"Ich habe Menschen nie anhand ihrer Nationalität oder Religion kategorisiert."

Žanis Lipke

"Ich verdanke ihm mein Leben."

Haim Smolyansky
* 1. Februar 1900 in Jelgava, Russland
† 14. Mai 1987 in Riga, Lettland
Staatsangehörigkeit bei Geburt: Russland
Staatsangehörigkeit bei Tod: Lettland
Vater

Jānis Lipke

* 1875 Jelgava
† 1918
Mutter

Paulīna Lipke

* 1880 Jelgava
† 1919 Riga
Partner

Johanna Lipke

* 26. September 1903 Eleja
† 1. Januar 1990 Riga
Geschwister

Nikolajs unknown

* 1902 Jelgava
† Riga
Geschwister

Elvīra Budkeviča

* 1904 Jelgava
Geschwister

Antonija Vērmele

* 1905
Kind

Aina Lipke

* 26. Juni 1921 Riga
† März 1947
Kind

Alfrēds Lipke

* 8. November 1924 Riga
† 26. Mai 2008 Anna Bay, Australia
Kind

Zigfrīds Lipke

* 29. Juni 1933 Riga
† 11. September 1994 Riga
Land des Kampfes für die Menschenrechte: Lettland, Russland
Ort des Kampfes für Menschenrechte: Riga, Bezirk Dobele
Bereich Art Von Bis Ort
Schule Unbekannt
Beruf Hafenarbeiter
Beruf Automechaniker
Beruf Tischler
Beruf Fernfahrer

Leitmotiv

Der lettische Arbeiter Žanis Lipke riskierte während der nationalsozialistischen Besatzungszeit sein Leben, um das Leben von anderen zu retten. Mit zum Teil spektakulären und waghalsigen Rettungsaktionen verhalf er dutzenden Menschen – überwiegend Juden und Jüdinnen – zur Flucht aus dem Rigaer Ghetto und aus dem KZ Riga-Kaiserwald. Im Gegensatz zum Gros seiner Landsleute, die wegsahen und schwiegen, gar mit den Nazis kollaborierten, leistete er Widerstand gegen all jene, die die menschliche Würde mit Füßen traten. Viele sahen und sehen in ihm einen Helden; er selbst hingegen war der Überzeugung, dass er lediglich seine Pflicht als Mensch getan habe.

Wie wurde die Geschichte bekannt?

Die Geschichte wurde bekannt durch die Überlebenden des Holocaust, denen Žanis Lipke zur Flucht verholfen hatte.

Wann wurde die Geschichte bekannt?

Während und nach dem Zweiten Weltkrieg

Wo wurde die Geschichte bekannt?

Lettland und Israel

Durch wen wurde die Geschichte bekannt?

In Lettland durch die jüdische Gemeinde und einige Aktivist_innen, die sich gegen die antisemitische Erinnerungskultur in der Sowjetunion stemmten. Eine besondere Rolle hierbei spielten Harry Levi und David Silberman. Später durch die Gedenkstätte Yad Vashem in Israel.

Preise, Auszeichnungen

Am 28.06.1966 wurden Žanis und Johanna Lipke von der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als “Gerechte unter den Völkern” anerkannt. 1977 nahm Žanis Lipke in Jerusalem die Auszeichnung persönlich entgegen und pflanzte einen Baum in der „Allee der Gerechten unter den Völkern“.

Literatur (Literatur, Filme, Webseiten etc.)

Reichelt, Katrin (2016): Rettung kennt keine Konventionen. Hilfe für verfolgte Juden im deutsch besetzten Lettland 1941-1945. Berlin: Lukas Verlag.
Silberman, David (2010): Like a Star in the Darkness. Recollections about Janis (Zhan) Lipke.
Riga: Jewish Cultural Center. Dokumentation: Janis and the others.

Eigene Werke

Keine.

 

Žanis Lipke hat vor Gericht ausgesagt
Internationaler Gerichtshof, Verfahren wegen Nazi-Verbrechen, Andere
Žanis Lipke sagte als Zeuge im Prozess gegen den berühmt-berüchtigten lettischen Kollaborateur Viktors Arājs aus, der sich Mitte der 70er Jahre vor dem Hamburger Landgericht für seine Untaten zu verantworten hatte.

Vielleicht, so David Silbermann, ist die Antwort auf die Frage, was Žanis Lipke dazu bewog, Widerstand zu leisten, ganz einfach: Er war der Auffassung, dass man dazu verpflichtet ist, seinen Mitmenschen zu helfen. Žanis Lipke kategorisierte nicht nach Religion, Nationalität oder Hautfarbe, für ihn zählte nur eine Kategorie: Mensch.
Vor diesem Hintergrund erzeugte der braune Ungeist seiner Zeit einen eklatanten Widerspruch zu seinem moralischen Kompass, an dem er unbeirrt festhielt. Dieser Widerspruch bildete letztlich den Ausgangspunkt seines Widerstandes, der als Kampf um des Menschen Rechte gegen die allgegenwärtige Menschenfeindlichkeit anzusehen ist.
Bestärkt wurde er in seinem Kampf durch ein Netzwerk von Helfer_innen und durch die Anerkennung derjenigen, die ihm das Leben zu verdanken hatten. Darüber hinaus ist es der Widerstand selbst – das Gefühl und die Erkenntnis, etwas „bewegen“ zu können – der ihn zu weiteren Widerstandshandlungen motivierte.
  • Persönlichkeit
  • Familiäres Umfeld
  • Politische Einstellung
  • Solidarität
  • Andere

EINLEITUNG

Der lettische Arbeiter Žanis Lipke riskierte während der nationalsozialistischen Besatzungszeit sein eigenes Leben, um das Leben von anderen zu retten. Mit zum Teil spektakulären und waghalsigen Rettungsaktionen verhalf er dutzenden Menschen – überwiegend Juden und Jüdinnen – zur Flucht aus dem Rigaer Ghetto und aus dem KZ Riga-Kaiserwald. Im Gegensatz zum Gros seiner Landsleute, die wegsahen und schwiegen, gar mit den Nazis kollaborierten, leistete er Widerstand gegen all jene, die die menschliche Würde mit Füßen traten. Viele sahen und sehen in ihm einen Helden; er selbst hingegen war der Überzeugung, dass er lediglich seine Pflicht als Mensch getan habe.

DIE GESCHICHTE

Žanis Lipke / 1900 – 1987
Im Kampf um des Menschen Rechte

Einführung

Der lettische Arbeiter Žanis (eigentlich Jānis) Lipke (1900-1987) riskierte während der nationalsozialistischen Besatzungszeit (1941-1944) sein eigenes Leben, um das Leben von anderen zu retten. Im Gegensatz zum Gros seiner Landsleute, die wegsahen und schwiegen, gar mit den Nazis kollaborierten, leistete er Widerstand gegen all jene, die die menschliche Würde mit Füßen traten. Unbeirrt vom braunen Ungeist seiner Zeit handelte Žanis Lipke „Like A Star in The Darkness“ (Silberman 2010). Er kategorisierte nicht nach „Rasse“, Nationalität oder Religion, für ihn zählte nur eine Kategorie: Mensch.

Die barbarischen Massenerschießungen Ende 1941 im Wald von Rumbula nahe Riga wurden zu seinem persönlichen Schlüsselerlebnis. Mit zum Teil spektakulären und waghalsigen Rettungsaktionen verhalf er dutzenden Menschen – überwiegend Juden und Jüdinnen – zur Flucht aus dem Rigaer Ghetto und aus dem KZ Riga-Kaiserwald. Dabei wurde er von seiner Frau, Johanna Lipke, seinen Kindern und einem großen Netzwerk von Helfer_innen unterstützt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt er für seine Verdienste den Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ und der ehemalige stellvertretende Ministerpräsident von Schweden Per Ahlmark bezeichnete ihn würdigend als den „Wallenberg von Lettland.“[1] Er selbst hingegen war der Überzeugung, dass er lediglich seine menschliche Pflicht getan habe. Mithin wollte er weder als Ikone noch als Held wahrgenommen werden. Vielmehr plagten ihn Gewissensbisse, nicht noch mehr Menschen aus den Händen der Nationalsozialisten befreit zu haben.[2]

Die jungen Jahre des Žanis Lipke

Žanis Lipke wurde am 1. Februar 1900 in der südwestlich der Metropole Riga gelegenen Stadt Jelgava geboren, die zu diesem Zeitpunkt zum russischen Kaiserreich gehörte. Obgleich er die Schule für lediglich drei Jahre besuchte, sprach er neben seiner Muttersprache Lettisch auch Russisch und Deutsch. Im Alter von 15 Jahren wurde Žanis Lipke dann mobilisiert, um im Ersten Weltkrieg Gräben zur Verteidigung gegen die anrückenden Truppen des Deutschen Kaiserreichs auszuheben, die am 1. August 1915 die Stadt besetzten. (Abb. 1) Sein Vater, ein Buchhalter, starb während des Krieges und seine Mutter einige Jahre später. Früh musste er Verantwortung übernehmen und auf eigenen Beinen stehen. Bereits mit siebzehn Jahren arbeitete er auf einem Güterbahnhof .

