben wir einen Termin mit Tamino von „Seawatch“ auf dem Schiff „Seawatch 3“. Auch dieser Besuch war nur nach Beantragung einer offiziellen Besuchserlaubnis bei den Behörden in Malta möglich, was auch hier die Crew der „Seawatch 3“ freundlicherweise für uns geregelt hat.

Neben den Interviews hatten wir die Möglichkeit, die Schiffe zu besichtigen. Hierbei wurden uns auch die Rettungsabläufe erörtert. So erfuhren wir, dass einem großen Teil der Geflüchteten nach der Rettung zunächst der Kreislauf wegbricht, sobald das Adrenalin abflutet, dass die häufigsten Verletzungen der Geflüchteten teilweise schwere Verätzungen im Bereich des Unterleibes sind, die durch ein toxisches Gemisch aus Benzin, Salzwasser und Exkrementen entsteht, was in den Booten schwimmt. Auch auf die besondere Situation von geflüchteten Frauen, die auf der Flucht nahezu immer Opfer von Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt werden und daher nach der Rettung einen besonderen Schutzraum – getrennt von den Männern – benötigen, wird eingegangen. Selbst eine kleine Krankenstation ist auf der „Seawatch 3“ vorhanden. Auch die kleinere „Lifeline“ verfügt über einen medizinischen Behandlungsraum. Beeindruckend, was auf dem beengten Raum eines Schiffes alles möglich gemacht wird.

Die Crew-Mitglieder selbst arbeiten sämtlich ehrenamtlich, zum Teil sogar in Vollzeit. Wir lernten auf den Schiffen auch Menschen kennen, die ihre Firmen bis zum Existenzminimum zurückgefahren haben, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten.

Zum Zeitpunkt der Interviews rettet das Schiff „Aquarius“ von „SOS Mediteranée“ und „Ärzte ohne Grenzen“ 141 Menschen aus Seenot und musste anschließend tagelang im Mittelmeer irren, bis letztlich Malta den Hafen in La Valetta freigab. Die Menschen auf dem Schiff waren zum Teil schwer traumarisiert und berichteten über Folter und unmenschliche Bedingungen in den libyschen Lagern. Die von den Ärzt_innen der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ festgestellten Verletzungen der Menschen sprechen für Verletzungen durch Folter und Misshandlung.

„Mission Lifeline“ ist ursprünglich aus einer Organisation, die Geflüchtete auf der Balkanroute unterstützt. Was habt Ihr dort konkret gemacht?

M: Das war der Dresden-Balkan-Konvoi. Nico war damals sogar dabei. Das war nicht die Lifeline-Gründung, aber es waren die gleichen Leute, die das an den Start gebracht haben.

N: Am 1. April 2016 bin ich mit dem Dresden-Balkan-Konvoi nach Idomeni (Griechenland) gekommen und dort sind wir 2015 / 2016 mit Wohnwagen über die Balkan-Route gefahren und haben an verschiedenen Orten Tee-Zelte organisiert. Wir hatten uns gedacht, die arabischen Menschen kommen gerne bei Tee zusammen und wir können ihnen dann so helfen. Wir haben dann am Anfang mit einer Gulaschkanone Tee gekocht, sind in die Camps gefahren und haben Tee verteilt. Schlussendlich sind wir dann in Idomeni an der Grenze zu Mazedonien gelandet und haben mit einer weiteren Organisation ein großes Tee-Zelt errichtet, wo wir in drei Schichten 20 Stunden am Tag Tee ausgeschenkt haben. Das wurde dann ein zentraler Treffpunkt im Camp, da die Leute abends mit ihren Kannen Tee abgeholt haben, um dann mit ihrer Familie beisammen sitzen zu können. Natürlich haben wir dann auch mit den Leuten geredet und die haben bei uns im Tee-Zelt mitgearbeitet, so dass es zunehmend ein Gemeinschaftsprojekt wurde. Als ich dann im April runter gefahren bin, hatte ich schon gehört, dass einige Leute der Organisation ein Schiff chartern wollen, daraus hat sich dann letztlich „Mission Lifeline“ ergeben. Im Mai 2016 wurde das Camp geräumt, wir haben dann noch bis Sommer geholfen. Dann haben wir nicht mehr genug Leute gefunden, die dort hinfahren wollten. Den Dresden-Balkan-Konvoi gibt es in dieser Form  leider nicht mehr, es sind wohl noch vereinzelt Leute in zum Beispiel Italien unterwegs, um in „wilden Camps“ Duschen einzurichten.

 

Dann habt Ihr 2016 das Schiff „Seawatch 2“ von Seawatch gekauft und es in „Lifeline“ umbenannt. Warum habt Ihr Euch zu dieser ganz anderen Art der Hilfe entschlossen? Vom Tee-Zelt zum Schiff ist doch auch ein logistisch großer Unterschied…

M: Das lag schlicht und ergreifend an der Notwendigkeit. Obwohl es schon relativ viele NGO mit ihren Schiffen gab, waren es in der SAR-Zone(1) viel zu wenige, um eine anständige Präsenz aufrecht zu erhalten. Das hat man dann mitbekommen und hat aufgrund des tatsächlichen Massensterbens diese Entscheidung getroffen.

 

Wo genau liegt die SAR-Zone?

M: Das ist außerhalb des libyschen Grenzgebietes. Es gibt die 12 Meilen Zone, das sind 12 Seemeilen von der Küste ab, das ist territoriales Gewässer. Hier werden alle Hoheitsrechte von diesem Land ausgeübt. Dann gibt es die 24 Meilen Zone, das ist die sogenannte  Anschlusszone, da kann der Staat gewisse Kontrollrechte ausüben, aber es ist kein Territorialgebiet mehr. Der Staat hat das Recht, dort Zollkontrollen durchzuführen, um den Grenzschutz in der 12 Meilen Zone zu gewährleisten. Außerhalb der 24 Meilen Zone sind es dann internationale Gewässer, wo kein Staat mehr besondere Rechte hat.

Früher war es so, dass man relativ eng an der 12 Meilen Zone gefahren ist, um dort nach Flüchtlingsbooten zu suchen. Aber durch den zwischenzeitlichen Aufbau der libyschen Küstenwache und massiven Aggressionen, die zwischenzeitlich von denen ausgingen – es wurde ja auch auf NGO-Schiffe geschossen, die “Seawatch” wurde fast mal gerammt, war es zuletzt so, dass eigentlich alle außerhalb der 24 Meilen Zone operiert haben, was etwa 45 km entspricht. Man ist nur in diese 24 Meilen Zone eingefahren, wenn man einen konkreten Auftrag vom MRCC(2) erhalten hat. Zum Beispiel: „Wir haben eine Sichtung von einem Rubber Boat durch ein Aufklärungsflugzeug“. Und wenn dann ein NGO Schiff am nächsten war, bekam es den Auftrag, diese Leute zu retten.

