„Dies ist meine Geschichte. Sie ist nur EINE Geschichte über ein Leben unter Bomben und Beschuss. Es gibt so viele andere Geschichten und viele von ihnen sind nie erzählt worden.“

Nujeen Mustafa

* 01.01.1999 in Kobane, Syrien
Staatsangehörigkeit bei Geburt: Syrisch
Land des Kampfes für die Menschenrechte: Deutschland und auf internationaler Ebene
Ort des Kampfes für Menschenrechte: Internationale Konferenzen, Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
Bereich Art Von Bis Ort
Ausbildung Neull-Breuning-Berufskolleg 2015 2023 Bad Honnef am Rhein

Leitmotiv

Nujeen ist Überlebende von Bombenangriffen in Syrien, für ein sicheres Leben fernab der Bomben nahm sie die gefährliche Flucht im Rollstuhl nach Deutschland auf sich. Seither setzt sie sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung und gegen Bombardierungen in Wohngebieten ein ­–  eine Praxis, die in aktuellen bewaffneten Konflikten stets zahlreiche zivile Opfer fordert.

Wie wurde die Geschichte bekannt?

Auf ihrer 5.600 km langen Flucht nach Deutschland im Rollstuhl, die sie über acht Ländergrenzen hinweg führte, erregte sie mediale Aufmerksamkeit und gab verschiedene Interviews.

Wann wurde die Geschichte bekannt?

2015

Wo wurde die Geschichte bekannt?

In einem Interview mit dem Journalisten Fergal Keane der BBC: https://www.bbc.com/news/av/world-europe-34275165

Preise, Auszeichnungen

2019: Alison Des Forges Award für Außergewöhnlichen Aktivismus (Human Rights Watch)

Literatur (Literatur, Filme, Webseiten etc.)

Buch:

Mustafa, Nujeen; Lamb, Christina (2016). „Nujeen – Flucht in die Freiheit. Im Rollstuhl von Aleppo nach Deutschland“, HarperCollins.

Titel der englischen Originalausgabe: “Nujeen: One Girl’s Incredible Journey From War-torn Syria In A Wheelchair”.

 

Film:

Die Hilfsorganisation Handicap International erzählt die beeindruckende Geschichte von Nujeen Mustafa in einem berührenden Film von Regisseurin Lara Brose: “Mit dem Rollstuhl auf der Flucht nach Europa: Ein Portrait von Nujeen Mustafa aus Syrien”

 

Ted Talks:

I Am Not a Number: A Refugee’s Tale, TedxExeter

My Journey from Syria to Germany in a wheelchair, TedxNishtiman

Menschenwürde
Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit
Recht auf soziale Sicherheit
Recht auf soziale Sicherheit

EINLEITUNG

Nujeen Mustafa ist syrische Kurdin, die 1999 in Kobane (Nordsyrien) mit Zerebralparese geboren wurde und in Aleppo aufgewachsen ist. Aufgrund der zunehmenden Bombardierungen und des Beschusses ihrer Heimatstadt flüchtete sie im Jahr 2014 mit dem Großteil ihrer Familie zunächst in die Türkei. Ein Jahr später, im Alter von 16 Jahren, setzte sie ihre Flucht zusammen mit ihrer Schwester nach Deutschland fort. Auf diesem gefährlichen Weg überquerten sie zunächst mit einem Schlauchboot das Mittelmeer sowie insgesamt acht Ländergrenzen mit Bus, Bahn und zu Fuß, wobei ihre Schwester ihren Rollstuhl schob. Schließlich landete sie in der Nähe von Köln, wo bereits ihr Bruder lebte.

Seither kämpft sie sowohl in Deutschland als auch auf internationaler Ebene als Aktivistin für die Rechte von Geflüchteten mit Behinderung und gegen die Bombardierung von Wohngebieten. Der Einsatz von Explosivwaffen in bevölkerten Gebieten wird in heutigen bewaffneten Auseinandersetzungen immer häufiger. Grund dafür ist, dass sich Konflikte zunehmend in Städte und andere besiedelte Gebiete verlagern. Die dabei verwendeten Explosivwaffen verursachen aufgrund ihres fehlenden Präzisionsgrades und ihres großen Wirkungsbereiches stets zahlreiche zivile Opfer. Daten der letzten Jahre haben immer wieder gezeigt, dass 90% der Opfer von Einsätzen von Explosivwaffen in bevölkerten Gebieten Zivilist*innen sind.

Nujeens Engagement für Menschenrechte ist sehr vielseitig. Dabei gilt es besonders hervorzuheben, dass sie im Jahr 2019 als erste jemals dorthin eingeladene Person mit Behinderung vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sprach. Dabei unterrichtete sie das Gremium basierend auf ihrer persönlichen Betroffenheit über die Situation und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung im Krieg und auf der Flucht.