Nach der Proklamation der lettischen Republik im November 1918, die einen knapp zwei Jahre dauernden Unabhängigkeits- und Bürger_innenkrieg nach sich zog, kämpfte er für einige Monate in einem lettgallischen Artillerie-Regiment, bevor er am 06. Dezember 1919 entlassen wurde. In dieser Zeit lernte er auch seine spätere Frau Johanna Novicka kennen (Abb 2).

Im August 1920 beendete der „Friede von Riga“ die offiziellen Kampfhandlungen und die RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) erkannte die Souveränität Lettlands an. Obwohl sich der junge lettische Staat eine Verfassung gab, die allen Staatsangehörigen die gleichen Bürger_innenrechte zusprach, kann von einer gelungenen Integration der Minderheiten, die etwa 25% der Bevölkerung ausmachten, nicht die Rede sein. So wurde beispielsweise den knapp 100 000 Juden und Jüdinnen der Zugang zum öffentlichen Dienst nahezu völlig versperrt.

Mitte der 1920er Jahre begann Žanis Lipke im Rigaer Hafen zu arbeiten. Wie viele andere lettische Arbeiter_innen auch, war er begeistert von der kommunistischen Bewegung, die mit der Oktoberrevolution 1917 in Russland einen wegweisenden Sieg errungen hatte (Abb. 3). Er beteiligte sich an zahlreichen Streiks der Hafenarbeiter_innen und verteilte (illegalisierte) kommunistische Schriften, was ihn immer wieder in Schwierigkeiten brachte. Nicht selten griff ihn die Polizei auf, durchsuchte und verhörte ihn.

 

Beginn des Zweiten Weltkriegs

Mit dem Überfall auf Polen entfesselte das Deutsche Reich unter der Führung von Adolf Hitler am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg. Die Wehrmacht überfiel Polen und die deutsche Marine blockierte die Seewege auf der Ostsee. Daraufhin brach der Ostseehandel zusammen und der einst geschäftige Rigaer Hafen kam zum Erliegen. Viele Hafenarbeiter_innen verloren ihre Arbeit. Unter ihnen befand sich auch Žanis Lipke, der vorübergehend eine Anstellung als Tischler bei einer Verbrauchervereinigung fand, die bei den späteren Rettungsaktionen eine wichtige Rolle spielte. Um einigermaßen über die Runden zu kommen, war er außerdem dazu genötigt, in einem Geschäft in der Nähe des Rigaer Hauptbahnhofes zu arbeiten.

Sowjetische Annexion der baltischen Länder

Sowjetunion, August 1939. Im Moskauer Kreml wird am 23.8.1939 ein Nichtangriffsvertrag zwischen dem deutschen Reich und der UdSSR unterzeichnet. Nach der Unterzeichnung im Gespräch J. W. Stalin und der deutsche Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop (r.). ADN-ZB/Archiv

Ende September 1939 ließ Stalin die Rote Armee an den Grenzen des Baltikums aufmarschieren und Mitte Juni 1940 wurden Estland, Lettland und Litauen von der Sowjetunion annektiert. Dies geschah auf der Basis eines geheimen Zusatzprotokolls des „Hitler-Stalin-Pakts“, der bereits vor dem Überfall auf Polen geschlossen und nach dem Überfall mit dem „Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag“ vom 28. September 1939 präzisiert wurde. Die drei genannten baltischen Länder fielen laut Vertrag – neben Ostpolen und Finnland – in die sowjetische „Interessenssphäre“ (Abb. 4 und 5). Als sich die sowjetische Armee Lettland einverleibte und die Bolschewiki das Ruder übernahmen, arbeitete ich zunächst weiter als Tischler, bevor ich eine Stelle als Automechaniker in der Fleischfabrik in Riga bekam. Meine Freunde und Bekannten waren Letten, Russen und Juden. Ich habe Menschen nie anhand ihrer Nationalität oder Religion kategorisiert (vgl. Lipke 2010).[3]

Unmittelbar nach der Machtübernahme begannen die sowjetischen Behörden unter der Federführung des sowjetischen Innenministeriums (NKWD) mit der Verfolgung von tatsächlichen und vermeintlichen Regimegegner_innen. Die Repressionen gipfelten schließlich in Massendeportationen nach Sibirien, von denen in Lettland etwa 15.000 Menschen betroffen waren. Darunter etwa 5000 Juden und Jüdinnen – überproportional viele, was auf den paradox anmutenden Umgang mit der jüdischen Gemeinde seitens der Machthaber hinweist. Einerseits bekamen Juden und Jüdinnen Zugang zu öffentlichen Ämtern, andererseits wurden alle jüdischen Schulen geschlossen.

 

Begrüßung der vermeintlichen Befreier

Nach dem Westfeldzug, der Luftschlacht über England und der Eroberung Griechenlands richtete sich der Fokus der Nationalsozialisten wieder verstärkt auf die östlich des Reichs gelegenen Gebiete. Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht schließlich unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“ die Sowjetunion (Abb. 6).

Ziel des Vernichtungsfeldzuges war die Zerschlagung der Roten Armee, die Ausmerzung des „Jüdischen Bolschewismus“ und die Eroberung großer sowjetischer Gebiete, die ausgehend vom „Generalplan Ost“ „germanisiert“ werden sollten, um „Lebensraum im Osten“ für „Volksdeutsche“ zu schaffen. Dabei nahmen die Nazis den Hungertod von Millionen von Menschen, die sie als „slawische Untermenschen“ ansahen, von vornherein billigend in Kauf.

Befreiungsjubel um die deutschen Soldaten in Riga. Als die deutschen Truppen die Stadt einnahmen, wurde die dortige Bevölkerung von einem Jubelsturm der Freude erfasst. Die Menschen, die monatelang unter dem Blutterror gelitten und sich in den letzten Wochen in den Kellern ihrer Häuser versteckt hatten, eilten nun auf die Straßen und Plätze und drängten sich, um die deutschen Soldaten zu begrüßen. PK Lette, 7.7.41 (Herausgabedatum). Scherl Bilderdienst

Am 26. Juni 1941 – vier Tage nach dem Beginn der Offensive – überquerten die deutschen Truppen die lettische Grenze und nahmen wenig später Riga ein. Dort wurden sie von vielen Lett_innen als Befreier begrüßt und willkommen geheißen (Abb. 7).

Die negativen Erfahrungen, die die Bevölkerung kurz zuvor unter sowjetischer Besatzung machen musste, spielten sicherlich eine große Rolle. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass ultranationalistisches und antisemitisches Denken schon zu Zeiten der lettischen Republik weit verbreitet war – insbesondere an den Universitäten. So war Anfang der 1930er Jahre parallel zur NSDAP die antisemitische Donnerkreuz-Bewegung entstanden, die einen offen ethisch-rassistischen Nationalismus vertrat, die „Judenfrage“ stellte und ein „lettisches Lettland“ propagierte. Bezeichnenderweise wählte die Bewegung, die 1932 schätzungsweise 12.000 bis 15.000 Mitglieder umfasste, das Hakenkreuz als Erkennungszeichen. Darüber hinaus befand sich Lettland nach einem antidemokratischen und nationalistischen Putsch unter der Führung von Kārlis Ulmanis am 15. Mai 1934 seit Jahren auf dem Weg zu einem „Rassestaat“. Bereits 1937 wurde ein nationales Eugenik-Programm eingeführt, das den Weg für Sterilisationen freimachte und darauf zielte, die „Fortpflanzung“ von als „erbminderwertig“ gebrandmarkten Menschen zu verhindern.