 

„Seawatch“ operiert seit 2015. Was waren Eure Ziele?

T: Wir operieren seit Juno 2015, gegründet haben wir uns 2014, nachdem Mare Nostrum(3) – die Marine-Seenotrettungsorganisation – eingestellt worden ist. Zumal es im Frühjahr 2015 zu extrem großen Schiffsunglücken kam. Die Idee hinter Sea-Watch – deshalb auch der Name – war ursprünglich, zu beobachten, wie Seenotrettung von staatlicher / offizieller Seite vor sich ging. Dann gab es immer weniger staatliche Seenotrettung, so dass wir dann immer mehr selbst gerettet haben. Unser erstes Schiff (die „Seawatch 1“, Red.) mit 8 Personen Besatzung war ein nur 23 m langer Fischkutter, das ist kein Rettungsschiff – im Gegensatz zu dem, was wir heute betreiben. Seit 2016 sind wir hier auf Malta, ursprünglich noch mit der „Seawatch 2“ (heute das Schiff „Lifeline“, Red.). Die „Seawatch 3“, mit der wir seit 2017 operieren, ist dafür ausgelegt, professionelle Seenotrettung durchzuführen und die Leute auch in einen sicheren Hafen zu bringen. Das hat sich in den letzten Jahren politisch so geändert, dass wir uns operationell anpassen mussten.

 

Mare Nostrum(3) hat in dem einen Jahr des Bestehens 150 000 Menschen gerettet, allerdings auch als große professionelle Militäroperation mit vielen Schiffen etc., wieviele Menschen habt Ihr gerettet?

T: Wir haben zusammen mit der Ägäis-Mission 2015 / 2016 über 35 000 Menschen gerettet.

M: Mare Nostrum hatte ganz andere Möglichkeiten. Es war ja eine Operation der italienischen Marine und Küstenwache, die haben mit anderen Mitteln und Infrastrukturen gearbeitet. Als dann Mare Nostrum offiziell beendet war und das mit den NGOs angefangen hat wie „Seewatch“, „Sea-Eye“, irgendwann mal „Mission Lifeline“ und den vielen anderen Organisationen auch aus anderen Ländern, die es ja zwischenzeitlich gab und zum Teil immer noch gibt, hat man ja immer sehr eng mit den Italienern zusammengearbeitet. Zum einen war da die Leitzentrale in Rom und zum anderen die Küstenwache und die Marine und dann gab es noch die verschiedenen Missionen wie die Operation Sophia3 und die Operation Triton3. Das waren ja im Prinzip dieselben Leute wie vorher Mare Nostrum, die waren ja weiterhin vor Ort, nur ohne diese große Seenotrettungsmission. Die italienische Küstenwache hat immer viel gemacht, die waren weiterhin in diesem Seegebiet vor Ort und haben uns massiv unterstützt und geholfen und mit denen hat man Hand in Hand zusammengearbeitet.

Ohne diese Kooperation hätte keine der NGOs ihre Arbeit leisten können. Am Anfang habe die NGO eine Art „First Responder“ Tätigkeit ausgeführt, also man hat dafür gesorgt, dass die Leute nicht ertrinken, also Schlauchboote stabilisiert, Rettungswesten verteilt, medizinische Notfälle geborgen und zum Teil auch Frauen mit Kindern. In der Regel war es dann so, dass von der Leitstelle in Rom größere Schiffe geschickt wurden, um die Leute dann aufzunehmen und nach Italien zu bringen. Das waren dann meist Schiffe der italienischen Marine oder Küstenwache. Und wenn es dann Tage waren, wo sehr, sehr viel los war, wo sehr viele Menschen auf dem Wasser waren, waren die auch immer mit vor Ort und das mit viel größeren und besseren Schiffen als zum Beispiel „Seawatch“ sie hat. Ohne die wäre das alles nicht möglich gewesen. Durch die enge Zusammenarbeit haben aber auch wir die bei ihrer Arbeit unterstützt.

Es ist so, wenn man losfährt, zum Beispiel Malta verlässt, meldet man sich bei der Leitstelle in Rom an: „Alles klar, wir fahren los und sind in circa 20 Stunden im SAR Gebiet und planen da und dahin zu fahren“. Alle drei Stunden gibt es ein Update an die Leitstelle mit den aktuellen Koordinaten und Kurs. Man wurde in die Operationen sehr gut eingebettet.

Diese Zusammenarbeit wurde immer mehr zurückgefahren von italienischer Seite. Wir konnten merken, dass die Leute von der zentralen Leitstelle, von der Küstenwache und von der Marine mehr und mehr von offizieller Seite angehalten wurden, nicht mehr mit uns zusammenzuarbeiten, wie es vorher normal war.

 

Ist das richtig, dass seit einiger Zeit nicht mehr „umgeschifft“ werden darf, also Gerettete von einem kleineren Boot auf ein größeres  bringen?

M: Das war im Prinzip das erste richtig harte Druckmittel, dass angewendet wurde. 2017 wurde in Italien der Code of Conduct(4) aufgesetzt und auf die NGOs wurde Druck ausgeübt, dass diese den unterzeichnen. Hier stehen viele selbstverständliche Dinge drin, aber auch einige weniger verständliche. Im Zuge dessen wurde dann festgesetzt, dass wer Menschen aufnimmt, diese dann auch zu einem sicheren Hafen bringen muss. Es ist nur so, dass viele Schiffe der NGOs nicht wirklich für den Transport von großen Menschenmengen geeignet sind. Also wenn hier auf der Lifeline 200 Leute sind, die nicht unter Deck können, sondern auf Deck bleiben müssen und es dann noch zu schlechtem Wetter kommt mit mehr als drei Meter hohen Wellen, ist es offensichtlich, dass wir diese nicht 30 bis 40 Stunden transportieren können.

Und das andere ist: wir machen so eine Mission ausschließlich mit Freiwilligen, wir machen das alle unentgeltlich. Daher müssen wir beim Crew-Wechsel halbwegs die Zeiten einhalten, weil sonst wird es für die Freiwilligen und deren Jobs richtig, richtig schwierig.

Wenn wir von Malta losfahren, braucht es 20 Stunden bis wir im Einsatzgebiet sind, je nach Ziel und Wetter. Dann sind zum Teil nur sehr, sehr wenige Menschen auf einem Boot, beispielsweise 7, und man fährt dann mit diesen 7 Menschen zum Beispiel nach Sizilien und dann ist das Rettungsboot für diese Mission quasi stillgelegt. Bis die dann ausgeschifft sind und Zollformalitäten beendet sind, dauert es auch 2 bis 4 Tage und  dann ist man gezwungen wieder nach Malta zu fahren, um auf die neue Crew zu warten, da man keine Zeit mehr hat, erneut ins SAR Gebiet zu fahren.

