Der Genozid in Ruanda 1994

Eines der schwersten Gewaltverbrechen im 20. Jahrhundert

1994 eskalierte in dem zentralafrikanischen Ruanda ein seit langem schwelender Konflikt zwischen der Hutu-Regierung und der Ruandischen Patriotischen Front (RPF), einer 1985 gegründeten Rebellenmiliz der Bevölkerungsgruppe der Tutsi, die seit 1990 vorwiegend aus dem Exil der Nachbarländer Uganda, Burundi und Zaire militärisch gegen die ruandische Regierung vorging. Zwischen dem 6. April und Mitte Juli 1994 fielen zwischen 500.000 bis 800.000 Tutsi einem Massaker zum Opfer, verübt von Militärs der regierenden Hutu-Mehrheit, Hutu-Milizen, der Präsidenten-Garde, sowie paramilitärischen Einheiten. Teile der Hutu-Bevölkerung beteiligten sich unter dem Einfluss gezielter Propaganda an dem Massenmord, in dessen Verlauf auch circa 200.000 Hutu ermordet wurden, die sich weigerten, bei diesem Verbrechen mitzumachen. In knapp hundert Tagen wurden etwa 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi ermordet.

Obwohl UN-Truppen in Ruanda stationiert waren, hat die internationale Gemeinschaft nicht eingegriffen. Die RPF beendete den drei Monate währenden Völkermord schließlich militärisch.

Entwicklungslinien

Eine soziale und wirtschaftliche Aufteilung der Gesellschaft setzte bereits in vorkolonialer Zeit ein. Während die überwiegende Mehrheit der „Hutu“, circa neunzig Prozent der Bevölkerung, Ackerbau betrieb, etablierte sich eine Minderheit der „Tutsi“ zunehmend als Handeltreibende und Viehzüchter, und erlangte relativen Wohlstand. Langfristig entwickelte sich eine soziale und politische Führungsschicht, indes mit gleichen sprachlichen, kulturellen und religiösen Wurzeln.

Die deutsche Kolonialmacht (1890-1916) fand somit ein von der sozialen Schicht der Tutsi getragenes Königreich vor. Das feudale Königtum Kigeri Rwabugiris (Herrschaft von 1853-1895) hatte den Erwerb fruchtbaren Landes für Angehörige der Hutu bereits vor der Kolonialisierung erschwert und damit die gesellschaftliche und wirtschaftliche Polarisierung befördert. Im Zuge einer forcierten Zentralisierung der Herrschaftsgewalt wurden in der Folge lokale und regionale Machtträger zurückgedrängt, während sich die Bezeichnung „Tutsi“ zunehmend zum Synonym für die gesellschaftliche, militärische, wirtschaftliche und politische Herrschaftselite herauskristallisierte und sich die Bezeichnung „Hutu“ zum Begriff für die Beherrschten entwickelte.

Eine rassische Interpretation erfuhr diese gewachsene, hierarchische Sozialstruktur durch die deutschen Kolonialherren. Entsprechend zeitgenössischer Theorien wurde die in Afrika vorgefundene soziale und kulturelle Abgrenzung nicht als staatenbildende Kulturleistung, sondern als Ergebnis rassisch-biologischer Ausleseprozesse umgedeutet. Hinsichtlich Ruandas wurde die Herrschaft der Tutsi mit einer vermuteten Einwanderung ihrer Vorfahren aus dem Norden, mit einer Abstammung von einer überlegenen Rasse mit hellerer Hautfarbe mit kaukasischen – und damit europäischen – Wurzeln, zu begründen versucht.

Die hierarchischen Herrschaftsstrukturen in Zentralafrika, Ergebnis eines soziokulturellen Entwicklungsprozesses, wurden in von den Kolonialherren nicht ersetzt. Vielmehr banden sie die vorgefundene soziale Ordnung in ihr Kolonialregime ein und nutzten die Überordnung der Tutsi zur Beherrschung der Bevölkerungsmehrheit. Durch die neuen, rassisch-biologischen Interpretationsmuster erfuhr die Spaltung der ruandischen Gesellschaft zusätzliche Polarisierung.