Insofern dürften nicht nur die negativen Erfahrungen mit dem repressiven Stalinismus, sondern auch die ideologische Nähe zum Nationalsozialismus ausschlaggebend für den warmen Empfang gewesen sein. Letzten Endes kollaborierten tausende Lett_innen mit den Nazis und schlossen sich lettischen Hilfseinheiten an, die sich als äußerst nützlich bei der Umsetzung nationalsozialistischer Besatzungsziele erwiesen. Später kämpften über 100.000 Letten in der „Lettischen Legion“ der Waffen-SS – viele unter Zwang, viele aber auch freiwillig und aus Überzeugung (Abb. 8).[4]

Lettland beging seinen Nationalfeiertag. Anlässlich der 25. Wiederkehr des lettischen Nationalfeiertages (18.11.) fand ein Standortappell der Einheiten der lettischen Freiwilligen-SS-Legion statt. Die Formationen der Legion auf dem Wege zum Appellplatz. 2.12.1943 (Herausgabedatum). Scherl Bilderdienst 532-43

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich der Holocaust-Überlebende Grigory Arensburg, dem Žanis Lipke zur Flucht verhalf, darin erinnerte, dass sich während der deutschen Besatzungszeit die Mehrheit der Lett_innen von ihren jüdischen Mitbürger_innen abwandte und aus Freunden innerhalb kürzester Zeit Fremde wurden.

Startschuss der Hetzjagd und Kollaboration

Für einen Großteil der Lett_innen bestand während der NS-Besatzungszeit keine unmittelbare Lebensgefahr, sofern sie keinen Widerstand leisteten und die auferlegten Gesetze befolgten. Für viele öffneten sich sogar neue Türen und es ergaben sich Möglichkeiten zur persönlichen Bereicherung.

Karl Jäger (1888-1959) . Machte 1941/1942 als SS-Standartenführer und Kommandeur das Einsatzkommandos 3 Litauen “judenfrei” und führte akribisch Buch über die Ermordung der litauischen Juden.

Allerdings mussten diejenigen, für die im Weltbild der Nazis kein Platz war, von Anfang an um ihr Leben bangen. Die Donnerkreuzler und andere Gruppierungen hatten ihre Vergeltung mit dem „jüdischen Bolschewismus“ schon vor dem 22. Juni 1941 geplant und mit dem Einzug deutscher Truppen brachen landesweite Pogrome aus. Der Hetzjagd auf Kommunist_innen sowie Juden und Jüdinnen stand nichts mehr im Wege. Im Gegenteil, die neuen Besatzer begrüßten die Pogrome und gossen zusätzlich Öl ins Feuer. Abgesehen davon begann die Einsatzgruppe A, die der Heeresgruppe Nord auf den Schritt folgte, sogleich mit der Erfüllung ihres Auftrages: der „Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindlichen Elemente im Feindesland“. Angesichts dessen, dass es sich bei der „Einsatzgruppe“ de facto um ein mobiles Mordkommando handelte, muss das beschönigende Wort „Bekämpfung“ mit „Vernichtung“ übersetzt werden.

Im Fadenkreuz der Einsatzgruppe, die sich wiederum aus mehreren Teilkommandos zusammensetze, standen insbesondere Juden und Jüdinnen, aber auch Angehörige anderer Minderheiten. So ermordete beispielsweise das Einsatzkommando 3 unter SS-Standartenführer Karl Jäger kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion 544 Insassen der örtlichen Psychiatrie in Daugavpils (Abb. 9). Außerdem kam es zu grausamen Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Kommunist_innen, die Žanis Lipke hautnah miterleben musste:

Nach der Besetzung Rigas wurde von den neuen nationalsozialistischen Führern angeordnet, dass jeder an seinen angestammten Arbeitsplatz zurückkehren muss. Also kehrte ich in die Fleischfabrik zurück, wo ich Augenzeuge von blutigen Vergeltungsmaßnahmen wurde, die sich gegen Personen richteten, die als sowjetische Aktivisten galten. Ich persönlich war nie Mitglied der Kommunistischen Partei. Deshalb war ich von diesen Repressionen nicht direkt betroffen. Dennoch verließ ich aus Sicherheitsgründen die Fleischfabrik (vgl. Lipke 2010).

Nachdem die ›erste Welle von wilden Ausschreitungen‹ (Reichelt 2011) abgeflaut war, gelang es den deutschen Besatzern zunehmend, die marodierenden einheimischen Gruppen „unter Kontrolle“ zu bringen und mit ihnen zu kooperieren. Damit waren die entscheidenden Voraussetzungen geschaffen, um eine ›zweite Gewaltwelle‹ (ebd.) zwischen Juli und September 1941 loszutreten, die sich durch einen wesentlich höheren Organisationsgrad auszeichnete. In diesem Zusammenhang sticht eine lettische Freiwilligeneinheit besonders hervor: das sogenannte Arājs-Kommando. Bereits in den ersten Besatzungstagen hatte sich die Gruppe um den ehemaligen Untergrundkämpfer Viktors Arājs bewährt, als sie auf Veranlassung des Einsatzkommandos 2 die große Rigaer Choral-Synagoge samt den Menschen in ihr in Brand steckte (Abb. 10, 11 und 12). Etwas später führte das relativ eigenständige Kommando, das sich über regen Zulauf freute, systematische Massenerschießungen im Wald von Biķernieki am Stadtrand von Riga durch.

Ghettoisierung der jüdischen Gemeinde und Beginn der Hilfe

Im „Generalbezirk Lettland“, der zum „Reichskommissariat Ostland“ gehörte, wurden drei große Ghettos errichtet: in Daugavpils, in Liepāja und in Riga. Für das Rigaer Ghetto wählte die Gestapo ein ärmliches Gebiet in der „Moskauer Vorstadt“ aus, dessen Grenzen umzäunt wurden (Abb. 13).

Zweiter Weltkrieg 1939 – 1945, Judenverfolgung durch die faschistischen deutschen Besatzungstruppen in der Sowjetunion. Lettische SS: Das Judenghetto in Riga. ADN-ZB/Donath Aufn. 1942

Auf der Grundlage eines Befehls vom 18. August 1941 mussten die Rigaer Juden und Jüdinnen ihre angestammten Quartiere verlassen und in das für sie vorgesehene Gebiet umziehen. Am 25. Oktober 1941 um 18:00 Uhr wurde das Ghetto, in dem sich zu diesem Zeitpunkt 29.602 lettische Juden und Jüdinnen befanden, hermetisch abgeriegelt. Die gesamte jüdische Gemeinde der Stadt musste fortan auf engstem Raum unter unvorstellbaren Bedingungen leben. Zudem hatte der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, das Rigaer Ghetto als Deportationsziel von etwa 20.000 sogenannten Reichsjuden bestimmt. Diese Entscheidung lässt angesichts des zur Verfügung stehenden Raumes vor Ort die Schrecken bereits erahnen, die etwas später folgten.

Im Ghetto entstand innerhalb kürzester Zeit unter der Ägide des „Judenrates“ eine improvisierte Parallelgesellschaft mit zahlreichen öffentlichen Einrichtungen und kulturellen Angeboten, die durchaus als eine Form des Widerstands gegen die drohende Entmenschlichung zu werten sind.[5] Das Perfide ist jedoch, dass die Nazis (bewusst) Freiräume zuließen und diese Form des Widerstands geschickt vereinnahmten, um den Ernst der Lage zu verschleiern und um ihre eigenen Interessen durchzusetzen.[6] Für sie stellten die Ghettoinsassen in erster Linie ein Arbeitskräftereservoir dar, über das sie freie Verfügungsgewalt hatten und das es effizient auszubeuten galt. Dementsprechend mussten diejenigen, die als arbeitsfähig galten, Zwangsarbeiten für „Volk und Führer“ verrichten. So sammelten sich die „Arbeitsfähigen“ im Morgengrauen an den Pforten des Ghettos, um in langen Marschkolonnen zu ihren Arbeitsstätten zu ziehen. Einige von ihnen wurden auch abgeholt, zum Beispiel von Žanis Lipke. Doch wie kam es dazu?

Nachdem er die Fleischfabrik verlassen hatte, gelang es Žanis Lipke mit der Hilfe von Karl Yakubovsky, den er seit den 1930er Jahren kannte, eine Anstellung im Lager der deutschen Luftwaffe in der Nähe des Zentralmarktes zu bekommen – in den sogenannten Roten Scheunen (Abb. 14).

Die Nazis vertrauten Yakubovsky und ernannten ihn zum Lagerchef. Žanis Lipke machte seinen persönlichen Einfluss geltend und sorgte nach und nach dafür, dass jüdische Arbeiter_innen aus dem Ghetto und einige seiner Bekannten im Lager angestellt wurden.