Das war so der erste Weg, dafür zu sorgen, dass weniger Schiffe im Einsatzgebiet sind.

 

Aber nicht jede NGO hat den Code of Conduct unterschrieben.

M: Ich glaube ja. „Ärzte ohne Grenzen“ hat den wohl nicht unterzeichnet.

 

Hatte das Konsequenzen?

M: Nein, ich denke nicht. Die die unterschrieben haben, sind nicht besser behandelt worden. So wie ich das beurteile, war das in erster Linie ein rein populistisches Mittel, um sich selber darzustellen, schaut mal, wir wollen den NGOs Regeln aufzwingen. Bei 90 Prozent der Dinge, die da drin standen gäbe es vorher schon Vereinbarungen, wo dasselbe drin stand. Und dann stand da eben noch ein bisschen Quatsch drin, wie eben das selber in einen sicheren Hafen fahren und das wir bewaffnete Polizisten mit an Bord nehmen müssen… Das sind aber alles Sachen, die nie umgesetzt wurden. Das war eher Propaganda, als das man wirklich das Operationsgebaren der NGOs verändern wollte.

 

Ihr habt ja auch den Code of Conduct unterzeichnen müssen. Was bedeutet das für Euch? Schränkt Euch das in Eurer Arbeit ein?

T: Ich glaube nicht, weil wir eine Version des Code of Conduct unterzeichnet haben, die wir mit dem italienischen Innenministerium nachverhandelt haben und da haben wir zum einen alle Passagen rausgestrichen, die Seerecht oder internationalem Recht widersprechen würden und zum anderen weite Teile des Code of Conduct Dinge beinhaltet, die sowieso vorher schon operativ umgesetzt worden sind. Hinzu kommen Rechtseinschätzungen, das dieser Code of Conduct für uns rechtlich nicht verbindlich ist, obwohl er vom italienischen Innenministerium und uns unterschrieben wurde. Ich habe jetzt spontan keine Situation im Kopf, wo der Code of Conduct uns in irgendeiner Situation eingeschränkt hat und würde jetzt sagen, das war ein Wahlkampfinstrument des damaligen Innenministeriums vor den Parlamentswahlen.

 

Warum überlasst ihr die Seenotrettung nicht einfach weiterhin der Küstenwache und der Marine also Frontex?

M: Weil FRONTEX es nicht macht! Schlicht und ergreifend!

T: FRONTEX ist leider nicht dafür da, Seenotrettung zu betreiben! FRONTEX ist eine Grenzschutz-Agentur, die dazu da ist, sich darum zu kümmern, dass möglichst viele Leute NICHT kommen können. Sie sind auch von ihrem Operationsgebiet so ausgelegt, dass sie nicht dort sind, wo Menschen in Seenot geraten. FRONTEX ist keine Seenotrettungsmission! Es gibt keine europäische oder sonstige staatliche Seenotrettungsorganisation, die sich um dieses Problem kümmert, und deshalb braucht es NGOs, um dies zu tun.

 

Wofür ist dann FRONTEX da?

M: Die sind dafür da, die EU-Grenzen zu sichern und nicht Seenotrettung zu betreiben. Die Frontex-Schiffe haben sich beginnend Ende 2016 aus diesem SAR Gebiet weitgehend zurückgezogen. So ist die Operation Sophia mittlerweile nahezu ganz ausgesetzt. Also die bewegen sich an den europäischen Grenzen (also 12/24 Meilen Zone von Lampedusa oder Malta aus gesehen). Und wenn man die Flüchtlingsboote sieht, sind die gar nicht in der Lage, die Strecke bis dahin zu bewältigen. Dementsprechend kommt FRONTEX gar nicht mehr in die Verlegenheit, Menschen retten zu müssen.

Ich gehe mal davon aus, dass auch die FRONTEX-Besatzung niemanden ertrinken lassen würde, wenn das direkt vor deren Nase passiert, das wäre auch ein Verstoß gegen internationales Seerecht. Aber die Strategie ist ganz klar, so weit weg zu bleiben, dass man gar nicht mehr in die Verlegenheit kommt, die Menschen retten zu müssen. Jeder europäische Seemann / jeder Kapitän würde sich strafbar machen, wenn er / sie Leute in Seenot nicht retten würde. Und die Leute ertrinken auf dem Weg nach Europa.

 

Warum gibt es so viele NGOs? Warum schließt man sich nicht zu einer großen Organisation zusammen?

T: Wir sind zwar nicht zu einer Organisation zusammengeschlossen, koordinieren aber unsere Arbeit ganz viel untereinander. Zum einen auf See, aber auch im Europaparlament oder durch gemeinsame Medienarbeit. Wir sind auch logistisch hier in Malta vernetzt. Also da besteht ganz viel Austausch.

M: Das hat zum einen organisatorische Gründe, die sind ja auch aus verschiedenen Ländern. Da haben viele den Bedarf gesehen, Organisationen aufgebaut, Geld gesammelt und Schiffe gekauft usw. Und es ja auch so, dass verschiedene NGOs verschiedene Arbeiten machen. Zum Beispiel ist das Schiff „Aquarius“ auf dem Schiff in der Lage, richtige medizinische Betreuung zu leisten. Das Schiff ist auch entsprechend groß und kann viele Leute transportieren. „Lifeline“ im Vergleich ist sicher nicht das kleinste Schiff, das operiert und  hat ein super Rettungsteam an Bord, aber die Organisation ist sicher nicht in der Lage das auf die Beine zu stellen wie die „Aquarius“(6). Man braucht aber beides vor Ort. Das alles unter einen Hut zu bringen… Da bräuchte man Jahre… Auf dem Wasser arbeiten wir Hand in Hand zusammen und auch auf dem Land gibt es immer mehr Vernetzung. Man spricht sich untereinander ab, wer fährt wohin und bei entsprechenden Fällen unterstützt man sich so gut es geht.

Es gibt auch ganz viele Leute unter den Crews, die mal unter dieser Organisation und mal unter jener Organisation fahren, man tauscht sich aus, man lernt voneinander und kooperiert miteinander.

 

Ist es nicht so, dass wenn gegen einer Schiff einer NGO, zum Beispiel wegen Verstoßes gegen den Code of Conduct ermittelt wird, alle Schiffe dieser Organisation still gelegt werden?

M: Das ist sicher auch ein Grund für die breitere Aufstellung. Wir haben die Hoffnung, dass man nicht alle gleichzeitig aufhalten kann. So kann z.B. „Open Arms“ noch weiter operieren und die „Aquarius“(6) operiert auch gerade auf dem Mittelmeer.

