"Ruth, Kindheitsfreundin, bitte geh weiter durch meine Straßen, sprich weiter meine Sprache."

Maria Antonia Gonzáles

* 7. Juli 1931 in Valparaiso, Chile
Staatsangehörigkeit bei Geburt: Chile
Kind

Celia Paz Fajardo-Poser

* 16. April 1968 Valparaiso
Land des Kampfes für die Menschenrechte: Chile
Ort des Kampfes für Menschenrechte: Valparai­so

Kommunistische Partei

Ort: Valparaiso
Eintrittsgrund: Soziales Engagement
Funktion / Tätigkeit:

Leitmotiv

Eine junge Frau kämpft um’s Überleben und ein rettendes Asylland auf der Flucht vor den Folterkammern der chilenischen Militärs. Sie findet Zuflucht in der DDR und erinnert sich nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung auf einer Spurensuche in Berlin an die Geschichte ihrer Jugendfreundin Ruth Clara Grünberg.

Ruth entkam Ende der 1930er Jahre auf der Flucht vor den Nazis nach Chile, wo sich die beiden als junge Mädchen in der Schule kennenlernten. Zwei Überlebensgeschichten, ein Schicksal.

  • Persönlichkeit
  • Politische Einstellung
  • Solidarität
Menschenwürde
Verbot von Folter oder grausamer, unmenschlicher Behandlung
Verbot der willkürlichen Verhaftung oder Ausweisung
Recht auf Wahrheit

EINLEITUNG

Eine junge Frau kämpft um’s Überleben und ein rettendes Asylland auf der Flucht vor den Folterkammern der chilenischen Militärs. Sie findet Zuflucht in der DDR und erinnert sich nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung auf einer Spurensuche in Berlin an die Geschichte ihrer Jugendfreundin Ruth Clara Grünberg.

Ruth entkam Ende der 1930er Jahre auf der Flucht vor den Nazis nach Chile, wo sich die beiden als junge Mädchen in der Schule kennenlernten. Zwei Überlebensgeschichten, ein Schicksal.

DIE GESCHICHTE

Leben ausgetauscht

“Leben ausgetauscht” ist der Titel dieser Geschichte, weil sie an die Überlebensge­schichten gleich zweier Menschen erinnert. An zwei Frauen, die vor Unrecht und brutaler Gewalt fliehen und in einer fremden Umgebung neu anfangen mussten.

Durch Maria Antonia Gonzáles Cabezas, die sich vor dem Militärregime in Chile, das ab 1973 das Land beherrschte, in die DDR rettete, wurde die Geschichte der beiden Frauen überliefert. Zwei Leben, die unterschiedlicher kaum sein könnten und die doch viel verbindet.

Deutschland 1933

Die Geschichte beginnt 1933 in Deutschland, unmittelbar nach der so genannten Machtergreifung der Nationalsozialisten. In dieser schlimmen Zeit wuchs das Mädchen Ruth Clara Grünberg – ihr Geburtstag ist der 10. Dezember 1931 – in einem gut bürgerlichen Elternhaus in Berlin auf. Ihr Vater, Hans Max Grünberg, dem im April 1933 aufgrund des nationalsozialistischen “Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” die Zulassung zum Rechtsanwaltsberuf entzogen wurde, erkannte schnell, dass es keine Überlebensmöglichkeit die Familie in Deutschland mehr gab. So schnell wie möglich mussten sie das Land verlassen und sich in Sicherheit bringen.

Auf der anderen Seite des Atlantiks wuchs zur selben Zeit die zwei Jahre ältere Maria Antonia Gonzáles als Tochter einer Handwerkerfamilie in der chilenischen Hafenstadt Viña del Mar auf. Über die politischen Entwicklungen in Deutschland und das Nazi-Regime wussten sie und ihre Eltern damals wenig. Maria Antonias Vater war Zimmerman und Möbelrestaurator. Die Vorfahren waren sephardische Juden, die mit der Einführung der Inquisition zum Katholizismus konvertierten und im 18. Jahrhundert von Spanien nach Chile auswanderten. Erst Jahre später erfuhren Mari­a und ihre Familie vom Schicksal der vielen von den Nazis Verfolgten und dass Ruths Odyssee nach Chile kein Einzelfall war.

