Wir müssen uns erinnern, damit wir morgen nicht vergessen

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26.06.2018

Wir müssen uns erinnern, damit wir morgen nicht vergessen
Zum Internationalen Tag zur Unterstützung der Folteropfer

In meinem Leben ist der 26. Juni kein gewöhnlicher Tag. Ich habe vierundzwanzig Geburtstage, dreiundzwanzig Weihnachten, drei Schulabschlüsse und fast sieben Parlamentswahlen erlebt. Taufen, Empfänge, Beerdigungen. Dies ist  jetzt  mein dreiundzwanzigster 26. Juni. In den ersten zwei Jahrzehnten ist der Tag unbemerkt an mir vorbei geglitten. In den letzten drei Jahren meines Lebens ist er wesentlich dringlicherund nahegehender geworden.

Der 26. Juni markiert den Internationalen Tag zur Unterstützung der Folteropfer. Seit drei Jahren ist meine Beziehung zu diesem Tag sehr kompliziert. Mein Vater, Gui Minhai, wurde im Oktober 2015 von chinesischen Agenten wegen seiner Arbeit als regimekritischer Verleger entführt. Aus mir wurde plötzlich  eine Art Menschenrechtsaktivistin. Dank meiner damals noch recht verschwommenen Kenntnis des chinesischen Rechtssystems, war ich lange Zeit unsicher, ob man das Vorgehen gegen meinen Vater als Folter bezeichnenkönnte. Es schien sehr wahrscheinlich – aber das Wort Folter schmeckt seltsam in einem schwedischen Mund, der während seiner gesamten Schulzeit nur Zahnpasta mit Bananengeschmack kannte. Es ist einfacher auszuspucken und zu denken, dass du es eben nicht sicher weißt.

Als das erste öffentliche “Geständnis” meines Vaters im chinesischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, schaffte sich die Folter erneut Gehör. Es gibt viele Arten von Folter. Elektroschock, zum Beispiel, und brutale Schläge, bis sich die Zähne lockern und das Gesicht grotesk anschwillt, aber man trotzdem angehalten wird, für die Kamera zu lächeln.

Man kann Gefangenen tagelang den Schlaf entziehen und ihre Angehörigen bedrohen. In den ersten zwei Jahren wusste ich nicht, was ich bevorzugen sollte. Jetzt, im dritten Jahr, dringen Informationen über die Behandlung von Gefangenen wie meinen Vater langsam an die Öffentlichkeit. Kürzlich hat die Menschrechtsorganisation Safeguard Defenders einen Bericht über erzwungene Geständnisse veröffentlicht. Folter, in ihren vielfältigsten Formen, ist Tatsache.

Heute gedenken wir aller Menschen, die der schrecklichen Vielfalt der Folter in der Welt zum Opfer fallen. Morgen vergessen wir sie wieder.

Von allen Menschenrechtsproblemen sollte die Folter an den anderen 364 Tagen des Jahres den wichtigsten Platz einnehmen. Obwohl das Wort Folter schwer im Mund liegt, ist es ein Wort, das betrifft und das wir emotional ganz direkt mit dem Begriff „Menschenrechte“ verbinden. Vielleicht ist es die Universalität des Körpers, die in uns ein starkes Mitgefühl für Folteropfer weckt.

Aber Gefühle sind flüchtig.

An allen anderen Tagen im Jahr versuche ich auf unterschiedliche Weise, das Thema Menschenrechte in alle möglichen Unterhaltungen einzuflechten. Ich erkläre, verdeutliche, nuanciere. Aber oft ist der Kampf von vornherein verloren, sobald man auf  das Problem Menschenrechte zu sprechen kommt. „Eine nette Idee“, sagen viele. „Es ist schön, dass Sie idealistisch sind, aber Sie müssen verstehen, dass man in der Politik auch realistisch sein muss,“ sagte mir ein junger Mann nach einem meiner Vorträge im letzten  Herbst. Auf der Zugreise nach Hause fragte ich mich, ob wir nicht ein völlig unklares Bild haben, was Menschenrechte eigentlich bedeuten. Vielleicht haben wir mit unserer wohlgemeinten Empathie den Begriff so ausgehöhlt, dass er nur noch auf abstrakter Ebene verstanden wird.