T: Wenn gegen die Organisation ermittelt wird, kann man das wahrscheinlich so machen. Aber was ja im Moment passiert ist, dass wir hier festgehalten werden, obwohl gegen uns weder ermittelt wird noch irgendwas vorgefallen ist. Hinter vorgehaltener Hand wird kommuniziert, dass wir hier festgehalten werden, bis das Verfahren gegen „Mission Lifeline“ abgeschlossen ist. Und das ist nicht nur ein anderes Schiff, sondern auch eine andere Organisation, mit der wir rein juristisch überhaupt nichts zu tun haben.

 

Ihr könnt es wahrscheinlich nicht mehr hören… Was sagt Ihr zu dem leider weit verbreiteten Vorwurf der Schleppereiunterstützung?

M: Das ist natürlich alles völliger Quatsch und lässt sich auch widerlegen. Es gibt ja sogar die Behauptung, wir würden Geld von denen kriegen. Ich persönlich kenne viele Leute bei „Lifeline“, „Seawatch“ und „Sea-Eye“ und lege meine Hand ins Feuer, dass da niemand auch nur einen Cent angenommen hat. Wir sind ehrenamtliche Crews. Bis zu der aktuellen Situation, dass wir hier festgesetzt wurden, hatte „Mission Lifeline“ immer das Problem, das kein Geld da war. So wurde das Schiff im Winter von einer Volunteer-Crew komplett auseinander gelegt und gewartet. Das waren alles Leute, die monatelang ohne einen Cent gearbeitet haben. Es steckt wahnsinnig viel Herzblut drin.

Jetzt sind die Spendengelder durch die aktuelle politische Diskussion, durch die Beschlagnahmung und die damit verbundene Aufmerksamkeit nach oben gegangen… Aber als wir noch gefahren sind, hat es an allen Ecken und Enden an Geld gemangelt. Und die Finanzierung ist komplett über den Verein (Lifeline e.V.) gelaufen, so dass es auch nachvollziehbar ist, dass wir kein Geld von Schleppern erhalten haben.

Hinzu kommt das Einsatzgebaren. Wir bewegen uns in internationalen Gewässern und das Seerecht legt die Verpflichtung zur Rettung klar fest. Auch von Seiten der Marine wird bestätigt, dass nahezu jedes Boot, das in Libyen losfährt, IMMER in Seenot ist, weil sie überladen sind, nicht manövrierfähig sind, keinen Motor haben, keine Crew haben und von der Bauart gar nicht für das offene Meer geeignet sind, unabhängig ob es Schlauchboote oder Holzboote sind. Das denken wir uns ja nicht aus. Das wurde auch von deutschen Admiralitäten, von der italienischen Küstenwache oder der Marine so bestätigt. Wenn ein solches Boot gesehen wird, muss es sofort unterstützt werden, weil es in Seenot ist. Und das ist im Seerecht so vorgesehen. Wir tun nix davon und haben es noch nie getan, ohne Absprache mit der Leitstelle in Rom. Zu den Zeiten, wo wir in diesem Seegebiet operiert haben, gab es keine MRCC in Libyen, weil Libyen dazu auch gar nicht in der Lage ist. Es gibt ja keine staatlichen Strukturen in Libyen. Deshalb hat Italien diese Aufgabe übernommen. Alle Operationen und Rettungen in diese Gebiet wäre immer in Absprache mit der Leitstelle in Rom. Wenn man ein solches Schlauchboot findet, ist neben der ersten Stabilisierung dieses Bootes das erste was man macht, die Leitstelle per Funk oder Satellitentelefon zu verständigen.

So war es immer und es ist auch von Seiten der Leitstelle nie was anderes behauptet worden, es gibt diesbezüglich auch offizielle Statements oder Dokumentationen unserer Einsätze, die teilweise auch veröffentliche wurden. Der Vorwurf kam dann letztlich von Salvinis Seite per Twitter und ist nichts als Populismus.

Das einzige, was wir machen, ist uns auf internationales Recht zu berufen: Wir rufen die zuständige Leitstelle an und teilen mit „hier ist ein Seenotfall“. Dann kommt der Auftrag, die Leute abzubergen und ein sicherer Hafen wird zugewiesen bzw. Es kommt ein größeres Schiff, um die Menschen zu übernehmen. Wir arbeiten dann auf Anweisung.

T: Wir arbeiten mit Schleppern nicht zusammen, sondern wir arbeiten mit den relevanten Behörden zusammen. Wir retten Leute aus Seenot, und das unabhängig von Nationalität, Glaube oder sonst irgendwas, so wie es auch im Seerecht verlangt ist. Das ist vielen Leuten nicht bewusst. Wir retten in Absprache mit den Seenotrettungsleitstellen, die uns anweisen, zu retten und auch zu welchem sicheren Hafen wir die Leute zu bringen haben. Das ist auch auf keinem Fall so, dass wir uns das irgendwie selber aussuchen können. Wie sollten wir mit Schleppern zusammenarbeiten, wie sollte das möglich sein?

 

Was ist mit dem Vorwurf, Ihr würdet über Lichtsignale mit Schleppern an der libyschen Küste kommunizieren?

M: Man kann relativ einfach ausrechnen unter Berücksichtigung der Erdkrümmung, wie weit man ein Lichtsignal sehen kann. Lichtsignale sind nicht 24 Meilen weit zu sehen. Wir suchen die Boote mit dem Fernglas und Radar, wobei die oft so klein sind, dass die unserem Radar entgehen. Nachts fahren wir meistens eher noch etwas weiter von der 24 Meilen Zone weg. Dieser Vorwurf ist physikalisch einfach unmöglich.

T: Ja da gibt es diese Lichtsignal-Sache, die steht auch im Code of Conduct. Das kommt auch klar aus dieser rechtspopulistischen Argumentation. Wir würden Lichtsignale setzen und dann würden Leute zu uns fahren, um gerettet zu werden. Das ist Schmarrn, da Lichtsignale von unserem Schiff gar nicht in Libyen ankommen würden aufgrund der Erdkrümmung.

Während einer Rettungsoperation dürfen wir soviel Lichtsignale setzen, wie wir wollen. Im Seerecht werden explizit Lichtsignale als Einsatzmittel genannt. Und das ist auch einer der Punkte, wo der Code of Conduct internationalem Seerecht widerspricht. Das haben wir auch raus streichen lassen, weil es bei einer Rettung bei Nacht immens wichtig ist, dass wir Suchscheinwerfer einsetzen, um überhaupt die Leute zu finden, die wir retten sollen. Also wenn wir einen Auftrag bekommen vom MRCC Rom mit einer bestimmten Position, dann bewegt sich ja auch das Flüchtlingsboot in der Zeit noch weiter, sei es dass die noch einen funktionierenden Motor haben oder dass Wind und Welle das Boot weitertreiben. Also wenn wir an den angegebenen Koordinaten ankommen, ist das Target, wie wir es nennen, nicht mehr genau dort, und für die Suche müssen wir Suchscheinwerfer anmachen.

 

Jetzt habt Ihr Menschen gerettet und die sind bei Euch an Bord. Wie geht es weiter?