Nachdem Belgien im Pariser Friedensvertrag (Versailles) 1919 die Kolonie zugesprochen bekommen hatte und Ruanda 1923 vom Völkerbund zum belgischen Mandatsgebiet erklärt worden war, wurde dieses System und das daraus resultierende Unterordnungsverhältnis zwischen der Führungsschicht der Tutsi und der Hutu-Bevölkerungsmehrheit beibehalten. Die soziale Polarisierung verschärfte sich weiter. Die neuen Kolonialherren übernahmen auch die rassischen Deutungsmuster, die zunehmend auch Eingang in die Denkstrukturen der Bevölkerung fanden. Die belgische Kolonialmacht konnte durch eine Stärkung der Tutsi-Herrschaft zudem ihre eigene Machtstellung in Ruanda festigen.

Im Zuge einer Volkszählung 1933/34 stellte die belgische Kolonialverwaltung Ausweispapiere aus, in denen die Zugehörigkeit zur jeweiligen Bevölkerungsgruppe festgeschrieben wurde. Die ursprünglich sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede wurden nun rassisch definiert, wobei die bisherige Zugehörigkeit zur jeweiligen gesellschaftlichen Schicht als einziges Unterscheidungskriterium diente. Ausgehend von einer sozialen Spaltung war die Grundlage für eine rassistische Auseinandersetzung geschaffen.

Die katholische Kirche förderte zudem die Ausbildung der Tutsi, vernachlässigte die Bildung der Hutu-Bevölkerungsmehrheit und trug somit zur Vertiefung der Spaltung der Bevölkerung bei.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg verlagerte sich der missionarische Ansatz. Die katholische Kirche verstand sich zunehmend als Sprachrohr der unterprivilegierten Hutu und investierte in deren Ausbildung. Eine nun heranwachsende Hutu-Bildungselite drängte nun zunehmend auf politische Teilhabe, Reformen und Demokratisierung des Landes.

Revolution der Hutu

Die rassistische Überlagerung der sozialen Unterschiede bestimmte zunehmend auch das Denken der Hutu, während sich der Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen vor dem Hintergrund der im Raum stehenden Dekolonisation Zentralafrikas zu Beginn der 1960er Jahre verschärfte. Entlang der nunmehr rassistisch definierten gesellschaftlichen Grenzlinien bildeten sich politische Parteien heraus, die auf der einen Seite die Fortführung der Tutsi-Monarchie propagierten, während die Programmatik radikaler Hutu-Politiker auf der anderen Seite ein Ende der Hegemonie der Tutsi forderte, indem sie diese als Herrschaft einer landfremden Rasse zu delegitimieren versuchte.

1959 revoltierten Hutu-Milizen erfolgreich gegen die von der Kolonialmacht Belgien geförderte Tutsi-Monarchie, die der Bevölkerungsmehrheit der Hutu bis dato gleiche Rechte vorenthalten hatte.

Als Ruanda 1962 die staatliche Unabhängigkeit erlangte, hatten sich die Machtverhältnisse umgekehrt. Ein nicht minder autoritäres Hutu-Regime unterdrückte nun die Minderheit der Tutsi, von denen viele ins benachbarte Ausland, vor allem nach Uganda flüchteten. 1963 und 1972 verübten Exil-Tutsi, die ins Land eingefallen waren, Massaker, bei denen mehr als 300.000 Hutu getötet wurden.

Versuche der Regierung unter Hutu-Präsident Juvénal Habyrimana (1937-1994), der das Land von 1973 bis zu seiner Ermordung 1994 autoritär führte, über ein Proporzsystem in Verwaltung und Militär, das den jeweiligen Bevölkerungsanteilen entsprach, eine weitere Eskalation zu verhindern und zu einer friedlichen Einigung zu gelangen, scheiterten in der Folge an Hardlinern beider Seiten. Die Bereitschaft der autokratischen Hutu-Regierung, tatsächlich einen Ausgleich der Interessen herbeizuführen, ist in der Folge bezweifelt worden. Bis 1993 musste Amnesty International wiederholt auf Massenhinrichtungen von Tutsi hinweisen, die ohne Zweifel mit Wissen der Staatsführung durchgeführt worden waren.[1]

Seit Mitte der 1980er Jahre hatte Ruanda mit einer Wirtschaftskrise zu kämpfen, die eine Herausbildung oppositioneller Hutu-Kräfte und eine Schwächung der amtierenden Hutu-Regierung beschleunigte. Nach dem Ende des ‚Kalten Krieges‘ wuchs zudem der internationale Druck, demokratische Reformen einzuleiten und das Flüchtlingsproblem zu lösen. Zu Beginn der 1990er Jahre lebten circa 600.000 Tutsi als Geflüchtete im Ausland. Die Reformen blieben aus, eine Wiederansiedelung der geflüchteten Tutsi in Ruanda lehnte die Regierung wiederholt mit Verweis auf die Landknappheit ab.