Wir brachten jeden Tag etwa dreißig Juden und Jüdinnen aus dem Ghetto – zusammen mit zehn bis fünfzehn Lett_innen – zur Arbeit in das Lager. Meine lettischen Freunde und ich begleiteten die jüdische Kolonne von den Toren des Ghettos bis zum Arbeitsplatz und brachten sie am Abend wieder zurück (vgl. Lipke 2010).

Für die jüdischen Arbeiter_innen aus dem Ghetto war dies ein Glücksfall, da sie unter Yakubovsky nie schlecht behandelt wurden. Darüber hinaus wusste Žanis Lipke seinen Vorgesetzten mit Nettigkeiten zu beeinflussen, sodass dieser nicht so genau hinsah, was im Lager eigentlich vor sich ging. Jedenfalls ergaben sich Spielräume für unterschiedlichste Widerstandshandlungen, die bei jeder Gelegenheit genutzt wurden. Dazu gehörte sowohl die gezielte Sabotage bzw. Zerstörung von kostbaren und kriegswichtigen Maschinenteilen als auch das Vergeuden kostbarer Arbeitszeit durch bewusstes Trödeln und ausgiebige Pausen.

Žanis Lipkes Schlüsselerlebnis

Etwa einen Monat nach der Schließung des Ghettos, machte Žanis Lipke eine Erfahrung, die tiefe Spuren hinterließ und einen Wendepunkt einleitete. Die Situation, die er hautnah miterlebte, brannte sich so tief in sein Gedächtnis ein, dass er sich Jahrzehnte später noch an sie erinnerte, als ob es gestern gewesen wäre:

Ich stand entsetzt in einer kleinen Menschenmenge am Zaun des Ghettos und beobachtete, was hinter dem Stacheldraht vor sich ging. Es herrschte blankes Chaos. Einige Ghettoinsassen zogen Koffer hinter sich her, andere trugen Babys in den Armen oder schoben Kinderwagen. Unterdessen schrien betrunkene Polizeikräfte aus vollen Kehlen, zogen Menschen aus ihren Wohnungen und schlugen auf sie ein. Ein Polizist schoss blind in die Menschenmenge. Es schien keine Rolle zu spielen, wen er traf (vgl. Lipke zit. n. Silberman 2010).

Plötzlich erblickte Žanis Lipke einen verwirrten und verzweifelten alten Mann, der offensichtlich keine Angehörigen hatte und nicht wusste, wie er dem Wahnsinn entfliehen kann. Schließlich trafen sich ihre Blicke und der alte Mann verschwand verängstigt.

Ich ging auf die andere Straßenseite, außer Sichtweite, um ihn nicht zu verschrecken und überlegte, wie ich ihm helfen könnte. Wie der alte Mann bewegte ich mich verwirrt hin und her. Für mich und für alle anderen, die sahen, was vor sich ging, war klar, dass die Menschen zusammengetrieben wurden, um abgeschlachtet zu werden (vgl. ebd.).

Die schreckliche Vermutung bewahrheitete sich und Žanis Lipke sah den alten Mann nie wieder. Unter dem Vorwand einer „Evakuierung“ mussten an diesem Tag tausende Menschen ihren letzten Marsch in den Wald von Rumbula antreten, wo Erschießungskommandos auf sie warteten. Betroffen waren insbesondere diejenigen, die als „arbeitsunfähig“ eingestuft wurden. Zudem traf etwa zeitgleich der erste von insgesamt zwanzig Transporten mit circa 1000 deportierten Juden und Jüdinnen aus dem „Altreich“ ein, die ebenfalls dorthin gebracht wurden. An diesem Tag, dem 30. November 1941, exekutierten die Kommandos zwischen 8:15 Uhr und 19:45 Uhr über 15.000 Menschen. In einer zweiten großen Vernichtungsaktion, die am 8./9. Dezember 1941 stattfand und nach demselben Muster ablief, wurden weitere 11.000 Menschen erschossen.

Lediglich 4500 Ghettoinsassen überlebten die beiden großen Mordaktionen, die unter aktiver Tatbeteiligung lettischer Hilfseinheiten durchgeführt und vom eigens dafür abkommandierten SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln minuziös geplant wurden. Dieser hatte sich zuvor beim Massaker von Babyn Jar nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew bereits einen Namen gemacht (Abb. 15).

Die überlebenden lettischen Ghettoinsassen mussten nach den beiden großen Massenerschießungen in ein wesentlich kleineres Areal des Ghettos umziehen, das fortan das „Kleine Ghetto“ bildete. Der größte Bereich des Ghettos war zunächst menschenleer, bis zunehmend deportierte Juden und Jüdinnen aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei eintrafen.

Die ersten Rettungsversuche und Waffenbeschaffung

Für Žanis Lipke war der Massenmord im Wald von Rumbula so einschneidend, dass er einen wegweisenden Entschluss fasste:

Nach den schrecklichen Massakern Ende November und Anfang Dezember 1941 wurde mir klar, dass die Nazis beabsichtigen, alle Juden und Jüdinnen zu vernichten. Zu diesem Zeitpunkt entschied ich mich, Juden und Jüdinnen zu retten (vgl. Lipke 2010).

Bereits nach dem Coup d’État von Kārlis Ulmanis 1934 hatte Žanis Lipke verfolgten Sozialdemokrat_innen und Kommunist_innen geholfen, den staatlichen Repressionen zu entgehen und sich zu verstecken.[7] Die gesammelten Erfahrungen im „baltischen Autoritarismus“, die ihm nun zugutekamen, haben den wegweisenden Entschluss unter nationalsozialistischen Vorzeichen sicherlich begünstigt. Am 15. Dezember 1941 erfolgte dann die erste Rettungsaktion, bei der es Žanis Lipke mit der Hilfe eines alten Freundes gelang, zehn Personen vom Rigaer Ghetto unbemerkt in das Lager der Verbraucherorganisation zu bringen. Da das Lager im Zentrum von Riga lag, war die Gefahr sehr groß, entdeckt zu werden.

Aus diesem Grund begab sich Žanis Lipke auf die Suche nach geeigneteren Verstecken und machte kurze Zeit später einige Personen ausfindig, die bereit waren, das hohe Risiko einzugehen, jüdische Geflüchtete aufzunehmen (Abb. 16). Ferner fanden einige Geflüchtete im Familienhaus der Lipkes Unterschlupf (Abb. 17 und 18). Darunter war auch Haim Smolyansky, der in seinem Text „I Owe him My Life“ die damalige Situation anschaulich schildert:

Im Schutz der Dunkelheit brachte Žanis Lipke mich in sein eigenes Haus und auf meine Bitte hin sechs weitere Personen. Es war extrem gefährlich, uns alle in seinem Haus zu verstecken. Deshalb beschlossen wir, einen Bunker unter der Scheune im Hof auszuheben. Keiner von uns hatte Erfahrung. Dennoch begannen wir im Schutz der Dunkelheit, bei eisigen Temperaturen,  fieberhaft zu graben. Den Boden tauten wir mit Lötlampen auf und das Eis brachen wir mit einem Brecheisen. Die ausgehobene Erde tarnten wir mit Schnee. Unsere Unerfahrenheit zeigte sich, als der Schnee schmolz. Wasser sickerte in den Bunker und er brach zusammen. Wir mussten von neuem beginnen. Žanis besorgte die notwendigen Materialien und auf der Grundlage der gewonnenen Erfahrung gingen wir erneut ans Werk. Diesmal mit Erfolg. Zur Tarnung platzierten wir ein Vogelhaus am Bunkereingang. Außerdem richteten wir ein Warnsystem ein. Bald darauf waren wir mit einem Funkgerät, Waffen und Munition ausgerüstet. Während unserer Zeit im Bunker kümmerten sich Žanis, Johanna und ihr älterer Sohn Alfred um all unsere Belange (vgl. Smolyansky 2010).

Mit dieser ersten erfolgreichen Rettungsaktion konnte sich Žanis Lipke freilich nicht zufrieden geben, da er sich geschworen hatte, möglichst vielen Menschen zur Flucht zu verhelfen. Dementsprechend folgten dem Auftakt zahlreiche weitere Rettungsaktionen, die er alle im Vorfeld sorgfältig plante und gedanklich durchspielte. Er studierte im Detail die Abläufe im Ghetto sowie die Gewohnheiten der Wachen und versuchte herauszufinden, ob sie bestechlich waren. Anschließend schmiedete er raffinierte und waghalsige Rettungspläne, die sich die Schwächen des Gegners zunutze machten. Beispielsweise trommelte er eines Tages seine lettischen Freunde zusammen und brachte Judensterne an ihre Kleidung an, um sie als Juden getarnt ins Ghetto zu schleusen.