T: Während des kompletten Rettungseinsatz sind wir permanent in Kontakt über zum Beispiel Funktelefon und Email mit den Leitstellen. Wir melden, wieviele Menschen wir aufgenommen haben und geben Informationen, zum Beispiel, wieviele Frauen, wieviele Männer, wieviele Kinder oder Schwangere, gibt es medizinische Notfälle, damit sich auch die Behörden darauf einstellen können. Die Leitstelle ist dann verpflichtet, uns einen sicheren Hafen zuzuweisen. Wenn wir den bekommen, fahren wir dahin und koordinieren auch mit der Leitstelle unsere Ankunftszeit.

 

Und wenn der zugewiesene sichere Hafen in Libyen ist?

T: Nach Seerecht gibt es keine sicheren Häfen in Libyen! Das gleiche gilt auch für Tunesien! Oft wird uns ja vorgeworfen, wir würden die Leute eben nicht nach Seerecht in den nächsten sicheren Hafen bringen, daher kommt auch dieser Schleppervorwurf, wir seien ein Shuttle-Service nach Europa. Das ist alles so nicht richtig. Es gibt keinen sicheren Hafen in Libyen nach Seerecht und das schließt schon aus, dass wir nach Libyen fahren können.

Nach Seerecht gibt es für manche Leute einen sicheren Hafen in Tunesien. Das Seerecht guckt sich schon an, wen wir da retten. Wenn wir jetzt deutsche Segler vor Tunesien retten, dann können wir die nach Djerba retten, weil die dann abends in ein Hotel gehen können und dann ihren Flug nach Deutschland antreten können. Wir haben aber Leute an Bord, die uns gegenüber sagen, dass sie Asyl beantragen wollen und dann greift nicht nur Seerecht, in dem Fall ist es SOLASR(7), sondern dann greift auch die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und nach § 33 der GFK dürfen wir Leute nirgendwo hinbringen, wo sie das nicht tun können und auch nicht dahin hinbringen, wo sie herkommen, in dem Fall Libyen. In diesem Fall würde auch Tunesien als sicherer Hafen rausfallen, weil es in Tunesien kein Asylsystem gibt, das heißt diese Leute können in Tunesien kein Asyl beantragen und somit dürfen wir sie dort nicht hinbringen.

Noch weiter gedacht: Wenn wir ca. 100 Leute an Bord haben, können wir nicht prüfen, warum sie Asyl beantragen wollen. Dafür haben wir keine Kapazitäten und das dürfen wir auch gar nicht. Bei 100 Leuten kannst Du davon ausgehen, dass auch manche geflohen sind, weil sie schwul, lesbisch oder queer sind und aufgrund dessen verfolgt sind. In Tunesien würden diese Menschen weiter verfolgt werden. Auch da ist es ganz klar nach Seerecht und GFK können wir Leute nicht nach Tunesien bringen. Das wäre übrigens genau dasselbe mit einem schwedischen schwulen Seglerpaar, das wir retten.

Ganz davon abgesehen, suchen wir uns den Hafen nicht aus, sondern der wird uns von den Behörden zugewiesen und die Behörden wissen da ganz genau welche Rechte da zu beachten sind.

 

Wie geht es weiter, wenn Ihr den sicheren Hafen erreicht habt, endet da Eure Zuständigkeit für die Geflüchteten?

T: Wir arbeiten mit unterschiedlichen Organisationen zusammen, das ist vor allem „Safe the children“, die in den Häfen ganz aktiv sind und auch medizinische Betreuung machen. Wenn wir Leute behandelt haben, dann bekommen die von uns die Behandlungsunterlagen und die notwendigen Informationen. Das wird dann nicht nur den Behörden mitgeteilt, sondern auch den Organisationen wie „Safe the children“ oder auch „Ärzte ohne Grenzen“, die dann auch in den Häfen vor Ort sind. Wir arbeiten nicht mit Leuten zusammen, wo es um Rechtsberatung geht, da gibt es aber viele Organisationen, die das tun. Wir sind spezialisiert auf Seenotrettung.

M: Da warten dann die Behörden des entsprechenden Landes, früher immer Italien. Zum Teil werden die Leute schon auf den Schiffen registriert und in der Regel in ein Erstaufnahmezentrum gebracht, wie es früher auf Lampedusa war, bis das dann wegen Überfüllung geschlossen wurde, in der letzten Zeit war es immer Sizilien.

Unser Auftrag ist es, Menschen vor dem Ertrinken zu retten.

Was man sich so gar nicht vorstellen kann: Auf den Schiffen gibt es zum Thema Asyl, Migration und Bleiberecht unter den Crewmitgliedern ganz unterschiedliche Meinungen. Hier stehen urkonservativ-christliche Menschen aus dem tiefsten Bayern neben radikal-Linken aus Berlin, dementsprechend gibt es keine einheitliche Meinung. Aber das hat mit unseren Schiffen und unserer Aufgabe nichts zu tun. Wir wollen alle – und das ist unser gemeinsamer Nenner – verhindern, dass diese Menschen ertrinken.

 

Wie ist Eure aktuelle Situation?

M: Die „Lifeline“ ist immer mit einer niederländischen Sportboot-Registrierung unter niederländischer Flagge gefahren. Und diese Registrierung wurde jetzt in Frage gestellt, nachdem z.B. auch „Sea-Eye“ mit zwei Schiffen und dergleichen Registrierung schon länger als „Lifeline” operiert. Über 20 000 andere zivile Schiffe ähnlicher Größenordnung fahren weiterhin mit dieser Registrierung. Jetzt wurde von den Niederlanden gesagt, diese Sportboot-Registrierung sei kein richtiges Flaggenzeichen, was prinzipiell auch richtig ist, aber für die anderen 20 000 Schiffe funktioniert das weiterhin. Während die Mission 6 dieses Jahr lief und wir schon 234 Gerettete an Bord hatten, kam dann plötzlich dieses Problem auf, das Schiff war auf dem Meer und hatte keine Flagge mehr. Dann gab es das lange Hin und Her vor der maltesischen Küste, nachdem sich europäische Länder bereit erklärt haben, diese Menschen aufzunehmen, durften unser Schiff nach einer Woche in Malta einfahren. Danach wurde das Schiff beschlagnahmt und es wurde Anklage gegen den  Kapitän Claus-Peter Reisch erhoben. Claus-Peter wird vorgeworfen, mit einem nicht ordnungsgemäß registrierten Schiff in maltesische Gewässer eingefahren zu sein. Und das wäre natürlich illegal.

Das Schiff „Lifeline“ ist jetzt eine Art Beweisstück in diesem Prozess, weshalb wir jetzt in diesem umzäunten Gebiet mit Polizeischutz vor der Tür festsitzen. Am 11. September ist der letzte Prozesstag festgesetzt, bis dahin sitzen wir hier fest.