Unterdessen hatten Exil-Tutsi 1987 die Ruandische Patriotische Fron(Front Patriotique Rwandaise, FPR) gegründet, der es 1990 gelang, Teile Nord-Ruandas unter militärische Kontrolle zu bringen. Diese Invasion war Auftakt eines Bürgerkrieges, der zu einem Genozid eskalieren und erst 1994 mit dem Sieg der FPR enden sollte.

Bürgerkrieg und Völkermord

Mit französischer Hilfe konnte Habyrimana die ruandische Armee ausbauen, aufrüsten und die FPR nach ihren anfänglichen militärischen Erfolgen zurückdrängen. Zwar wurde am 3. August 1993 in Arusha im benachbarten Tansania ein Friedensvertrag geschlossen, der sich aber nicht als tragfähig erwies. Die FPR-Milizionäre sollten Amnestie erhalten und in die ruandische Armee integriert werden. Die Vereinbarung forderte zudem die Etablierung eines Mehrparteiensystems.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschloss am 5. Oktober 1993 mit Resolution 872[2] die Entsendung von UN-Truppen (United Nations Assistance Mission for Rwanda, UNAMIR) zur Stabilisierung des Landes und zur Unterstützung des Demokratisierungsprozesses, erteilte allerdings kein Mandat, militärisch in den Konflikt einzugreifen. Bewaffnung und Ausrüstung waren hierfür auch nicht ausreichend.

Von radikalen Hutu wurde der in den Friedensverhandlungen von Arusha ausgehandelte Kompromiss abgelehnt, sie gründeten paramilitärische Verbände und begannen, Todeslisten mit Namen gemäßigter Hutu und führender Tutsi zu erstellen. Die Regierung Habyrimanas, die den vertraglich vereinbarten Übergangsprozess zu demokratischen Strukturen weitgehend blockierte, unterband diese Aktivitäten nicht, vielmehr unterstützte sie die Bildung der Milizen materiell und propagandistisch. Zwischen 1990 und 1994 wurden bei Massakern, die von diesen paramilitärischen Einheiten verübt wurden, etwa 2000 Tutsi und zahlreiche gemäßigte Hutu gleichsam als Vorläufer eines Genozids ermordet.

Auftakt für den Völkermord war die Ermordung Habyrimanas am 6. April 1994. Die Hintergründe des unmittelbar nach Rückkehr des Machthabers von Friedensverhandlungen verübten Attentates sind bis ungeklärt. Die Maschine des Präsidenten, mit an Bord der burundische Präsident, wurde während des Landeanflugs auf Kigali abgeschossen. Ob die FPR Habyrimanas ermordete, um die Verhandlungen zum Scheitern zu bringen und eine Entscheidung mit Waffengewalt herbeizuführen, oder der Anschlag auf dem Flughafen der ruandischen Hauptstadt Kigali von extremistischen Hutu begangen wurde, die den Friedensvertrag von Arusha und jedweden Kompromiss mit den Tutsi ablehnten, muss dahingestellt bleiben.

Der Massenmord, organisatorisch und propagandistisch von langer Hand vorbereitet, setzte allerdings bereits eine halbe Stunde nach dem Attentat ein. Eine zwei Tage später, am 8. April 1994 eingesetzte Übergangsregierung, stoppte die Gewalt nicht; vielmehr weitete sich das Morden innerhalb weniger Tage auf das ganze Land aus. Eine besondere Rolle spielte hierbei die Präsidentengarde, unterstützt von anderen Teilen der Armee unter Führung extremistischer Hutu-Offiziere sowie von paramilitärischen Milizen.

Organisation, Propaganda, Täter

Der Organisation des Massenmords, vorbereitet durch systematisch erstellte Todeslisten mit Namen von Angehörigen der Tutsi-Minderheit und oppositionellen Hutu, verlief über vertikale militärische Befehlsstränge, Weisungen auf dem Weg hierarchisch aufgebauter Verwaltungsstrukturen von den Präfekten zu den Gemeindevorstehern, aber auch über die Organisation radikaler Hutu-Parteiorganisationen. Zudem wurde die Zivilbevölkerung aufgefordert, sich im Rahmen so genannter „Gemeinschaftsarbeit“[3] an dem Völkermord zu beteiligen.