DIE GESCHICHTE

Leben in Syrien

Nujeen wuchs in der syrischen Stadt Aleppo auf und wohnte dort mit ihrer Familie in einer Wohnung im fünften Stock – allerdings ohne Aufzug. Somit war ein spontanes Treffen mit Freund*innen oder gar der Besuch einer Schule eine Sache der Unmöglichkeit. Denn die Infrastruktur in Syrien ist nicht auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung ausgelegt. In ihrer Rede vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen berichtete sie, dass man als Mensch mit Behinderung in Syrien mit Scham, Diskriminierung und physischen Barrieren konfrontiert ist und oft sogar versteckt wird. Glücklicherweise konnte sie sich stets auf ihre fürsorgliche Familie stützen. Trotz fehlendem Schulbesuch brachte sie sich vollkommen autodidaktisch die englische Sprache bei, nämlich durch das Lesen von Büchern und das Schauen von US-amerikanischen Seifenopern und Dokumentarfilmen von National Geographic. Nujeen beschreibt ihr Leben vor dem Krieg folgendermaßen: „Es war nicht perfekt, aber ich liebte es.“

Der Krieg änderte alles schlagartig: Die Situation im fünften Stock ohne Aufzug wurde nicht nur zum Hindernis im Alltag, sondern gar zur Gefahr für Leib und Leben. So schreibt Nujeen in ihrem Buch: „Als der Konflikt ausbrach und die Bombenangriffe begannen, wurde ich sehr ängstlich und nervös. Ich fühlte mich in meinem eigenen Haus nicht mehr sicher. Als der Lärm der Bombardierung immer lauter wurde, stellte ich auch den Fernseher immer lauter. Im Gegensatz zu anderen Menschen konnte ich nicht weglaufen und mich verstecken. Da ich in einem oberen Stockwerk ohne Aufzug wohnte, konnte ich in meinem Rollstuhl nicht schnell den sicheren Schutzraum erreichen, wenn wir evakuiert werden mussten.“ Für eine sichere Zukunft, eine Zukunft fernab der Bomben, blieb schließlich nur eine Möglichkeit: Die Flucht ins sichere Europa.

 

Flucht

Zusammen mit einem Teil ihrer Familie flüchtete Nujeen zunächst in die Türkei. Aus finanziellen Gründen musste sie ihre Eltern dort zurücklassen und mit ihrer älteren Schwester Nisreen nach Deutschland weiterziehen. Vor Ort kam sie bei einem ihrer Brüder unter, der bereits seit vielen Jahren dort lebte.

Die Flucht nach Europa kostet regelmäßig viele Flüchtende das Leben, sie ist unfassbar gefährlich und von massiven Hürden geprägt. Viele Menschen führt sie zunächst in provisorischen Booten über das Mittelmeer. In ihrem Buch schreibt Nujeen: „Einige nennen die Überfahrt an dieser Stelle riblat al-moot, Todesroute. Entweder sie führte uns nach Europa oder sie verschlang uns“. Im Rollstuhl ist die Überfahrt ein noch risikoreicheres Unterfangen: „Ich begriff nicht, wie nahe wir dem Tod waren. Mein Rollstuhl hätte nur einen kleinen Riss im Gewebe des Bootes verursachen müssen, dann wäre es voll Wasser gelaufen und gesunken“.

Nach der Überquerung des Mittelmeeres kamen sie auf der griechischen Insel Lesbos und dem dort größten Geflüchtetenlager Moria an. Eine Unterkunft ohne jegliche Infrastruktur – unvorstellbare Barrieren für einen Menschen mit Behinderung. Von dort ging der beschwerliche Weg weiter: Per Bahn, Bus, Taxi oder auch zu Fuß und über mehrere Ländergrenzen hinweg mussten Nujeen und ihre Schwester jeden Tag aufs Neue Wege finden, um an ihr Ziel zu gelangen. Nujeens Englischkenntnisse erleichterten beiden enorm die Kommunikation auf ihrem langen Weg durch die Türkei, Griechenland und Osteuropa.

Schon während ihrer Flucht erlangte Nujeen medial Aufmerksamkeit, als sie vom Journalisten Fergal Keane von der BBC interviewt wurde. Dem Hohen Flüchtlingskommisar der Vereinten Nationen zufolge haben ihr Optimismus und ihr unerschütterlicher Wille – aller Herausforderungen zum Trotz – Nujeen zum menschlichen Gesicht einer zunehmenden entmenschlichenden Krise gemacht.

Abb. 1: Nujeen Mustafa, Foto von ihrer Schwester Nisreen Mustafa.