T: Die Situation hat sich insofern radikal geändert, dass wir nicht mehr Seenotrettung betreiben dürfen, weil wir in Malta von den Behörden Ende Juni festgesetzt wurden, mit der Begründung, unsere Registrierung prüfen zu wollen. Auch das ist schon eine vorgeschobene Begründung, weil die Registrierung kann man auch prüfen lassen, während das Schiff in internationalen Gewässern Seenotrettung betreibt. Wir wurden am Auslaufen gehindert und die niederländischen Behörden  sollten unsere Registrierung prüfen. Das haben die  gemacht. Es wurde ein Bericht geschrieben, der auch bereits Mitte Juli an die Maltesischen Behörden übermittelt worden ist. Dieser Bericht ist extrem positiv ausgefallen. Es wurde zunächst festgestellt, dass wir ordnungsgemäß registriert sind und wir die niederländische Flagge führen dürfen. Es wurde darüber hinaus festgestellt, dass wir extrem gut für das ausgerüstet sind, was wir mit diesem Schiff machen wollen, nämlich Seenotrettung.

Nichtsdestotrotz versucht Malta weiterhin die Verantwortung administrativ auf die Niederländer zu schieben, obwohl diese schon bestätigt haben, dass sie keinerlei Bedenken haben, was unsere Registrierung angeht.

 

Auch das Flugzeug von „Seawatch“, die „Moonbird“ darf auch nicht fliegen…

T: Auch da ist es so, dass wir keinerlei legale Begründung vorgelegt bekommen haben. Die „Moonbird“ ist auch nicht festgesetzt, wir dürfen damit überall hinfliegen, was nördlich von Malta ist. Aber wir dürfen damit nicht ins Einsatzgebiet fliegen. Für dieses Verbot gibt es keine rechtliche Grundlage.

 

Was glaubst Du, warum Malta das macht?

T:  Zum einen hat Malta ein Eigeninteresse, die haben extrem große Angst, dass es zur Regel wird, das Gerettete hierher gebracht werden. Das war aber seit 2013 nicht mehr der Fall. Das andere ist der enorme Druck auf Malta von anderen EU-Staaten, vor allem von Italien. Italien hat die Häfen dicht gemacht und versucht auch, die Koordinierungsrolle, die sie in den letzten Jahren übernommen haben von sich weg zu schieben. Und dann ist Malta der nächste Staat, wo sie die Verantwortung hinschieben wollen. Und da ist dann der Druck auf Malta groß, uns sowohl nicht einlaufen als auch (und vor allem) nicht auslaufen zu lassen.

 

Wer fährt denn überhaupt noch raus? „Lifeline“, „Seawatch 3“ und „Seefuchs” von Sea-Eye liegen hier in Malta still, die „Iuventa“ ist seit einem Jahr in Italien stillgelegt, das Aufklärungsflugzeug „Moonbird” darf nicht mehr fliegen…

M: Die „Kolibri“(8) fliegt seit einiger Zeit wieder und wird von „Seawatch“ unterstützt. „Open Arms“ aus Spanien fährt weiterhin mit der „Open Arms“ und der „Astral“ und die „Aquarius“ fährt weiterhin. Aber es fährt keine Organisation mehr von Malta aus, sondern immer von Spanien aus, was natürlich wesentlich längere An- und Abfahrtswege bedeutet. Die Anzahl der Schiffe für dieses riesige Suchgebiet und die Anzahl an Menschen war vorher schon lächerlich gering und durch die Anfahrtszeiten von Spanien von bis zu einer Woche hat, wird die Seenotrettung weiterhin erschwert. Die Präsenz vor Ort ist nahezu nicht gegeben.

T: Gerade gibt es noch 2 Organisationen, die noch fahren dürfen. Ein bisschen auch aus Glück… Das eine ist die „Pro-Activa“ / „Open Arms“, die wäre auch in Malta festgesetzt worden, wenn sie nicht gerade draußen gewesen wären, die durften dann nicht mehr rein. Daraufhin hat „Open Arms“ als katalanische Organisation die Basis nach Barcelona verlegt, was operativ der totale Wahnsinn ist, wenn man sich die Entfernungen auf dem Mittelmeer anschaut. Barcelona gehört zu den Städten in Europa, die sich solidarisch erklären auch gegenüber Geflüchteten und ziviler Seenotrettung. Da die „Open Arms“ auch unter spanischer Flotte fährt, wird sich hier mit dem MRCC in Madrid abgesprochen. Die Geretteten werden dann nach Spanien gebracht, was bedeutet, dass sie 5 bis 6 Tage länger auf See sind.

Das andere Schiff, was gerade aktuell wieder auf See ist, ist die „Aquarius“ von „SOS Mediteranée“ und „Ärzte ohne Grenzen“. Die sind gerade wieder im Einsatz und haben knapp 150 Gerettete an Bord und haben das Problem, was in den letzten Monaten immer wieder auftrat, nämlich dass sich keine Behörde zuständig fühlt und dementsprechend die Organisation nicht weiß, wohin sie die Geretteten hinbringen können, weil kein Port of Safety zugeteilt wird.

 

Haben sich die Routen von Handelsschiffen erkennbar geändert durch die aktuelle Situation? 

T: In dem Seegebiet, in dem dieses Seenotfälle eintreten, ist nur der Schiffsverkehr unterwegs ist, der wirklich dort zu tun hat, also zum Beispiel zu Ölplattformen der libyschen Küste fährt, und die können ihre Routen nicht ändern. Der andere Seeverkehr ist viel zu weit nördlich, als dass die hiervon viel mitbekommen.

Was man aber definitiv sagen kann, ist dass der Anteil an Seenotrettung durch kommerzielle Schifffahrt enorm gestiegen ist, nachdem Mare Nostrum Ende 2014 eingestellt wurde. Das hat zu etwas geführt, was Wissenschaftler_innen als „Death by Rescue“ bezeichnet haben, weil kommerzielle Schiffe schlichtweg nicht ausgerüstet sind, diese Form der Seenotrettung zu betreiben. Seit es NGOs gibt, die retten, ist nicht nur der Anteil an Seenotrettung durch staatliche Behörden, wie Küstenwache oder Marine, zurückgegangen, sondern auch die Involvierung der kommerziellen Schifffahrt, was zu mehr Sicherheit für die Migrierenden beigetragen hat.

Das hat sich jetzt wieder komplett gedreht, da die Rettung durch die kommerzielle Schifffahrt wieder zunimmt, dadurch das in den letzten Wochen dieser „Rescue-Gap“ entstanden ist, weil die zivile Seenotrettung unterbunden wird.