Ruth Clara Grünberg war erst anderthalb Jahre alt, als ihre Eltern Hans Max und Käte Frank Grünberg von Berlin nach Belgien flohen. Dort blieben die Grünbergs zwei Jahre, bis sie sich entschieden, nach Spanien weiterzuwandern. Schon bald mussten sie jedoch auch von dort aus wieder fliehen, diesmal vor dem spanischen Bürgerkrieg (1936-1939). Im Jahr 1938 gelangten sie in die Schweiz, wo Ruths Vater versuchte, durch den Verkauf seiner Bücher und Schriften die Familie über Wasser zu halten. Infolge der wachsenden Zahl der Flüchtlinge aus Deutschland, die nach der so genannten “Reichskristallnacht” vom 9. November 1938 ihr Land schnellstmöglich verlassen mussten, wurde die Situation der Familie jedoch auch in der Schweiz bald unerträglich. Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland waren nicht willkommen, “Das Boot ist voll”, lautete die Parole.

Ruth Eltern versuchten, mit ihren Kindern nach Australien weiterzuwandern. Nachdem sie keine Visa für den australischen Kontinent bekommen konnten, entschlossen sie sich schließlich schweren Herzens, ans äußerste “Ende der Welt”, nach Chile an der Westküste Lateinamerikas auszuwandern. Am 13. November 1939 kam die Familie zusammen mit vielen weiteren Flüchtlingen nach jahrelanger Odyssee in der malerisch gelegenen Hafenstadt Valparaiso an. Wieder mussten sie sich eine neue Existenz schaffen.

Ruth wurde bald nach der Ankunft im katholischen Mädchengymnasium Liceo las Niñas im benachbarten Städtchen Viña del Mar, einem Badeort, eingeschult. Hier war es, wo sie schon bald die gleichaltrige Mari­a Antonia Gonzáles kennenlernte, die hier Zuhause war. Die beiden Mädchen freundeten sich an und auf gemeinsamen Ausflügen und Spaziergängen erzählte Ruth ihrer neuen chilenischen Freundin Geschichten und Erinnerungen an Berlin, den Ort ihrer Kindheit, der als Sehnsuchtsort durch die Erzählungen ihrer Eltern stets lebendig blieb.

Die Wege der beiden Freundinnen trennten sich erst wieder, nachdem beide 1949 das Abitur mit Auszeichnung bestanden hatten. Maria Antonia begann ihr Studium an der Universidad Católica de Chile im Fach Bio-Mathematik, während Ruth Angestellte bei Duncan Fox wurde, einer Export- und Importfirma. Ruths Vater Hans Max Grünberg, der den Weg nach Chile so mühsam gebahnt hatte, starb am 22. Januar 1953 in Quilpué. Er erlebte die Heirat seiner Tochter Ruth und die Geburt seiner Enkelkinder Perla (1957) und Rebecca (1961) nicht mehr, die beide in Chiles Hauptstadt Santiago zur Welt kamen. Ihre Mutter und Großmutter Käthe Grünberg, die ein einfaches Leben führte, sehnte sich Zeit ihres Lebens nach Berlin zurück. Sie starb 1981 nach schwerer Krankheit.

Die Familie Grünberg gehörte zu den 80.000 Flüchtlingen aus Europa, die auf der Flucht vor den Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1941 in Lateinamerika Asyl fanden, circa 13.000 davon in der Andenrepublik Chile. Die meisten flohen nach dem Novemberpogrom 1938 aus Deutschland und kamen mittellos in ihrem Asylland an. Wie die Grünbergs wanderten sie über die Hafenstadt Valparaiso ein und fuhren von dort weiter in die Hauptstadt, wo es mehr Möglichkeiten für einen Neustart gab. Viele der Flüchtlinge waren Kaufleute, nur wenige Handwerker oder Freiberufler, wobei Rechtsanwälte und Ärzte es besonders schwer hatten, da sie ihre Ausbildung nach den Regeln des Aufnahmelandes wiederholen mussten.