 

Leben in Deutschland

Ende 2016 – ein Jahr nach ihrer Ankunft – wurde Nujeen Asyl in Deutschland gewährt. Seitdem lebt sie in der Nähe von Köln und ging dort zum ersten Mal in ihrem Leben auch zur Schule. Bis zu ihren Abiturprüfungen im Mai 2023 besuchte sie ein örtliches Berufskolleg. Ihre Eltern konnten die Schwestern mittlerweile nach Deutschland nachholen. Neben Kurdisch, Arabisch und Englisch spricht Nujeen nun auch fließend Deutsch und lernt derzeit noch Japanisch.

 

Nujeen’s Engagement für Menschenrechte

Seit ihrer Ankunft in Deutschland engagiert sie sich hier sowie auf internationaler Ebene für die Rechte von Menschen mit Behinderung. In Deutschland engagiert sie sich als Selbstvertreterin im Projekt Crossroads der Hilfsorganisation Handicap International, das die Verbesserung der Teilhabe geflüchteter Menschen mit Behinderung zum Ziel hat.

Auf internationaler Ebene hat Nujeen bereits zahlreiche Interviews sowie Vorträge über ihre Erfahrungen als junge geflüchtete Frau mit einer Behinderung gegeben: bei den Vereinten Nationen in Genf, bei TEDx im Vereinigten Königreich und im Irak als Hauptrednerin bei der Preisverleihung des Nansen Refugee Awards 2017. Im Jahr 2019 war sie die erste vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingeladene Person mit Behinderung, die dessen Mitglieder über die Situation von Menschen mit Behinderung in Folge von Krieg und auf der Flucht unterrichtete. Im selben Jahr erhielt sie den von Human Rights Watch verliehenen Alison Des Forges Award für Außergewöhnlichen Aktivismus. Dabei wurde die Bedeutung ihrer Lebensgeschichte für die Beeinflussung politischer Entscheidungsträger*innen in der Europäischen Union in der Bereitstellung humanitärer Hilfe für Menschen mit Behinderung betont.

Abb. 2: Nujeen hält ein Statement auf der Unterzeichnungskonferenz eines internationalen Abkommens zum besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor Bombardierung und Beschuss von Wohngebieten. © G. Lordet / HI

Außerdem engagierte sich Nujeen in einem diplomatischen Verhandlungsprozess, in dem Staaten zwischen November 2019 und April 2022 über ein internationales Abkommen verhandelten, das die Bombardierung und den Beschuss von Wohngebieten beschränken und die Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten künftig besser schützen soll. Dabei appellierte sie an die verhandelnden Staaten, einen starken Text des Abkommens mit konkreten Maßnahmen für den Schutz der Zivilbevölkerung auszuhandeln. Auf der Unterzeichnungskonferenz des Abkommens im November 2022 rief sie die Staaten dazu auf, die internationale Vereinbarung umzusetzen und zu einer echten Veränderung für Zivilist*innen im Krieg werden zu lassen.

Abb. 3: Nujeen bei der Kranzniederlegung zu Ehren getöteter Zivilist*innen in bewaffneten Konflikten. © G. Lordet/HI

Am selben Tag legte sie auf einer von Handicap International organisierten Veranstaltung zum Gedenken an die zivilen Opfer bewaffneter Konflikte einen Kranz nieder und hielt eine emotionale Rede zu Ehren getöteter Zivilist*innen: „Ihnen heute an diesem Denkmal zu gedenken und sie zu ehren, ist das Mindeste, was wir tun können. Wir erinnern nicht nur an die enorm große Opferzahl, sondern auch daran, dass hinter all diesen Zahlen Menschen stehen, geliebte Menschen, Mütter, Väter, Kinder, Freunde, die ihr Leben gelebt hatten, bevor die Grausamkeit des Krieges über sie hereinbrach. Sie alle sind unschuldig gestorben.“

Von dieser Zeremonie stammt auch das Zitat, das zu Beginn dieses Portraits von Nujeen zu lesen ist. So sieht sie es als ihre Pflicht an, ihre Geschichte immer und immer wieder zu erzählen, in der Hoffnung zu einer Verbesserung der Bedingungen für Zivilist*innen und vor allem Menschen mit Behinderung im Krieg beitragen zu können. Nujeen sagt selbst großes Glück gehabt zu haben, dass die Medien auf ihrer Flucht ihre Stimme gehört haben. Doch dieses Glück haben nicht alle. Durch Engagement möchte sie deshalb anderen Betroffenen eine Stimme geben.

 

Autorin: Veronika Wies, Daniela Groksch

Kontakt: info@buxus-stiftung.de

Fotos:

  • Headerfoto: © UNHCR
  • Porträt: © Nisreen Mustafa
  • Abb. 1: © Nisreen Mustafa
  • Abb. 2: G. Lordet/Handicap International
  • Abb. 3: G. Lordet/Handicap International

 

Quellen:

Persönliche Gespräche mit Nujeen Mustafa

Mustafa, Nujeen; Lamb, Christina (2016). „Nujeen – Flucht in die Freiheit. Im Rollstuhl von Aleppo nach Deutschland“, HarperCollins.

 

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