Zentrale Bedeutung kam der seit 1990 einsetzenden Propaganda bei. Die von der Hutu-Regierung kontrollierten Medien betrieben eine massive Agitation der Ausgrenzung und Stigmatisierung auf der Basis des inzwischen in weiten Teilen der Bevölkerung verinnerlichten rassistischen Interpretationsmusters der Diversifikation. Die Publikationsorgane verbreiteten in hoher Frequenz eine Ideologie, die ein Zusammenleben mit den Tutsi als Verrat an der Ethnie der Hutu bezeichnete, wobei die Propagierung der so genannten „10 Gebote der Hutu“[4] als exemplarisch für die rhetorische Aufwiegelung zum Hass betrachtet werden kann, die unter anderem Ehe, Geschlechtsverkehr, sogar Mitleid mit Tutsi zu verräterischem Handeln erklärten. Tutsi wurden als nicht mehr dem ruandischen Volk zugehörig ausgegrenzt und erhielten eine entsprechende Kennzeichnung in ihren Pässen.

Angesichts einer Analphabetenquote von über vierzig Prozent war die Verbreitung der Hass-Propaganda über das Radio, unterlegt mit beliebter Musikauswahl, besonders wirksam. Die Regierung ließ zu diesem Zweck kostenlos Rundfunkgeräte verteilen. Die rhetorischen Grenzen des Sagbaren wurden schrittweise verschoben, unterlegt mit erfundenen Berichten über angebliche von Tutsi begangene Gräueltaten an Hutu, die das geplante Massaker an der Minderheit zum Präventivschlag verklären sollten. Schließlich wurde unverhohlen offiziell zum Mord an Tutsi aufgerufen, die seitens der Propaganda im Zuge systematischer Entmenschlichung inzwischen als Kakerlaken, Gewürm und Schlangen bezeichnet wurden.[5]

Mindestens 800.000 Tutsi und gemäßigte oder oppositionelle Hutu wurden nach Angaben der UNO innerhalb des Zeitraums von hundert Tagen getötet, ruandische Behörden sprechen von mehr als einer Million Ermordeter.

Auf organisatorischer Ebene waren Personen mit Einfluss in Militär, Politik und Verwaltung federführend. Die Ausführenden des Massenmords kamen aus allen Bevölkerungsschichten, Hinsichtlich Bildungsstand, Alter, Beruf sowie Familienstruktur unterschieden sie sich nicht vom Durschnitt der männlichen Hutu-Bevölkerung. Empirische Studien schätzen die Zahl der Täter, die mindestens einen Mord begangen haben, auf bis zu 210.000. Dies entspricht circa siebzehn  Prozent der erwachsenen männlichen Hutu-Bevölkerung.[6]

Die internationale Gemeinschaft

Der 1999 vorgelegte Bericht einer unabhängigen Untersuchungskommission zur Rolle der UNO während des Genozids in Ruanda und in dessen Vorfeld fällt ein vernichtendes Urteil. Der entscheidende Fehler der Vereinten Nationen sei der fehlende Wille gewesen, den Völkermord zu verhindern oder zu stoppen. Die UNAMIR, Hauptinstrument der Mission der UNO in Ruanda, sei nicht in einer Weise „geplant, aufgestellt und instruiert“ worden, „die sie in die Lage versetzt hätte […], „in einem in ernsthaften Schwierigkeiten steckenden Friedensprozess“ […] eine aktive und entschieden Rolle wahrzunehmen“. Das Mandat habe auf einer Analyse beruht, die sich als falsch erwiesen habe und trotz eindeutiger Warnsignale zu keinem Zeitpunkt korrigiert worden sei.[7]