Trotz anfänglicher Schwierigkeiten mit der Sprache und fremden Gebräuchen, nicht zuletzt trotz aufflackerndem Antisemitismus und einer rassistischen Gesetz­gebung, gelang es den meisten, sich eine neue Existenz aufbauen. Flüchtlinge aus Deutschland übernahmen Hilfsdienste, gründeten Geschäfte und einige wenige gingen auch aufs Land und wurden Farmer. Das waren jedoch Ausnahmen, fast alle, die mit einem so genannten „Südvisum” einreisten, das sie verpflichtete, in der Landwirtschaft tätig zu werden, wanderten später aus dem Süden in die größeren Städte Mittelchiles, vor allem nach Santiago und Valparaiso. Dort gründeten sie neue deutsch-jüdische Religionsgemeinschaften, wobei allerdings die wenigsten vor ihrer Flucht ein religiöses Leben geführt hatten. Vor allem die jüngere Generation, diejenigen, die bereits in Chile zur Schule gingen, integrierte sich rasch, während die ältere Generation sich vom Trauma der Flucht und dem Verlust ihres Zuhauses nur schwer oder auch gar nicht erholte.

Als sich Ende der 1930er/ Anfang der 1940er Jahre antisemitische Stimmen gegen die “jüdische Immigration” in Chile erhoben, war unter den Verteidigern der Flüchtlinge, der sich für offene Grenzen einsetzte und eine entsprechende Petition unterzeichnete, auch ein sozialistischer Politiker, der 35 Jahre später Opfer der chilenischen Militärdiktatur unter General Pinochet wurde: der demokratisch gewählte Präsident Dr. Salvador Allende. Mit seinem erzwungenen Selbstmord am 11. September 1973, dem Tag des brutalen Militärputsches, beginnt die Geschichte der Verfolgung und Flucht von Maria Antonia Gonzáles. Sie führte die junge Frau schließlich in die umgekehrte Richtung: aus Chile nach Deutschland.

Chile 1973

Am 11. September 1973 endete die demokratische Tradition Chiles vorerst jäh. Das chilenische Militär unter General Pinochet brachte sich mit Unterstützung durch die USA nach einer jahrelangen Destabilisierungskampagne mit einem Putsch an die Macht. Es war ein beispielloser Verrat. Eine Verfolgungswelle begann, die zum größten Exodus in der chilenischen Geschichte wurde. Viele der Flüchtlinge überlebten Folter und Gefängnisse und viele kamen nur deshalb frei, weil sie zustimmten, ins Exil zu gehen. So auch Maria Antonia Gonzáles, die wie ihr Vater Mitglied in der Kommunistischen Partei Chiles (PPCh) war und sich für die Rechte der Arbeiterschaft engagierte.

Wie Maria Antonia waren die meisten Opfer des Militärregimes Mitglieder und Sympathisanten der Regierung der Unidad Popular, allein bis Ende des Jahres 1973 wurden über 13.000 Menschen von Polizei und Militär verhaftet. Viele der Flüchtlinge waren Jahre im Gefängnis oder sie fanden Schutz unter dem Dach der Botschaften von Ländern, die bereit waren, Flüchtlinge aufzunehmen.

Es kam zu Massenverhaftungen, so wurden im Estadio Nacional in Santiago um die 40.000 Gefangene interniert. In Pisagua und Chacabuco, im Norden des Landes, wurden Konzentrationslager errichtet, um Oppositionelle “verschwinden” zu lassen, was hieß, sie umzubringen. An die 4.000 Menschen, die US-Botschaft geht von 5.000 aus, wurden ermordet, die genaue Zahl ist nicht bekannt, ebensowenig wie die Zahl der spurlos “Verschwundenen”. Zehntausende mussten ins Ausland fliehen, von denen etwa 3.000 in die Bundesrepublik gekommen sein sollen und circa 6.000 in der DDR Asyl fanden, auch hier gibt es keine genaueren Zahlen.

Mit dem Putsch von 1973 wurde die Opposition für Jahre ausgeschaltet, Parteien und Gewerkschaften wurden verboten, das Land politisch gleichgeschaltet. Maria Antonia, die sich für gleiche Löhne von Angestellten und Arbeiter_innen in der Kupferindustrie eingesetzt und die Streikbewegung für die Nationalisierung der für Chile so wichtigen Kupferindustrie aktiv unterstützt hatte, erlebte am 11. September 1973, dass das Mathematische Institut der Universität in Valparaiso, wo sie Statistikseminare gab, von Marineeinheiten besetzt worden war. Zu Fuß, wie sie bereits gekommen war, machte sie sich auf den Weg zurück nach Viña del Mar, wo sie gegen Mitternacht ankam. Da gingen die Nachrichten über die Bombardierung des Präsidentenpalastes im Zentrum von Santiago und den Putsch der Generäle um Augusto Pinochet längst um die Welt.