 

Es hat ja auch eine offizielle Beschwerde der kommerziellen Schifffahrt gegeben…

T: Ja, das ist schon eine Weile her. Der Punkt ist, dass es für die ganz schnell ganz teuer wird… Gerade die Handelsschifffahrt hat enge Time-Slots, die sie einhalten müssen in den Häfen um ihre Ware zu löschen oder neue aufzunehmen, und wenn sie den verpassen, weil so eine Rettung kann  mehrere Stunden dauern, können sie ihre Ware nicht löschen etc… Dann ist die Planung für mehrere Monate verloren gegangen. Wenn dann auch noch verderbliche Ware an Bord ist, kann die auch direkt entsorgt werden. Da kommt es dann schnell zu Millionen-Ausfällen.

 

Glaubt Ihr, dass sich die Situation mit dem Gerichtsurteil gegen Klaus-Peter Reisch, dem Kapitän von „Mission Lifeline“, Anfang September irgendetwas ändern wird?

T: Ich persönlich glaube da nicht dran, da ich jetzt gerade auch beim Flugzeug gesehen habe, wie argumentiert wird. Dann wird das eine Argument genommen, dann das andere, sobald man ein Argument entkräftet hat. Mit dem Schiff ist es jetzt das Gleiche. Es hieß am Anfang, es bestünden Zweifel an unserer Registrierung, jetzt ist das widerlegt worden mit einem mehrseitigen Bericht aus den Niederlanden und wir durften trotzdem nicht auslaufen, es kam dann immer wieder was Neues. Ich bin mir sicher, dass selbst wenn Claus-Peter Reisch freigesprochen wird, wovon ich ausgehe und was ich erwarte, dass wir dann trotzdem nicht wieder operieren dürfen. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

 

„Mission Lifeline“ sammelt für ein neues Schiff, macht das in der aktuellen politischen Lage Sinn?

T: Es würde auf jeden Fall Sinn machen. Im Moment sind nicht nur wir total blind, sondern auch die Zivilbevölkerung allgemein. Man kann überhaupt keine Aussagen machen, wieviel Leute gerade sterben, weil es einfach keine zivile Beobachtung mehr vor Ort ist. Und wir arbeiten alle mit Hochdruck daran, dass wir nicht nur mit den Schiffen, die wir haben, wieder aktiv werden, sondern auch mit neuen Schiffen. „Sea-Eye“, „Seawatch“ und „Mission Lifeline“ beteiligen sich ja auch gerade an dem Projekt „CivilFleet“(9). Auch „Sea-Eye” ist auf der Suche nach einem neuen Schiff, mit dem Ziel, so schnell wie möglich wieder operativ zu werden.

M: Es ist natürlich eine Verzweiflungstat, weil wir haben ja Schiffe, die operationsfähig am Start sind und morgen auslaufen könnten. Da wir aber mit bürokratischen Mitteln, die sich nicht unbedingt auf einem hohen Rechts-Level befinden, am Auslaufen gehindert werden, sammeln wir für ein neues Schiff. Wir gehen persönlich alle gerade ein, da wir wissen, was da draußen passiert und nicht hinfahren dürfen. Natürlich wehren wir uns mit allen juristischen Mittel gegen die aktuelle Situation. Aber es ist frustrierend. Während Menschen ertrinken wird geblockt und verzögert.

Ich bin sicher, es wird irgendwann in ein paar Jahren Urteile von Menschenrechtsgerichtshöfen geben, die uns Recht geben, aber in der Zwischenzeit ertrinken die Menschen trotzdem.

Was wir wollen ist, die Leute retten und da scheint es aktuell die schnellstmögliche Lösung zu, andere Schiffe zu besorgen. Wahrscheinlich lässt sich die EU auch für diese Schiffe was einfallen. Aber wenn das eben unser einziger Weg ist, dann ist das so. Wir wollen mit allen Mitteln, die wir haben Menschenleben retten.

 

Müsst Ihr („Mission Lifeline“) den Stellplatz bezahlen, auch wenn Ihr zwangsweise festgesetzt werdet? Wie ist das mit den laufenden Kosten?

M: Den Stellplatz müssen wir aktuell nicht bezahlen, wir gehen aber davon aus, dass wir das nach dem Urteil tun müssen. Was für uns ein riesiges Problem ist, ist das wir hier nicht in einer Werft liegen, das heisst wir haben keinen Strom und kein Wasser, das heißt wir müssen die Stromversorgung mit einem Generator machen und Frischwasser liefern lassen. Alles was wir geliefert bekommen, sei es Diesel, sei es Wasser, müssen wir vorher vom Gericht genehmigen lassen, das dauert zum Teil einen Monat. Das treibt die Kosten in die Höhe.

 

Was unternehmt Ihr gegen die aktuelle Situation?

M: Wir haben jede Menge Anwälte in verschiedenen Staaten auf die aktuelle Situation angesetzt. Natürlich machen wir auch viel Öffentlichkeitsarbeit und unterstützen die aktuellen Seebrücke-Aktionen, um den Druck auf die Politik zu erhöhen.

Aber wir sind als Organisation auch auf diese Situation nicht vorbereitet gewesen. Wir sind ja nicht zum Beispiel Amnesty International mit professionellem Medienteam usw. Wir sind sehr gut dazu in der Lage, dieses Schiff zu unterhalten und damit zu operieren, aber viel mehr auch nicht. Es kommen von allen Ecken und Enden Unterstützungsangebote, aber so eine Organisation wie „Mission Lifeline“, die aus einer Handvoll Leuten besteht, die darauf ausgelegt ist, so ein Seenotrettungsschiff zu betreiben, innerhalb von einer Woche so aufzublasen mit zum Beispiel Öffentlichkeitsarbeit, geht halt nur Step by Step.

Wir haben zwar jetzt gerade Geld über Spenden bekommen, aber es ist auch nicht unser Anliegen damit Kampagnen zu machen, sondern eben Seenotrettung und dafür haben wir auch diese Gelder bekommen.

Die Situation ändert sich gefühlt täglich, es ist sehr schwer, damit umzugehen.

 

Wie groß ist Eure Crew? 

M: Normalerweise sind wir 19, wenn wir voll besetzt sind. Da ist dann das medizinische Team mit zwei Ärzt_innen und Rettungsassistent_innen, dann die Rettungsteams für die zwei Schlauchboote, Koch, sogenannte „Deckhands“ (die Leute, für die Arbeiten rund um das Schiff), daneben Maschinist, Kapitän, Head of Mission und Erster Offizier. Also nautisches Team, Rettungsteam, medizinisches Team und Versorgungsteam. So lange man keine Geflüchteten an Bord hat, macht man natürlich auch alles andere mit, je nach Können und Qualifikation.

T: Wir habe 22 Crew-Mitglieder, das sind drei auf der Brücke, drei im Maschinenraum, drei Medics und die restlichen Positionen, die sich zusammensetzen aus Cultural-Mediator,  Guest-Coordinator, Koch und Deckhands sowie RIB-Fahrer und der Bootsmann, der die ganze Arbeit auf dem Deck koordiniert.