An Warnungen mangelte es in der Tat nicht. So wurde der Kanadier Roméo Dallaire, ab Oktober 1993 Befehlshaber der UNAMIR, bereits im Januar 1994 über die Existenz von Tutsi-Todeslisten und illegalen Waffenlagern in Kenntnis gesetzt. Es wurde ihm indes von Kofi Annan (1938-2018, UNO-Generalsekretär von 1997-2006, Friedensnobelpreis 2001), zu diesem Zeitpunkt Unter-Generalsekretär der Vereinten Nationen und in dieser Eigenschaft für friedenserhaltende Einsätze verantwortlich, untersagt, diese Lager auszuheben. Ein Eiltelegramm Dallaires, in dem er Anfang 1994 vor einer drohenden Eskalation gewarnt und über verlässliche Anhaltspunkte für einen bevorstehenden Genozid berichtet hatte, wurde von der UNO ignoriert. Rückblickend auf seine zahllosen Warnungen vor einem bevorstehenden Völkermord, zeigt sich Dallaire heute noch überzeugt, dassmit 5000 Blauhelmsoldaten und einem robusten Mandat der Genozid hätte verhindert werden können.[8]

Auf Grund der geringen Truppenstärke sowie des stark begrenzten Mandats, das den Blauhelmsoldaten Waffengebrauch ausschließlich zur Selbstverteidigung erlaubte, konnten die Soldaten der UNAMIR dem Morden nichts entgegensetzen. Nachdem in einer frühen Phase der Massaker zehn belgische Blauhelmsoldaten ermordet worden waren, fokussierte sich die internationale Staatengemeinschaft darauf, ihre Staatsangehörigen auszufliegen, während die Stärke der internationalen Truppe weiter drastisch reduziert wurde. Das Morden wurde schließlich durch die RPF-Miliz beendet, die, umgewandelt in eine Partei, bis heute die Regierungsmacht trägt.

Die Hauptkritik des Berichts der unabhängigen Kommission richtet sich gegen die mit dem Fall Ruanda befassten Gremien der Vereinten Nationen und die Mitglieder des Sicherheitsrates. Diese seien nicht bereit gewesen, eine schlagkräftige Friedenstruppe zu entsenden und mit starkem Mandat zu versehen, sie seien auch, vor dem Hintergrund der 1993 gescheiterten Somalia-Mission, nicht bereit gewesen, entsprechende Risiken einzugehen. Insbesondere die Administration Bill Clintons habe eine unrühmliche Rolle hierbei gespielt, die eine offizielle Verwendung des Begriffs „Genozid“ im Sicherheitsrat verhindert habe.[9] Eine entsprechende Klassifizierung der Massaker in Ruanda hätte gemäß der UN-Völkermord-Resolution[10] von 1948 ein Eingreifen zwingend vorgeschrieben. Kofi Annan räumte Fehler der Vereinten Nationen ein und bekannte sich 2004, zehn Jahre nach dem Genozid, zu persönlicher Verantwortung.[11]

Justizielle Aufarbeitung und Erinnerung

Am 8. November 1994 wurde der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (International Criminal Court for Rwanda, ICTR) durch UN-Resolution 955 konstituiert. Der UN-Sicherheitsrat beschloss, den Gerichtshof im tansanischen Arusha, dem Ort der gescheiterten Friedensverhandlungen, einzurichten. Ziel war es, Straflosigkeit zu bekämpfen und einen Beitrag zu Frieden und Versöhnung zu leisten. Seine Zuständigkeit umfasste die Verfolgung aller Völkermord- und Humanitätsverbrechen, die im Verlauf des Jahres 1994 in Ruanda begangen worden waren. Angeklagt wurden dort die Hauptverantwortlichen des Genozids aus Militär und Politik, aber auch, angesichts der Bedeutung der Hass-Propaganda im Vorfeld des Völkermords, aus den Medien. So wurde der Spiritus Rector des Völkermords, so der Staatsanwalt des Internationalen Strafgerichtshofs, Oberst Théoneste Bagosora 2011 zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt.[12]

Nach Inkrafttreten der UN-Völkermord-Konvention von 1948 war dies der erste internationale Gerichtshof, vorn dem Genozidverbrechen abgeurteilt wurden. Er war auch das erste Tribunal, das Vergewaltigung als Mittel zur Begehung von Völkermord als Straftatbestand anerkannte. Gemäß UNICEF-Angaben wurden während der hundert Tage des Völkermords zwischen 250.000 und 500.000 Frauen und Mädchen vergewaltigt. Entsprechende Präzedenzfälle sind nunmehr wegweisend für die internationale Strafgerichtsbarkeit.