Zweiter Weltkrieg 1939-1945: Judenverfolgung durch die faschistischen deutschen Besatzungtruppen in der Sowjetunion. Lettische SS, Riga: Jüdische Bürger dürfen nicht den Fußgängerweg benutzen, sondern müssen auf dem Fahrdamm gehen. Aufn. 1942. ADN-ZB/Donath

Dort nahmen sie die Sterne wieder ab, warteten auf einen günstigen Moment und verließen das Ghetto als „arisches“ Begleitpersonal einer jüdischen Arbeitskolonne. Die symbolfixierten Nazis merkten von all dem nichts (Abb. 19).

Das Beispiel verdeutlicht, dass ein funktionierendes Netzwerk von Helfer_innen für den Erfolg von Rettungsaktionen ausschlaggebend war. Abgesehen davon musste die Versorgung der Geflüchteten nach der Flucht sichergestellt werden. In Kriegszeiten eine sehr schwierige Aufgabe, die ohne die Hilfe von Johanna Lipke, die Hühner, Schweine, Hasen, Enten, Ziegen, Truthähne und Gänse hielt, um die Geflüchteten zu versorgen, nicht zu lösen gewesen wäre. Weiterhin wurden für die Rettungsaktionen und für die Geflüchteten in den Verstecken Waffen benötigt, um sich im Notfall effektiv verteidigen zu können. Das wirft natürlich die Frage auf, wie Žanis Lipke in den Besitz von Waffen gekommen ist.

Durch Diebstahl, Bestechung und auf andere Weise gelang es uns Waffen zu beschaffen. Einmal heckten Karl Yankovsky und ich einen besonders verrückten Plan aus, um einen deutschen LKW zu stehlen, der mit Waffen und Munition beladen war (vgl. Lipke 2010).

Der Cousin von Karl Yankovsky kollaborierte mit den Nazis und arbeitete als Fahrer in einer SS-Einheit. Er hatte ein schweres Alkoholproblem und neigte im Rausch dazu, wertvolle Informationen und Geheimnisse preiszugeben. Eines Tages erzählte er Karl Yankovsky und Žanis Lipke von dem besagten LKW und gab zu verstehen, dass der Schlüssel stecke und der LKW unbewacht sei.

Wir gingen direkt los, stahlen den LKW und fuhren ihn nach Biķernieki. Nachdem wir die wertvolle Fracht entladen hatten, fuhren wir in den Wald und machten ihn unbrauchbar. Als die Gestapo den Diebstahl bemerkte und eine großangelegte Suche organisierte, waren Karl und ich bereits auf der anderen Stadtseite (vgl. Lipke 2010).

Rückschläge und Gewissensbisse

Trotz akribischer Planung, gab es natürlich keine Garantie, dass eine Flucht gelingen würde. Im Gegenteil, das Risiko war sehr hoch und nicht alle Fluchtversuche verliefen nach Plan:

Im Sommer 1942 traf ich zwei starke und sportliche junge Männer im Ghetto, Sasha Perl und Psavka. Sie waren mir sofort sympathisch und ich forderte sie auf, zu fliehen. Sasha Perl wuchs in Ventspils auf und war ein erfahrener Segler. Er hatte vor dem Krieg sogar an Wettbewerben teilgenommen. Zudem verfügte er über große finanzielle Mittel, da ihm kostbare Familienschmuckstücke vor der Hinrichtung seiner Eltern im Wald von Rumbula ausgehändigt worden waren. Als ich davon erfuhr, entwickelte ich einen gewagten Plan, der darin bestand, eine Yacht zu kaufen und heimlich 15 bis 20 Personen über die Ostsee ins neutrale Schweden zu fahren, wo sie in Sicherheit gewesen wären (vgl. Lipke 2010).

Daraufhin besuchte Žanis Lipke regelmäßig den Rigaer Yachtclub, wo er eine große Yacht kaufte, um den waghalsigen Plan in die Tat umzusetzen. Allerdings gerieten die drei direkt bei der ersten Probefahrt auf der Daugava in unvorhergesehene Schwierigkeiten, als plötzlich eine Gruppe von Schutzpolizisten auftauchte.

Mir persönlich gelang es, mich aus ihren Händen zu befreien. Psavka stürzte sich ins Wasser und schwamm zum rettenden Ufer. Jedoch wurde Perl gefangen genommen und ins elfte Polizeirevier gebracht. Daraufhin eilte ich sofort zum Lagerhaus der Luftwaffe, um den Namen von Perl auf die offizielle Liste der Ghettoarbeiter zu setzen, vergeblich. Perl wurde eines schweren Vergehens beschuldigt: Er war ohne Judenstern auf „arischem“ Gebiet unterwegs gewesen. Dafür wurde er zum Tode verurteilt und bald darauf erschossen. Er handelte heldenhaft, da sich später herausstellte, dass er niemanden verraten hatte. Dennoch löste seine Verhaftung Angst aus und alle Verstecke in der Stadt, die ich organisiert hatte, wurden nach seiner Verhaftung im September 1942 unsicher, weil die Möglichkeit bestand, dass Perl unter Folter, die Lage der Verstecke preisgab. Darüber hinaus hatten die Deutschen begonnen, systematische Hausdurchsuchungen durchzuführen (vgl. Lipke 2010).

Nach diesem herben Rückschlag plagten Žanis Lipke schwere Gewissensbisse, war er es doch gewesen, der Sasha Perl zur Flucht ermuntert hatte. Zudem mussten die Geflüchteten innerhalb kürzester Zeit ihre unsicher gewordenen Verstecke im Stadtzentrum verlassen, woraufhin sich viele aus Mangel an Alternativen dazu entschlossen, ins Ghetto zurückzugehen.

Neue Verstecke im Bezirk Dobele

Im Rigaer Ghetto kamen unterdessen mehr und mehr deportierte Juden und Jüdinnen aus dem Deutschen Reich an, die im „Großen Ghetto“ untergebracht wurden – getrennt von den lettischen Juden und Jüdinnen im „Kleinen Ghetto“. Die Barbareien, die 1941 begonnen hatten, setzten sich auch 1942 fort, wobei zwei Ereignisse besonders hervorstechen: zum einen zwei große Massenerschießungen im Wald von Biķernieki zu Beginn des Jahres und zum anderen eine Razzia gegen eine jüdische Widerstandsgruppe im „Kleinen Ghetto“ am Ende des Jahres (Abb. 20, 21 und 22).

Žanis Lipke gab trotz des schweren Rückschlags nicht auf und führte nach einiger Zeit wieder Rettungsaktionen durch. Zunächst  mussten neue Verstecke gefunden werden. Dafür stellte er Kontakt zu einigen vertrauenswürdigen Personen her, die in der Nähe der südwestlich von Riga gelegenen Kleinstadt Dobele lebten. Žanis Lipke offenbarte ihnen seine Pläne und sie erklärten sich bereit, Geflüchtete aufzunehmen.

Am 10. Mai 1943 versteckten sich die ersten beiden Geflüchteten, Libchen und Ulman aus Riga, im Lastwagen von Žanis Briedis. Mit einer gefälschten Reisegenehmigung von der Fleischfabrik, wo Briedis arbeitete, begaben sie sich auf die gefährliche Reise. Sie passierten ohne Zwischenfälle alle Kontrollpunkte und befanden sich kurze Zeit später am Haus der Rosenthals in Annasmuizha, das etwa zehn Kilometer von der Stadt Dobele entfernt war. Ein guter Start. Ich träumte jedoch davon, hunderte Juden und Jüdinnen zu retten (vgl. Lipke 2010).

Um diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, wurden weitere Verstecke benötigt. Als besonders wertvoll erwies sich der Kontakt und die Zusammenarbeit mit dem Bezirksleiter von Dobele, der Žanis Lipke bei der Suche tatkräftig unterstütze, sodass wenig später zwei weitere Verstecke zur Verfügung standen.