Wie kann es sein, dass ein Protest gegen den Einsatz enormer Ressourcen Menschen zu inhaftieren  und zu foltern als „idealistisch“ bezeichnet wird? Das Thema Menschenrechte scheint sich zu einer sehr eigenen Diskussionentwickelt zu haben, ungeachtet des aktuellen Kontexts.

Die häufigsten Einwände gegen das Konzept Menschenrechte betreffen Gedanken zur Moral und Ethik. Viele meinen, Menschenrechte seien schlicht und einfach wertvoll, weil sie aufzeigen, was moralisch oder unmoralisch ist – aber mehr auch nicht.Oder man meint, sie würden anderen Kulturen, die anders funktionieren als unsere eigene, einen ethischen Kodex aufzwingen.

Ich denke, dass hier zwei grundlegende Argumentationsfehler vorliegen, die die Menschenrechte schwer verständlich machen. Zum einen wird behauptet, dass Menschenrechte ein einziges, zusammenhängendes Konzept darstellen. Dies trägt zur Verschiebung der Debatte von der praktischen zur abstrakten Ebene bei. Zweitens werden Menschenrechte primär als Formalisierung moralischer Prinzipien wahrgenommen. Da bleibt für eine pragmatische Diskussion nicht viel Handfestes übrig.

Glücklicherweise ist die Frage der Menschenrechte wesentlich komplexer. Sie können unmöglich aus einem einzigen abstrakten Konzept bestehen, weil sie in die Realität ihrer täglichen Umgebung eingebettet sind.  Menschenrechte ähneln in der Praxis weniger einer über der Gesellschaft schwebenden Wolke von allgemeinen Werten, sondern mehr einem Baum mit Wurzeln, die sich ausbreiten, um in ihre Umwelt einzugreifen. Die Entführung meines Vaters von Thailand nach China kann sowohl als eine reine Menschenrechtsfrage beschrieben werden, als auch als ein Grundproblem der  staatlichen Souveränität. Damit sind Menschenrechtsfragen zwangsläufig auch immer Fragen der Politik und des Rechts.

Menschenrechtsthemen in einen breiteren Kontext zu setzen bedeutet, dass wir den Werkzeugkasten der Problemlösung erweitern. In Folterfällen gilt das insbesondere für die lokale und internationale Gesetzgebung: Neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte existieren auch spezielle Auflagen und Konventionen. Einzelne Länder selbst entscheiden, ob sie diese unterzeichnen oder ratifizieren wollen, aber wenn dies geschieht, sind die Konventionen bindend. Sicher, obwohl China die UN-Antifolterkonvention 1988 ratifiziert hat, findet Folter weiterhin statt. Aber natürlich sind solche internationalen Gesetze besser als nichts. In den letzten Jahren gab es ernsthafte Versuche, auf diesem Fundament aufzubauen, um neue und direktere Wege zum Schutz der Menschenrechte zu finden. Dazu gehört die Ausweitung des Prinzips der universellen Gerichtsbarkeit (Universal Jurisdiction) – eine Rechtsvorschrift, die die Ahndung von Menschenrechtsverletzungen erlaubt, unabhängig davon, wo sie stattfinden –  und der sogenannte Global Magnitsky Act, ein 2016 in den U.S.A. verabschiedetes Gesetz, das gezielte, internationale Sanktionen gegen individuelle Menschenrechtsverletzer_innen verhängt.

Es ist höchste Zeit, nicht mehr einfach über Menschenrechte zu sprechen, als ob sie in einem Vakuum existierten. Menschenrechte berühren alle Aspekte unserer Gesellschaft, und um sie zu schützen, müssen wir verstehen, wie sie als Teil eines größeren Systems funktionieren. Der Glaube, dass es sich bei Menschenrechten nur um eine bloße Ansammlung von losen Idealen handelt, ist ein Missverständnis, das uns keinen guten Dienst erweist. Wir müssen uns jeden Tag an diese Tatsache erinnern, damit wir sie morgen nicht gleich wieder vergessen.

Autorin: Angela Gui ist Historikerin und Aktivistin, zur zeit arbeitet sie an ihrer Dissertation an der Universität Cambridge

Kontakt: Info@buxus-stiftung.de

Fotos: ©Angela Gui – Header: ANgela Gui mit ihrem Vater; Porträts: Angela Gui und Gui Minhai

Der Originalbeitrag ist unter dem Titel “Menschenrechte existieren nicht in einem Vakuum” erschienen in Dagens Nyheter.

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