Am 22. Dezember 2012 wurde die Zuständigkeit auf den Internationalen Residualmechanismus für Strafgerichtsbarkeit[13] übertragen, der mögliche Folgeverfahren an die nationale Gerichtsbarkeit weiterleiten kann. Zeugenschutzprogramme, Verfolgung von Flüchtigen sowie Archivierung der Gerichtsunterlagen werden ebenso im Rahmen des Residualmechanismus fortgeführt. Dieser Mechanismus greift auch für Verfahren wegen Humanitätsverbrechen im Zuge der Post-Jugoslawienkriege.

Dem Tribunal, das jährlich mit hundert Millionen US-Dollar ausgestattet wurde, ist mehrfach Ineffizienz vorgeworfen worden. Angesichts der genannten Zahlen der an den Mordtaten Beteiligten ist die Bilanz des Gerichtshofs in der Tat ernüchternd. 22 der ursprünglich achtzig Angeklagten verbüßten eine Haftstrafe, vierzehn  wurden freigesprochen, acht sind nach wie vor auf der Flucht, dreißig Verfahren wurden an nationale Gerichte übertragen.  Die Judikative Ruandas ist jedoch weder personell noch strukturell in der Lage, den Genozid juristisch aufzuarbeiten.

Ab 2005 wurden daher traditionelle Dorfgerichte, so genannte Gacaca-Gerichte, mit der Aburteilung der auf unterer Ebene am Völkermord Beteiligten befasst. Etwa 260.000 Laienrichter verhandelten hier im Rahmen öffentlicher lokaler Versammlungen. Circa 10.000 solcher Gerichte wurden etabliert, die auch eine soziale Aufgabe erfüllen sollten und hierbei, Wahrheitskommissionen nicht unähnlich, Taten rekonstruieren sowie als Versöhnungsplattformen zwischen Tutsi und Hutu dienen sollten. Die letzten dieser Verfahren wurden 2012 durchgeführt.

Die Bilanz der Gacaca-Gerichte ist ambivalent. Zwar leisteten sie in vielen Fällen einen Beitrag zur Wahrheitsfindung, Verbrechen der heutigen Regierungspartei und früheren Rebellenbewegung RPF, die vor, während und nach dem Genozid begangen wurden, waren indes von Strafverfolgung ausgenommen. Oftmals wurden Leiden der Tutsi nicht anerkannt, Hutu fühlten sich kollektiv verurteilt. Entschädigungen wurden nicht gezahlt, Zeugen bedroht; Denunziationen waren an der Tagesordnung, alte persönliche Rechnungen wurden beglichen.

Auf dem nunmehr seit über zwanzig Jahren beschrittenen Weg zum Frieden sind allerdings auch Erfolge messbar. Fortschritte wurden vor allem bei der Armutsbekämpfung sowie im Bildungs- und Gesundheitssektor erzielt.

Die internationale Gemeinschaft fördert die Friedenskonsolidierung und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit mit zahlreichen, aber nicht immer zielführenden Projekten. Die Begriffe Tutsi und Hutu sind unter Strafandrohung aus dem gesellschaftlichen und politischen Diskurs verbannt; fraglich ist jedoch, ob dies ausreicht, um die durch den Völkermord noch vertiefte rassische Konnotation der Begriffe im Bewusstsein der Ruander aufzulösen.[14]Gesellschaftliche Trennlinien existieren fort, es bestehen erhebliche Defizite in den Bereichen Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung grundlegender Menschenrechte, so auch der Presse- und Meinungsfreiheit.[15]

Wenngleich sich internationales Engagement vorrangig auf die Einführung von Rechtsstaatlichkeit, politische und gesellschaftliche Demokratisierung sowie die Rehabilitierung von Opfern des Völkermords und Initiierung von Versöhnungsprojekten fokussieren, stagniert der Demokratisierungsprozess unter Präsident Paul Kagame (RPF), der, seit 1994 im Amt, 2017 mit 98 Prozent der Stimmen seine dritte Amtszeit antrat. Zu Gute kam ihm zum einen der wirtschaftliche Aufschwung des Landes. Zum anderen präsentiert er sich als Garant für Frieden, Stabilität und Sicherheit, bezugnehmend auf den auch heute noch im ruandischen Alltag allgegenwärtigen Genozid. Das Land erlebte 1994 keinen Rückfall in alte Stammesfehden. Vielmehr organisierte eine politische und militärische Führungsschicht einen mit rasseideologischen Komponenten des 19. und 20. Jahrhunderts aufgeladenen, von einem ethnischen Nationalismus getragenen Genozid und bediente sich hierbei moderner staatlicher Strukturen, entsprechender Kommunikationsmittel und Techniken der Massenpropaganda. Gemäß den Definitionen der UN-Völkermordkonvention von 1948 stuft die internationale Gemeinschaft den Massenmord in Ruanda neben den Völkermord an den Armeniern, dem Holocaust und dem NS-Völkermord an den Sinti und Roma (Porajmos) als einen der vier Genozide des 20. Jahrhunderts ein.