Evakuierung des Rigaer Ghettos und Flucht aus dem KZ Riga-Kaiserwald

Am 21. Juni befahl der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, die Auflösung des Rigaer Ghettos und die Verlegung der Überlebenden in Konzentrationslager. Bereits im Frühjahr 1943 hatte die SS von 500 überstellten Häftlingen des KZ Sachsenhausen das KZ Riga-Kaiserwald errichten lassen, in das die meisten Insassen des Ghettos im Verlauf des Sommers umziehen mussten. Am 2. November 1943 wurde das Rigaer Ghetto dann endgültig aufgelöst. Der Lagerkomplex Riga-Kaiserwald setzte sich aus dem Hauptlager und insgesamt siebzehn Außen- bzw. Nebenlagern zusammen, in denen etwa 15.000 Häftlinge lebten und arbeiteten. Die Gewalt der Wachen, die katastrophalen hygienischen Bedingungen und die schlechte Versorgungslage ließen die Sterberate schnell in die Höhe schießen. Abgesehen davon wurden Fluchtversuche erheblich erschwert.

Ein dreifacher Stacheldrahtzaun sowie Wachtürme mit Suchscheinwerfern umgaben das Lager. Die SS mit ihren deutschen Schäferhunden patrouillierte rund um die Uhr. Zudem gab es eine strenge Registrierung für die Gefangenen, die in der Stadt arbeiteten (vgl. Arensburg 2010).

Freilich wirkte sich die neue Situation auf die Art und Weise der Unterstützung der Familie Lipke aus. Nach besten Kräften versuchten sie den Häftlingen im Außenlager Balasdam zu helfen, das ganz in der Nähe des Hauses der Familie lag und in dem viele sowjetische Kriegsgefangene untergebracht waren. Die Familie versteckte Nahrung und Kleidung am Wegesrand entlang der Marschrouten der Arbeitskolonnen und stellte Kontakt zu den Gefangenen her. Alsbald erhielt die Familie Lipke Dankesschreiben und es entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis. Daher verwundert es nicht, dass eine größere Gruppe von Kriegsgefangenen, die aus dem Lager geflohen war, auf ihrer Flucht einen Zwischenstopp bei der Familie einlegte. Darüber hinaus führte Žanis Lipke trotz der erschwerten Bedingungen weiterhin Rettungsaktionen durch und verhalf unter anderem Mikhail Drizin zur Flucht aus dem KZ Riga-Kaiserwald:

Im Herbst 1943 wurde ich ins Konzentrationslager Kaiserwald gebracht, wo ich acht Monate zubrachte und beobachtete, wie die Nazis zunehmend nervöser wurden. Sie hatten entscheidende Schlachten verloren und die Rote Armee war auf dem Vormarsch. Die Liquidation des Lagers war jederzeit möglich. Im Juni 1944 erhielt ich von meinem Lagergenossen Ephstein einen Brief und erfuhr, dass Žanis Lipke, der meinen Brüdern zur Flucht verholfen hatte, dasselbe für mich tun würde. Es dauerte nicht lange, bis er den Termin für die Flucht auf den 20. Juli festsetzte (vgl. Drizin 2010).

Am Vorabend der Flucht schnitten Drizin und Ephstein ein Loch in den Lagerzaun, durch das sie im Morgengrauen entwichen. Tatsächlich gelang es den beiden, sich bis zum vereinbarten Treffpunkt durchzuschlagen, wo die Ehefrau von Ephstein und Žanis Lipke bereits auf sie warteten. Drizin fand zunächst Zuflucht in einem Versteck in der Stadt, bis er zusammen mit Ephstein, einem weiteren Geflüchteten, Žanis Lipke und einem Fahrer Richtung Dobele aufbrach. Für die Fahrt nach Dobele wurde im Vorfeld eine alte Pferdekutsche organisiert und auf der Ladefläche eines LKW platziert, sodass sich zwei Personen zwischen den Rädern verstecken konnten. Drizin saß als Deutscher verkleidet neben dem Fahrer und Žanis Lipke kletterte auf die Kutsche.

Als wir uns dem Ort Olaine näherten, bemerkten wir plötzlich einen Schutzpolizist auf der Straße, der uns aufforderte stehen zu bleiben. Žanis klopfte an die Fahrerkabine und der Fahrer trat auf die Bremse. Unterdessen zog ich heimlich meine Pistole, die mir Žanis vor der Abreise gegeben hatte. Erneut klopfte Žanis an die Fahrerkabine und gab zu verstehen, dass die Reise weitergehen könne. Der Polizist hatte direkt neben Lipke Platz genommen. Er war in Eile und starrte nervös auf seine Uhr. Für seine Mitreisenden interessierte er sich nicht. In der Nähe von Jelgava wurden wir dann von einer Patrouille angehalten und der LKW war plötzlich von einer Gruppe von Polizisten umstellt. Sogleich begann unser neuer Passagier ein freundliches Gespräch mit seinen Kameraden. „Landsleute“, sagte er und zeigte auf Lipke, den Fahrer und mich. Schließlich gab der Kommandant der Patrouille den Befehl: „Lass sie fahren!“ Die Flucht ging weiter und wir setzten den Polizisten nach einigen Kilometern ab. Kurze Zeit später erreichten wir ohne weitere Zwischenfälle unser Versteck in Reshni (vgl. Drizin 2010).

Veränderungen im Frontverlauf und Kriegsende

Mit den verlorenen Schlachten in Stalingrad und Kursk wendete sich das Blatt zugunsten der Roten Armee und die Nazis begannen im Sommer 1944, die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen und das KZ Riga-Kaiserwald zu „evakuieren“. Das bedeutete, dass Alte, Kranke, Schwache und Kinder direkt getötet und ein Großteil der verbliebenen Häftlinge auf Todesmärsche Richtung Westen geschickt wurden. Ziel war zunächst das etwa 500 km von Riga entfernte KZ Stutthof in der Nähe von Danzig im heutigen Polen.

Etwa zur gleichen Zeit schnitt der veränderte Frontverlauf Žanis Lipke von den Verstecken in Dobele ab und machte weitere Rettungsaktionen in den Bezirk unmöglich. Ihm blieb nichts anderes übrig, als im (noch) deutsch besetzten Territorium auszuharren und auf den Einmarsch der Roten Armee zu warten. Währenddessen waren die sowjetischen Verbände bereits bis nach Dobele vorgedrungen und die meisten Geflüchteten, die in ihren Verstecken sehnsüchtig auf diesen Moment gewartet hatten, schlossen sich ihnen an. Doch die Wirren des Kriegsendes forderten bis zuletzt ihre Opfer. Tragischerweise wurden drei Geflüchtete, die sich bereits in Sicherheit wiegten, von einer sich zurückziehenden SS-Einheit überrascht und erschossen.

Einige Monate später, am 13. Oktober 1944, erreichten die Sowjets schließlich Riga und befreiten bis April 1945 ganz Lettland von den Nazis. Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa.

Nachkriegszeit und späte Würdigung

In der unmittelbaren Nachkriegszeit geriet Žanis Lipke ins Fadenkreuz der sowjetischen Behörden, die seine Rettungsaktionen während des Krieges mit Argwohn beäugten:

Nach dem Krieg blickten die sowjetischen Behörden mit Misstrauen auf meine Aktivitäten zur Rettung von Juden und Jüdinnen. Mehrfach wurde ich vom NKVD verhört und zu meinem Sohn Alfred befragt, den ich nicht davor bewahren konnte, in die lettische Legion eingezogen zu werden. Sie mutmaßten, dass die Juden und Jüdinnen mit Gold und Juwelen für ihre Rettung bezahlt hatten und fragten sich, wo ich die Schätze verstecke. Schließlich platzte mir der Kragen und ich schrie meinen Vernehmer an: „Ihr Kommunisten seid ebenso Banditen wie die Faschisten, nur, dass die Faschisten den Leuten in die Augen schauen, wenn sie sie erschießen, wohingegen ihr wie Feiglinge den Leuten in den Rücken schießt – was gemeiner ist!“ Ich dachte, dass sie mir meinen Wutanfall nicht verzeihen würden. Doch ganz im Gegenteil! Sie ließen mich laufen und haben mich nie wieder belästigt (vgl. Lipke 2010).

Die Absurdität des Verdachts, Žanis Lipke hätte für seine Hilfe Gegenleistungen verlangt, belegen die Aussagen von Villi Frish. Dieser berichtete, dass er Žanis Lipke vor seiner Flucht darauf aufmerksam machte, dass er ihn nicht bezahlen könne, woraufhin er ihm empört entgegnete: „Rede keinen Unsinn! Habe ich dich nach Geld gefragt?“ Villi Frish fühlte sich peinlich berührt und entschuldigte sich augenblicklich. Die Reaktion zeigt, dass Žanis Lipke den Hinweis als Beleidigung aufgefasst hatte.