 

Wie kann man sich Euch anschließen?

M: Es kann sich natürlich jede_r bewerben, aber es wird auch auf Qualifikation geachtet. Aber es gibt auch diese sogenannten Deckhands, die alles machen, was so anfällt. Ganz viele Leute sind ohne Schlüsselqualifikation in das Team gekommen. Es gibt einen Fragebogen auf unserer Homepage, damit kann man sich bewerben. Grundsätzlich ist jeder willkommen. Natürlich sind Menschen mit nautischen Schlüsselqualifikationen wie Kapitän oder Maschinist immer sehr gesucht.

Die Kapitäne bekommen zum Teil eine Aufwandsentschädigung, da die oft mehr als eine Mission betreuen, aber auch hier gibt es keine ernsthafte Bezahlung.

T: Wir haben Online ein Crew-Formular, das kann man ausfüllen und das geht dann ans Crewing Department, die sich dann mit den Leuten in Verbindung setzten. Für dieses Kalenderjahr sind wir komplett gecrewt. Das Crewing für 2019 wurde noch nicht eröffnet.

 

Wie kann man Euch von Deutschland aus unterstützen?

M: Wir sind ganz begeistert von den Seebrücke(10) Aktionen. Wir brauchen natürlich politische Unterstützung und Öffentlichkeitsarbeit und natürlich Spenden. Und wir brauchen auch ganz viel das Bewusstsein der Menschen für die Wichtigkeit der Seenotrettung. Jede Form der Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit, wie Vorträge oder Infostände sind eine große Unterstützung.

T: Da gibt es viele Unterstützungsformen, abgesehen von Spenden. Für mich ist ganz wichtig, dass sich die Leute informieren und über dieses brennende Thema diskutieren, dass Leute ihre Landtagsabgeordnete, ihre Bundestagsabgeordnete, ihre EU-Abgeordnete ansprechen, damit diese sich dann dafür einsetzen, dass wir wieder auslaufen und retten dürfen. Man kann Petitionen unterzeichnen. Und dann sind da die Seebrücke-Aktionen und das ist in Deutschland gerade ein ganz wichtiges Signal aus der Zivilbevölkerung heraus, Position bezogen wird.

Wichtig wäre eine europäische Lösung für dieses Problem, die uns aber auch zum Beispiel dem italienischen Militär oder der Küstenwache wieder erlauben würde, wieder in Italien mit Geflüchteten anzulanden und dass es dann einen Verteilmechanismus für die Menschen  gibt. Aber ich sehe gerade nicht, dass das wirklich kommt. Umso erfreuter bin ich, dass Protest gerade von unten aus der Bevölkerung kommt und auch dass sich einzelne Kommunen und Städte solidarisch zeigen und die Bereitschaft signalisieren, Leute aufzunehmen. Das erhöht auch den Druck auf Innenminister Seehofer, den ich auch als eine zentrale blockierende Person wahrnehme, auch im Lifeline-Fall. Dann sehe ich auch die SPD und frage mich, wie die sich zu dieser ganzen Thematik positionieren wollen…

M: Es geht halt auch darum, sich und andere zu informieren, da können wir gar nicht genug Leute unterwegs haben… hier, in Deutschland und in ganz Europa.

 

Wir danken für das Interview und Euren unermüdlichen Einsatz für Menschenleben und Menschenrechte!

Das Interview mit Markus (M) und Nico (N) von „Mission Lifeline“ wurde am 10. August 2018 auf Malta auf dem Schiff „Lifeline“ geführt, das Interview mit Tamino (T) von „Seawatch“am 13. August 2018 auf dem Schiff „Seawatch 3“, ebenfalls auf Malta. Die Interviews wurden getrennt geführt und später zusammengefügt.

 

Interviews: Aaron Collette (Schüler) und Daniela Collette (Ärztin)

Fotos: Headerbild Cpoyright: Danilo Campailla; Bilder im Text: Copyright: Hermine Poschmann

Kontakt: info@buxus-stiftung.de

 

 

Erläuterungen

1 SAR-Zone: Search and Rescue-Zone

2 MRCC: Maritime Rescue Coordination Center, Seenotrettungsleitstelle

3 Mare Nostrum – In der Zeit von 18.10.2013 bis 31.10.2014 operierte die italienische Küstenwache und die italienische Marine zwischen Afrika und Sizilien mit dem Ziel, Geflüchtete aus Seenot zu retten und gleichzeitig Schleuser zu bekämpfen. Die Operation wurde ins Leben gerufen, nachdem in kurzer Zeit bei zwei Bootsunglücken über 600 Menschen ertranken. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) hat die Operation Mare Nostrum in dem Zeitraum ihrer Aktivität rund 150.000 Menschen gerettet. Im August 2014 wurde eine europäische Weiterführung des Projektes als „Frontex plus“  beschlossen. Im November 2014 begann die Operation Triton unter Führung der EU Grenzagentur Frontex mit einem Jahresetat von 30 Mio Euro (zum Vergleich: Mare Nostrum hatte jährliche Kosten von 110 Min Euro). Durch dieses limitierte Programm und den eingeschränkten Aktionsradius von Frontex und damit Operation Triton fehlten Seenotrettungsschiffe in der SAR-Zone. 2015 folgte dann die Operation Sophia unter anderem mit deutscher Beteiligung, deren Kernauftrag die Aufklärung und Bekämpfung von Schleppernetzwerken ist.

4 Code of Conduct: Hier ist ein Verhaltenskodex für private Seenotretter, der von der italienischen Regierung im Sommer 2017 erstellt wurde, gemeint. Unter dem Link https://www.juwiss.de/139-2017/ kann eine juristische Bewertung nachgelesen werden.

5 FRONTEX: European Border and Coast Guard Agency

6 „Aquarius“: gemeinsames Schiff der Organisationen „Ärzte ohne Grenzen“ und “SOS Mediteranée“

7 SOLAS: The International Convention for the Safety of Life at Sea

8 „Kolibri“: NGO – Aufklärungsflugzeug

9 Civil Fleet: Charterprojekt, unter anderem mit prominenter Unterstützung. Ziel ist es, Geld für das Chartern eines Seenotrettungsschiffs zu sammeln; https://civilfleet.org

10 Aktion Seebrücke: Zivilgesellschaftliche Bewegung, die im Sommer 2018 entstand, nachdem das Schiff „Lifeline“ mit 234 geretteten Menschen an Bord tagelang am Einlaufen in einen sicheren Hafen gehindert und anschließend festgesetzt wurde. Die Bewegung fordert europaweite sichere Fluchtwege, eine menschenwürdige Aufnahme von Geflüchteten und eine Endkriminalisierung von Seenotretter_Innen. Demonstrationen und Aktionen fanden bislang in über dreißig deutschen und auch einigen europäischen Städten statt.

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