 

Autor: Dr. Christian Ritz
Kontakt: info@fritz-bauer-forum.de
Headerbild: Nicolas Pinault/VOA, Kigali-Skyline-NP-480, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

Zitat: Christian Ritz, “Der Genozid in Ruanda 1994”, in: https://www.fritz-bauer-forum.de/menschenrechts/der-genozid-in-ruanda-1994/


Anmerkungen
[1] Amnesty International Report über den Massenmord in Ruanda, 30. April 1994 (zuletzt abgefragt am 4.10.2018).

[2] UN Sicherheitsrat, UN-Resolution 872, 5. Oktober 1993 (zuletzt abgefragt am 4.10.2018).

[3] Vgl. Alison Des Forges, Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda. Hamburg 42002, vor allem S. 282 ff., Original: Leave none to tell the story, Genocide in Rwanda. Michigan 1999. Zur Bildung der Übergangsregierung ebd., S. 238 ff.

[4] Siehe die “10 Gebote der Hutu” (zuletzt abgefragt am 4.10.2018)

[5] Vgl. zur rhetorische Entwicklung Anna-Maria Brandstetter, Die Rhetorik von Reinheit, Gewalt und Gemeinschaft: Bürgerkrieg und Genozid in Rwanda, in: Sociologus, Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie. Journal for Empirical Social Anthropology, Jg. 51 (2001), Heft 1/2, S. 148-184.

[6] Hierzu detailliert Scott Straus, The Order of Genocide. Race, Power and War in Rwanda, Ithaca (NYC) 2006, S. 108 und S. 117 f.

[7] Bericht der Unabhängigen Untersuchungskommission vom 15. Dezember 1999 zum Verhalten der Vereinten Nationen während des Völkermordes in Ruanda 1994, Auszüge in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2 (2000), S. 234-249; sogenannter Carlsson-Bericht).

[8] Vgl. seine Darstellung: Roméo Dallaire, Handschlag mit dem Teufel. Die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda. Frankfurt a. M. 2003.

[9] Carlsson-Bericht, wie Anm. 9.

[10] Text der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords, 9. Dezember 1948, mit aktuellem Ratifizierungsstand (zuletzt abgerufen am 4.10.2018).

[11]  Erklärung Kofi Annans zum 10. Jahrestag des Völkermordes in Ruanda, 7. April 2004 (zuletzt abgerufen am 4.10.2018).

[12] Vgl. Details zu den Urteilen des Ruanda-Tribunal auf der Fall-Webseite (zuletzt abgerufen am 4.10.2018).

[13] Der Internationale Residualmechanismus (Mechanism for International Criminal Tribunals, MICT), wurde am 22. Dezember 2010 durch Resolution 1966 des UN-Sicherheitsrates geschaffen und ist Rechtsnachfolger der beiden Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und für Ruanda (ICTR). Als Nebenorgan des UN-Sicherheitsrates besteht die Aufgabe des MICT mit Sitz in Den Haag im Wesentlichen darin, anhängige Verfahren zum Abschluss zu bringen.

[14] Eine Übersicht der Erinnerungsorte hat der Kirchenkreis-Saarost-Butare auf seiner Webseite publiziert (zuletzt abgerufen am 4.10.2018).

[15] Vgl. hierzu das Mustergutachten der Bertelsmann-Stiftung zum Stand der wirtschaftlichen und politischen Transformation in Ruanda – Bertelsmann Transformation Index 2003 (zuletzt abgerufen am 4.10.2018).

Literatur (Auswahl)

Michael Barnett, Eyewitness to a Genocide. The United Nations and Rwanda,London 2002.

Anna-Maria Brandstetter, “Die Rhetorik von Reinheit, Gewalt und Gemeinschaft: Bürgerkrieg und Genozid in Rwanda”, in: Sociologus, Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie. Journal for Empirical Social Anthropology, Jg. 51 (2001), H. 1/2, S. 148-184.