Nach dem Krieg nahm Žanis Lipke zunächst eine Stelle als Automechaniker an, bevor er sich als Fahrer verdingte und nach einigen Herzinfarkten Mitte der 1950er Jahre in Rente ging. Gemeinsam mit seiner Frau Johanna lebte er weiterhin im Familienhaus auf der Insel Ķīpsala, das während des Krieges so vielen Menschen Zuflucht geboten hatte (Abb 23, 24 und 25).

Die Geretteten, sowohl in Lettland als auch im Ausland, haben das, was er für sie getan hat, nie vergessen. Da seine Rente klein war, versuchten sie ihm, so gut es eben ging, unter die Arme zu greifen. Die Familie Lipke war von Natur aus sehr bescheiden und führte ein sehr einfaches Leben. Starrköpfig lehnte Žanis die Angebote für ein besseres Haus oder eine komfortablere Wohnung ab und lebte weiterhin in seinem alten Haus in der Nähe des Flusses Daugava (vgl. Silberman 2010).

Der Kontakt zwischen Žanis Lipke und denjenigen, die ihm das Leben zu verdanken hatten, blieb also erhalten und mit der Zeit entstanden Freundschaften. So wurde es zur Tradition, dass sie sich zweimal im Jahr trafen, um gemeinsam Weihnachten und den Namenstag von Žanis Lipke zu feiern (Abb. 26).

Abgesehen von der finanziellen Unterstützung setzten sich die Überlebenden bei den sowjetischen Behörden erfolgreich dafür ein, dass Žanis und später auch Johanna Lipke ihren Sohn Alfred in Australien besuchen konnten. Bei dem Wiedersehen nach Jahrzehnten und dem Besuch in Australien blieb es jedoch nicht. Für Žanis Lipke wurde darüber hinaus eine Israelreise arrangiert. Dort angekommen, empfingen ihn das israelische Parlament und anderen öffentliche Institutionen als Ehrengast und würdigten seine herausragenden Verdienste. Am 25. August 1977 nahm er die Auszeichnung „Gerechter unter den Völkern“ entgegen, die ihm und seiner Frau von der Gedenkstätte Yad Vashem verliehen wurde. Im Rahmen der Ehrung pflanzte er außerdem einen Baum in der „Allee der Gerechten unter den Völkern“ in Jerusalem.

Žanis Lipke als Zeuge im Prozess gegen Viktors Arājs

Noch vor seiner Reise sagte Žanis Lipke als Zeuge im Prozess gegen den berühmt-berüchtigten Kollaborateur Viktors Arājs aus, der sich vor dem Hamburger Landgericht für seine Untaten zu verantworten hatte. Am 1. April 1976 gab er in Riga zu Protokoll:

Als Riga von den deutschen Faschisten besetzt war, hörte ich, dass Arājs eine Einheit kommandierte, die für Verhaftungen und Erschießungen zuständig war. Diese Gruppe war in Riga bekannt unter dem Namen „Arājs-Bande“. Ich hörte oft von meinen Bekannten, dass die Arājs-Bande im Wald von Biķernieki und Rumbula Leute erschießt, gegen die sowjetischen Partisanen in Belarus kämpft und sich an der Liquidierung des Warschauer Ghettos beteiligt (vgl. Lipke 2010a).

Ende 1979 wurde der Begründer und Namensgeber des lettischen Arājs-Kommandos, das nahezu für die Hälfte der in Lettland getöteten 70.000 Juden und Jüdinnen verantwortlich war, („lediglich“) aufgrund seiner Beteiligung an der Vernichtungsaktion im Wald von Rumbula am 08. Dezember 1941 zu lebenslanger Haft verurteilt. Bereits am 11. Oktober 1949 hatte der Untersuchungsrichter des Hamburger Landgerichts Haftbefehl gegen Arājs erlassen, der jedoch dem Zugriff zuvorkam und erfolgreich untertauchte. Fortan lebte und arbeitete er unbehelligt unter falschem Namen in Tübingen und Frankfurt bis er 1975 schließlich festgenommen wurde. Für Žanis Lipke war es sicherlich eine Genugtuung, einen kleinen Beitrag zur Aufklärung und Ahndung der Verbrechen von Arājs (alias Zeibots) geleistet zu haben.

Tod und Gedenken

Am 14. Mai 1987 starb Žanis Lipke an seinem neunten Herzinfarkt. Die Nachricht von seinem Tod verbreitete sich schnell und eine Woche später fand unter großer öffentlicher Anteilnahme eine Trauerfeier und -prozession statt, die zum Rigaer Waldfriedhof führte, wo sich heute das Familiengrab befindet (Abb. 27).

Nach dem Tod von Žanis Lipke organisierten Aktivisten der jüdischen Gemeinde Konzerte, um ein Denkmal zu seinen Ehren zu finanzieren. Zudem wurde – nach langer Diskussion – in der „Moskauer Vorstadt“ eine Straße nach ihm benannt und 2013 ein Museum direkt neben dem Familienhaus eröffnet (Abb. 28, 29, 30, 31).

Der damalige israelische Präsident, Shimon Peres, der an der Eröffnungsfeier des Museums teilnahm, sagte im Hinblick auf Žanis Lipke in
seiner Rede:

Ich bin mir nicht sicher, ob die Mehrheit der Menschen Heilige sind. Allerdings bin ich mir sicher, dass es eine Minderheit von Menschen gibt, die mutig, rechtschaffend und gerecht sind. Und ich glaube, dass diese Minderheit unsere Leben rettet (Peres zit. n. Gailis o. J.).

Rückblick nach vorn auf eine Geschichte des Widerstandes

Die Geschichte von Žanis Lipke ist zweifelsohne eine Geschichte des Widerstandes, die angesichts der weltweit grassierenden Menschenfeindlichkeit aktueller ist als uns lieb sein dürfte. In seinem Kampf um des Menschen Rechte riskierte Žanis Lipke sein eigenes Leben, um das Leben anderer Menschen zu retten. Mutig widersetzte er sich dem rassistischen, nationalistischen und antisemitischen Ungeist seiner Zeit, folgte seinem moralischen Kompass und verhalf dutzenden Menschen zur Flucht vor dem sicheren Tod. Dabei handelte er nicht allein, sondern griff auf ein Netzwerk von Helfer_innen zurück, die ebenfalls dazu bereit waren, aufzustehen und Nein! zu sagen. Geschickt nutzte er seine (begrenzten) Handlungsspielräume, die er als „einfacher“ Arbeiter hatte, und leistete im wahrsten Sinne des Wortes Außergewöhnliches. Viele sahen und sehen in ihm einen Helden; er selbst hingegen war der Überzeugung, dass er lediglich seine Pflicht als Mensch getan habe. Vor diesem Hintergrund ist die Antwort von David Silberman auf die Frage, was Žanis Lipke dazu bewog, Widerstand zu leisten, durchaus nachvollziehbar:

Für Lipke war es vielleicht ganz einfach – man war verpflichtet, seinen Mitmenschen in Schwierigkeiten zu helfen (vgl. Silberman 2010).

Autor: Stefan Schuster, MA
Kontakt: stefan.schuster@buxus-stiftung.de

 

Anmerkungen

[1]    Der Historiker Georg Schwab (2010) verweist darauf, dass der Vergleich zwischen Raoul Wallenberg, der als schwedischer Diplomat in Ungarn tausenden Menschen das Leben rettete, und Žanis Lipke hinkt, da Lipke lediglich ein „gewöhnlicher“ Arbeiter war und nicht auf die Ressourcen zurückgreifen konnte, die Wallenberg zur Verfügung standen.

[2]    Die nachfolgenden Ausführungen zur Biografie von Žanis Lipke basieren im Wesentlichen auf dem Sammelband von Silberman (2010).

[3]    Sämtliche Zitate, die im Nachfolgenden angeführt werden, stammen aus dem Sammelband von Silberman (2010) und wurden vom Autor sinngemäß aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

[4]    Nebenbei bemerkt sei, dass jedes Jahr am 16. März ein Gedenkmarsch zu Ehren der Veteranen der Lettischen Legion in Riga stattfindet, der von der lettischen Regierung geduldet wird. Siehe Kommentar von Reinhard Wolff (2013): Historischer Kurzschluss. Riga verteidigt den Aufmarsch für die Waffen-SS Jahr für Jahr und deutet Neonazis zu Patrioten um. Diese Blauäugigkeit beruht auf fataler Geschichtsklitterung [Abruf am 8.12.2018 unter: http://www.taz.de/!5071163/].