Maria Antonia musste als Mitglied der PCCh und weil sie als Freiwillige Aufbauarbeit im revolutionären Kuba geleistet hatte, wo sie im Industrieministerium bei der Ausbildung von Statistiker_innen half, das Schlimmste befürchten. Tatsächlich wurde sie am 5. Oktober 1973 von Soldaten aus ihrem Haus geholt und zunächst in die Schwimmhalle von Valparaiso gebracht, die die Militärs als Folterzentrum benutzten. Von dort aus transportierten die Schergen der DINA, der chilenischen Geheimpolizei, sie in das Frauengefängnis – ein ganzes Jahr lang zusammen mit ihrer damals fünfjährigen Tochter Celia.

Maria Antonia Gonzáles überlebte das Gefängnis und die Folter mit ihrer Tochter Celia und weiß davon zu erzählen, wie sich die Frauen im Gefängnis durch Lieder und Tänze gegenseitig Mut machten. Sie kamen frei, weil sie unmittelbar nach der Entlassung in die DDR fliehen konnten, die eine Einladung ausgesprochen hatte. Am 14. November 1974 landeten die beiden in Berlin Schönefeld und wurden zunächst mit anderen chilenischen Exilantenfamilien im Schloss Friedensburg in Leutenberg untergebracht. Im Januar 1975 zogen sie nach Potsdam und Celia fand arbeitet in der Blutspendestelle, später am Physiologischen Institut der Berliner Humboldt-Universität. Sie hat gute Erinnerungen an diese Jahre, in der sie sich mit ihrer erwachsen werdenden Tochter ein neues Leben aufbaute.

In Potsdam erlebte Maria Antonia Gonzáles 1989 die überraschende Wiedervereinigung und von hier aus machte sie ihre ersten Ausflüge in den Westen Berlins. Welche Überraschung war es da, plötzlich all die Orte und Straßen zu entdecken, die sie bisher nur aus den Geschichten von Ruth kannte. Auf einmal stand die Jugendfreundin wieder vor ihr, der sie jetzt, aufgewühlt von dem gemeinsamen Schicksal, ein Gedicht schrieb. Ihre Zeilen haben die Freundin nicht mehr erreicht. Was Maria Antonia damals nicht wusste war, dass Ruth Clara Grünberg am 25. November 1989, wenige Tage nach der Öffnung der Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR, in Chile gestorben war. Während Maria Antonia die Geschichten ihrer Freundin in den Sinn kamen und sie die Orte von Ruths Kindheit in Berlin entdeckte, konnte diese selbst nicht mehr nach Deutschland zurückkehren.

Maria Antonia Gonzáles und ihre Tochter Celia sahen ihre chilenische Heimat einige Jahre später wieder. Ein Ausreiseantrag nach Chile, wohin Exilanten seit 1989 zurückkehren konnten, wurde nicht bewilligt, da Maria Antonia zu alt sei, um für sich zu sorgen. Sie blieb in Deutschland und kehrte stattdessen mit ihrer Familie, Celia hatte inzwischen geheiratet und zwei Kinder, mit einem Touristenvisa auf Besuchsreise nach Viña del Mar zurück – dorthin, wo sie und ihre Freundin Ruth so glückliche Jugendjahre verbracht hatten.

 

Maria Antonia González Cabezas

Ruth (*)

Wie schön wäre gewesen,
in den engen Straßen zu spielen,
in jenem Innenhof, mit Bäumen,
die über Ziegeldächer hinausragen.
Die Treppe zum Ufer hinunterzulaufen
und, vorbei an blühenden Büschen,
über die Steine zu hüpfen.
Den Pfiff in den Ohren zu spüren,
der die Ankunft eines
Fernzugs verkündet,
Pferdekutschen
stehen wartend am Bahnhof,
kommen die Straße hinauf
zur Eisenbrücke, die über die Spree führt,
das rhythmische Hufgetrappel,
die Rufe des blonden Kutschers,
der in seiner Rechten
die Peitsche schwingt.
Und dabei einen Buchstaben
in die klare Luft des sich neigenden
Vormittags zeichnet.