Phil Clark, The Gacaca-Courts, Post-Genocide Justice and Reconciliation in Rwanda: Justice without Lawyers. Cambridge 2011.

Ders., u.a. (Hrsg.), “Special Issue: Rwanda under the RPF: Assessing 20 years post-conflict governance“, in: Journal of Eastern African Studies, (2014), vol. 8, no. 2.

Roméo Dallaire, Handschlag mit dem Teufel. Die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda. Frankfurt a. M. 2003.

Alison Des Forges, Kein Zeuge darf überleben: Der Genozid in Ruanda. Hamburg 2002.

Philip Gourevitch, Wir möchten Ihnen mitteilen, daß wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden. Berichte aus Ruanda. Berlin 2001.

Leonhard Harding (Hrsg.), Ruanda – der Weg zum Völkermord. Vorgeschichte – Verlauf – Deutung. Hamburg 1998.

Nicolas A. Jones, The Courts of Genocide: Politics and the Rule of Law in Rwanda and Arusha. New York 2010.

Klaus Liebetanz, “Wie können wir in Zukunft einen Völkermord verhindern? Gedanken zum Völkermord 1994 in Ruanda”, in: Internationales Afrikaforum, 33 (1997), 1, S. 75-81.

Paul J. Magnarella, Justice in Africa. Rwanda’s Genocide, its Courts, and the UN Criminal Tribunal. Vermont 2000.

Mahmood Mamdani, When Victims Become Killers. Colonialism, Nativism, and Genocide in Rwanda. Kampala 2001.

Linda Melvern, Ruanda. Der Völkermord und die Beteiligung der westlichen Welt. München 2004.

Scott Straus, The Order of Genocide. Race, Power and War in Rwanda. Ithaca (NYC) 2006.

Ders., Lars Waldorf (Hrsg.), Remaking Rwanda: State Building and Human Rights after Mass violence. Wisconsin, London 2011.

James Traub,The Best Intentions. Kofi Annan and the UN in the Era of American World Power,  New York 2006.

Links (Auswahl mit weiterführenden Links)

https://www.exzellenzcluster.uni-konstanz.de/ruanda.html
Kurze Übersicht über die Forschung zu Ruanda

http://www.genocide-alert.de/projekte/20-jahre-nach-dem-genozid-in-ruanda/hintergrund/
Detaillierte Hintergründe zum Genozid

https://www.sos-kinderdoerfer.de/aktuelles/video/ruanda-20-jahre-genozid
Übersicht über Entwicklungspolitik nach dem Genozid

http://bti2003.bertelsmann-transformation-index.de/83.0.html
Studie zur Entwicklung Ruandas nach dem Genozid

https://kirchenkreis-saarost-butare.chapso.de/genozid-gedenkstaetten-s183616.html
Übersicht über die wichtigsten Erinnerungsorte in Ruanda

http://unictr.irmct.org/en/cases
Übersicht über die vor dem Internationalen Gerichtshof verhandelten Fälle

http://www.preventgenocide.org/
Bildungsportal zu Völkermord allgemein

https://www.unric.org/de/pressemitteilungen/2036
Pressemitteilung der Vereinten Nationen zum 10. Jahrestag des Völkermords

https://www.uni-marburg.de/icwc/dateien/voelkermordkonvention.pdf
Text der UN-Völkermordkonvention vom 9.12.1948, inkraftgetreten am 12.01.1951

Cookie-Einstellungen
Auf dieser Website werden Cookie verwendet. Diese werden für den Betrieb der Website benötigt oder helfen uns dabei, die Website zu verbessern.
Alle Cookies zulassen
Auswahl speichern
Individuelle Einstellungen
Individuelle Einstellungen
Dies ist eine Übersicht aller Cookies, die auf der Website verwendet werden. Sie haben die Möglichkeit, individuelle Cookie-Einstellungen vorzunehmen. Geben Sie einzelnen Cookies oder ganzen Gruppen Ihre Einwilligung. Essentielle Cookies lassen sich nicht deaktivieren.
Speichern
Abbrechen
Essenziell (1)
Essenzielle Cookies werden für die grundlegende Funktionalität der Website benötigt.
Cookies anzeigen
Statistik (1)
Statistik Cookies tracken den Nutzer und das dazugehörige Surfverhalten um die Nutzererfahrung zu verbessern.
Cookies anzeigen