[5]    Siehe dazu das Buch „Spiritual Resistance in the Vilna Ghetto“ von Rachel Konstantin-Danzig, die die Prozesse der Entmenschlichung und die unterschiedlichen Formen des Widerstandes am Beispiel des Ghettos in der litauischen Hauptstadt Vilnius untersucht.

[6]    An dieser Stelle offenbart sich eine abgründige „Dialektik der Entmenschlichung“, in der das „Menschliche“ zur „Entmenschlichung“ instrumentalisiert wird.

[7]    Gegenwärtig liegen leider keine weiteren Informationen zu den Hilfeleistungen von Žanis Lipke in dieser Zeit vor. Selbst die Namen derjenigen, denen er half, sind unbekannt.

 

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Deutsche Truppen nehmen Riga ein (1917) (Gemeinfrei)

Abb. 2: Žanis und Johanna Lipke (Žanis Lipke Memorial)

Abb. 3: Russische Soldaten tragen ein Banner mit der Aufschrift – Kommunismus – Moskau (Gemeinfrei)

Abb. 4: Handschlag Stalin mit Ribbentrop Bundesarchiv Bild 183-H27337_Moskau, Stalin und Ribbentrop im Kreml_CC BY-SA 3.0 DE.

Abb. 5: Das geheime Zusatzprotokoll vom 23. August 1939 zum Nichtangriffspakt (Gemeinfrei)

Abb.6: Deutsche Gebirgsjäger beim Vormarsch 22. Juni 1941 Bundesarchiv Bild 146-2007- 0127, Russland, Gebirgs-Jäger beim Vormarsch, CC BY-SA 3.0 DE

Abb.7: German soldiers greeted in Riga. 1941 Bundesarchiv, Bild 183-L19397  CC-BY-SA 3.0, Bundesarchiv Bild 183-L19397, Lettland, Riga, Begrüßung der deutschen Soldaten, CC BY-SA 3.0 DE

Abb. 8: Formationen der lettischen Waffen-SS-Freiwilligenlegion. Bundesarchiv Bild 183-J16133, Lettland, Appell der SS-Legion, CC BY-SA 3.0 DE

Abb. 9: Karl Jäger (1937-1938) (Gemeinfrei)

Abb. 10: Große Choral-Synagoge in Riga in den 1930er Jahren (Gemeinfrei)

Abb. 11: Gedenkstein Rigaer Choral Synagoge 2018 (privat)

Abb. 12: Gedenkstätte Rigaer Choral Synagoge 2018 (privat)

Abb. 13: Rigaer Ghetto 1942 Bundesarchiv Bild 183-N1212-326  Otto Donath  CC-BY-SA 3.0

Abb. 14: Ehemaliges deutsches Luftwaffenlager und Arbeitsplatz von Lipke 2018 (privat)

Abb. 15: Rumbula forest memorial near Riga Avi1111 dr. avishai teicher CC BY-SA 3.0

Abb. 16: Verstecke (Žanis Lipke Memorial)

Abb. 17: The shed by Lipkes house in Ķīpsala (Žanis Lipke Memorial)

Abb. 18: The bunker under the shed. Drawing by Žanis youngest son Zigfrīds (Žanis Lipke Memorial)

Abb. 19: Rigaer Juden mit Judenstern 1942 Bundesarchiv Bild 183-N1212-319  Donath, Herbert  CC-BY-SA 3.0

Abb. 20: Gedenkstätte Wald von Biķernieki 2018 (privat)

Abb. 21: Gedenkstätte Wald von Biķernieki Massengräber 2018 (privat)

Abb. 22: Gedenkstein Wald von Biķernieki 2018 (privat)

Abb. 23: Žanis und Johanna Lipke (Žanis Lipke Memorial)

Abb. 24: Žanis und Johanna Lipke (Žanis Lipke Memorial)

Abb. 25: Žanis und Johanna Lipke (Žanis Lipke Memorial)

Abb. 26: Žanis Lipke mit Freunden und Überlebenden (Žanis Lipke Memorial)

Abb. 27: Grab der Familie Lipke Riga 2018 (privat)

Abb. 28: Gedenkstätte Riga 2018 (privat)

Abb. 29: Gedenkstätte Riga  2018 privat

Abb. 30: Shimon Peres bei der Eröffnungsfeier des Museums (Žanis Lipke Memorial)

Abb. 31: Žanis Lipke Memorial

 

Literatur

Arensburg, Grigory (2010): My Escape from the Riga Ghetto. In: Silberman, David (Hrsg.): Like a Star in the Darkness. Recollections about Janis (Zhan) Lipke. Riga. S. 59-72.

Benz, Wolfgang (Hrsg.) (2012): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 5. Organisationen, Institutionen, Bewegungen. Berlin; Bosten: De Gruyter Saur.

Brüggemann, Karsten (2017): Kleine Geschichte der baltischen Staaten. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Estland, Lettland, Litauen. 67. Jg. Heft 8, S. 9-15.

Drizin, Mikhail (2010): The Escape. In: Silberman, David (Hrsg.): Like a Star in the Darkness. Recollections about Janis (Zhan) Lipke. Riga. S. 81-83.

Felder, Björn M. (2016): Nationalsozialistische Krankenmorde in Estland, Lettland und Litauen und die baltische Eugenik der Zwischenkriegszeit 1918-1944. In: Friedmann, Alexander & Hudemann, Rainer (Hrsg.): Diskriminiert, vernichtet, vergessen: Behinderte in der Sowjetunion, unter nationalsozialistischer Besatzung und im Ostblock 1917-1991. Stuttgart: Franz Steiner Verlag (Geschichte), S. 321–340.

Gailis, Māris (o. J.) (o. T): In: Žanis Lipke Memorial. Riga. S. 13

Jan, Franziska (2008): Konzentrationslager Riga-Kaiserwald. In: Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 8. München: C. H. Beck, S. 15-64.

Kellmann, Klaus (2019): Dimension der Mittäterschaft: Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich. Wien; Köln; Weimar: Böhlau Verlag.

Konstantin-Danzig, Rachel (2004): Spiritual Resistance in the Vilna Ghetto. Jüdisches Museum: Vilnius.

Kuhlmann, Jochen (2006): Maywald, Arajs und andere … 60 Jahre NSG-Justiz in Hamburg. In: Demokratische Geschichte. Jahrbuch für Schleswig-Holstein, Jg. 17, S. 135-171.

Lipke, Jānis (2010): Jan Lipke, In His Own Word. In: Silberman, David (Hrsg.): Like a Star in the Darkness. Recollections about Janis (Zhan) Lipke. Riga. S. 17-31.

Lipke, Jānis (2010a): Janis Lipke’s Testimony. Interrogation protocol in the case of Viktor Araijs, accused of crimes against humanity. Riga, April 1, 1976. In: Silberman, David (Hrsg.): Like a Star in the Darkness. Recollections about Janis (Zhan) Lipke. Riga. S. 131-134.

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Reichelt, Katrin (2011): Vortrag zur Präsentation des Buches „Lettland unter deutscher Besatzung 1941-1944. Der lettische Anteil am Holocaust”, gehalten am 15.11.2011 bei der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin. [Abruf am 14.11.2018 unter: https://www.volksbund.de/partner/deutsches-riga-komitee/lettland-unter-deutscher-besatzung-1941-1944.html].

Reichelt, Katrin (2016): Rettung kennt keine Konventionen. Hilfe für verfolgte Juden im deutsch besetzten Lettland 1941-1945. Berlin: Lukas Verlag.

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Silberman, David (2010): Janis and His Associates. In: Silberman, David: Like a Star in the Darkness. Recollections about Janis (Zhan) Lipke. Riga. S. 33-50.

Smolansky, Hain (2010): I Owe Him my Life. In: Silberman, David: Like a Star in the Darkness. Recollections about Janis (Zhan) Lipke. Riga. S. 51-58.

Vestermanis, Marģers (1991): Fragments of the Jewish History of Riga. A Brief Guide-Book with a Map for a Walking Tour. Museum and Documentation Centre of the Latvian Society of Jewish Culture: Riga.

Vestermanis, Marģers (1998): Die nationalsozialistischen Haftstätten und Todeslager im okkupierten Lettland 1941-1945. In: Herbert, Ulrich; Orth, Karin & Dieckmann, Christoph (Hrsg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Band I. Göttingen: Wallstein Verlag. S. 472-492.

Žanis Lipke Memorial Riga: Internetseite. [Abruf am 24.12.2018 unter: http://www.lipke.lv/en/museum/news].

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