Wie schön wäre gewesen,
stürmisch den Türklopfer
gegen Ruths Haustür zu schlagen
und zusammen zur Schule zu gehen,
die blank polierten
kaffeebraunen Ranzen
stolz auf den Rücken geschnallt.
Nebeneinanderher zu schlendern
und über Spanisch-
oder Englischtexte zu plaudern,
über die wir Bescheid gewusst hätten,
dank unserer vortrefflichen Lehrerinnen.
Am Fluss entlangzulaufen
Und auf die Schiffe zu zeigen,
die Richtung Hamburg fahren.
Das Brandenburger Tor
im Abendlicht zu betrachten,
während die Berliner
sich „Unter den Linden” ergehen.
Den Jazzrhythmen zu lauschen,
die von den offenen Fenstern
des Saals herüberdringen,
wo das Orchester probt.

Im Kino Babylon den neuesten
Fritz-Lang-Film zu sehen,
Ostwärts zu blicken,
die Sonne entfernt sich, der Himmel
füllt sich mit Sternen.
Die Milchstraße, der Große Bär
lassen mich träumen,
mich träumen, im geliebten
Berlin gewohnt zu haben,
das ich durch Ruths
Erzählungen kenne.

Wie schön wäre es,
mit dir gemeinsam
durch die mir noch fremden Straßen
des neuen Berlins zu gehen,
dessen Antlitz sich mit jedem Tag wandelt,
das wächst und sich mit den grellen
Regenbogenfarben schminkt,
wie wir sie gestern am Himmel sahen.
Das Rattern zu hören
der Bohrmaschinen
und Presslufthammer.

Dabei zu sein, wie ein Viertel
evakuiert wird, weil eine Bombe
entdeckt wurde, abgeworfen bei einem
Luftangriff vor fünfzig Jahren.

Ruth, ich sende dir Grüße aus Berlin,
während du durch Viña del Mar gehst.
Du durch meine Straße,
ich durch deine Straße,
1939 kamst du mit deinen Eltern
aus Deutschland,
Opfer der
Judenverfolgung.
Neun Jahre gingen wir
in eine Klasse.
Heute denk ich an dich,
in deinem Heimatland, in deiner Stadt,
in welche ich mit meiner Tochter kam,
nachdem ich in meiner Heimat
gefoltert,
ins Gefängnis gesteckt und
schließlich aus dem Land
vertrieben wurde, von jenen, die

am 11.9.1973
in Chile die Macht an sich rissen,
den Nachkommen dessen, der dich
und die Deinen verfolgt hat.
Frag nicht nach jenem Tag,
als jäh die Nacht einbrach.
Die Bäume standen in Blüte,
ließen duftende Früchte erahnen,
und im Bächlein sah man die kleinen
bunten Fische dahingleiten,
so klar war das Wasser.
Der weiche Sand am nahen Meer
lockt dich zu bleiben, und das
Wellenrauschen lullt dich ein.
Ein Schiff läuft aus und sucht nach neuen Meeren.
Allmählich sinkt die Sonne in den Horizont.
Und schon ist der Himmel voll funkelnder Sterne.
Nach und nach gehen die Straßenlaternen an.
Wir müssen nach Hause, es ist spät.
Wir müssen ins Bett, morgen ist auch noch ein Tag.
Doch es wurde nicht mehr Tag, nur noch
finstere, schmerzvolle Nacht,
ohne Mond, ohne Sterne, viele Jahre lang,
in diesem Land, wo jäh die Nacht einbrach.

Ruth, Kindheitsfreundin,
so wie am 8. Mai 1945, nach Jahren des Blutvergießens,
der Frieden auf der Welt wiederhergestellt war,
und deine Heimat aus Ruinen auferstand –
nicht mehr eins wie zuvor, sondern für lange Zeit geteilt -,
so nähert sich auch Chile nach siebzehn Jahren
Schritt für Schritt der Demokratie,
strebt nach Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit.
Bitte geh weiter durch meine Straßen,
sprich weiter meine Sprache.
Ich wandle durch Berlin
und sage deine Worte.

(*) Ruth Clara Grünberg 10.12.1931 – 29.11.1989

Aus dem Spanischen übersetzt von Hanna Grzimek

 

Autorin: Dr. Irmtrud Wojak

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