Der Rechtsterrorismus ist die größte Herausforderung im 21. Jahrhundert

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28.07.2019

Birgit Lohmeyer und Horst Lohmeyer
Der Rechtsterrorismus ist die größte Herausforderung im 21. Jahrhundert

(Forsthof Jamel) Im Jahr 2004 zogen Birgit und Horst Lohmeyer aus der Großstadt Hamburg in das kleine Dorf Jamel in Mecklenburg-Vorpommern. Sie übernahmen einen denkmalgeschützten Forsthof in idyllischer Landschaft an der Ostsee und erfüllten sich damit einen Lebenstraum. Doch binnen kürzester Zeit änderte sich das Klima im Dorf. War es zunächst nur eine Familie mit rechtsextremer Gesinnung, zogen bald andere nach. Mittlerweile gehören etwa 90 bis 95 Prozent der Dorfbewohner und -bewohnerinnen der Nazi-Szene an, inklusive Familien mit Kindern. Die Stimmung im Dorf wurde feindselig gegen die Lohmeyers, es kam zu Drohungen, Beleidigungen, Diebstahl und Sachbeschädigung.

Um dem etwas entgegenzusetzen, organisierten Birgit und Horst Lohmeyer 2007 ein Rockfestival in ihrem Garten  mit dem Namen „Jamel rockt den Förster“, gegen erheblichen Widerstand ihrer rechten Nachbarn. 2010 wurde ein Festivalbesucher zusammen geschlagen. 2015 fiel die denkmalgeschützte Scheune des Forsthofs einem Brandanschlag zum Opfer. Doch die Lohmeyers gaben nicht auf. Mit nun prominenter Unterstützung vor allem durch die Band „Die Toten Hosen“ wurde das Festival immer größer und illustrer. Es findet jedes Jahr im Sommer – nach wir vor im großen Garten der Lohmeyers – statt.

Die Lohmeyers erhielten für ihre Zivilcourage viele Preise, unter anderem den Paul-Spiegel Preis und den Georg-Leber Preis für Zivilcourage und die „1Live Krone“ und den „Live Entertainment Award“, sie wurden vom Bündnis für Demokratie und Toleranz zu „Botschafter der Toleranz“ und zu „Helden des Norden“ erklärt.

Als wir nach mehrstündiger Autofahrt in dem wirklich idyllisch gelegenen Dorf ankommen, ist das Dorf mit bunten Fahnen geschmückt und wirkt auf dem ersten Blick freundlich. Trotz schönstem Wetter ist kein Mensch zu sehen, aber in jedem Hof bellen eher unfreundlich Hunde. Auf die bunten Fahnen angesprochen, meint Birgit Lohmeyer nur lakonisch „ja die Nazis haben letzte Woche Sommersonnenwende gefeiert“.  Das kleine Dorf selbst ist schnell betrachtet: Wenige Häuser, zum Teil mit Reichskriegsflagge geschmückt, ein Wegweiser nach Braunau zum Geburtsort Adolf Hitlers, eine Wandgemälde mit einer typisch arischen Familien, einem Infokasten mit Bildern der letzten NPD-Demo und einem Bild von Ursula Haverbeck sowie dem neu entworfenen Dorfwappen.

Das Interview fand auf der Veranda des wunderschönen alten Forsthofs statt. Wir danken Birgit und Horst für das Interview und die klaren Worte.

(Jamel, Forsthof) DC: Erst einmal vielen Dank, Birgit und Horst Lohmeyer, für das Interview heute für die Fritz-Bauer-Bibliothek. Birgit, Du bist in Mittelamerika in der Republik Panama geboren worden. Das hat mich überrascht bei der Recherche. Bist Du dort auch aufgewachsen oder wie kamst Du nach Deutschland?

BL: (lacht) Nein, überhaupt nicht. Ich bin relativ kreativ unterwegs in meinem Leben. Das heißt, auch in den Angaben zu meiner Biografie. Da ich als Autorin weiß, wie wenig geschriebenes Wort eigentlich wert ist, ist das alles pure Fantasie und Erfindung. Was Verlage nicht immer lustig fanden. Es hieß dann auch mal Reykjavik, dann war es ein Ort in Mali.

HL: (lacht) Bamako, genau. Wir hatten viel Spaß dabei.

DC: (lacht) Und wir sind direkt darauf reingefallen.

BL: Also nicht alles glauben, was schwarz auf weiß oder wie auch immer gedruckt wird. (lacht)

DC: (lacht) Aber in Hamburg hast Du studiert? Das stimmt?

BL: Das stimmt, ja.

DC: Was hast Du nach dem Studium gemacht? Wie kam es dazu, dass Du als freie Autorin und Schriftstellerin tätig wurdest?

BL: Da ist jetzt ein großer Bogen zu spannen. Ich habe Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt außerschulischer Jugend- und Erwachsenenbildung studiert, mich dann auf Kriminologie spezialisiert, die ich nebenberuflich studiert habe. Sehr schnell habe ich mich auf die Arbeit mit Suchtkranken spezialisiert und diesen Beruf ein gutes Jahrzehnt auch in der Praxis ausgeübt. Dann habe ich gemerkt, dass ist kein Job ist, den ich bis zum Rentenalter ausüben möchte, und überlegt, was ich sonst noch so kann. Das ist halt das Schreiben, das fiktionale Schreiben, das ich im Grunde schon als Kind mal mehr, mal weniger praktiziert habe. Mein Mann hat mich bekräftigt: „Mensch, das kannst Du doch. Warum machst Du da nicht mehr daraus?“ Da habe ich den unvollendeten Roman aus der Schublade geholt, ihn vollendet und angeboten. Und ich hatte das sagenhafte Glück – das passiert den wenigsten Autorinnen und Autoren –, dass gleich einer der ersten drei Verlage, an die ich das Manuskript geschickt hatte, zugeschlagen hat und ich veröffentlicht wurde.

DC: Ich habe gelesen, Du hast auch mit JVAs (Justizvollzugsanstalten, d. Red.) Erfahrungen und im Rotlichtmilieu gearbeitet – oder ist das auch eine Fiktion?

BL: Na ja, man muss differenzieren. Ich habe allein schon deswegen in JVAs gearbeitet, weil meine Klienten ständig „Gäste“ (lacht) in JVAs waren. Tatsächlich habe ich schon während des Studiums angefangen, das, was wir damals Knastarbeit nannten, ehrenamtlich zu machen. Wir haben Freizeit-Gruppen im Jugendknast geleitet. Wir beide haben letztendlich fünfzehn oder zwanzig Jahre lang auf Hamburg Sankt Pauli gelebt. Wir haben mit dem Rotlichtmilieu enge tägliche Kontakte im Alltag gehabt.

HL: Na ja, eher kreative, würde ich sagen. Also ich war künstlerisch auf der Meile sehr aktiv. Also wir waren da nicht irgendwie, was weiß ich, so tief drinnen. (lacht)

DC: Du bist freischaffender Künstler, Horst. Was machst Du?

HL: Ich habe alles gemacht, gemalt, Möbel gebaut, Musik gemacht. Ich habe mich sehr kreativ ausleben können in meinem Leben. Das mache ich heute noch.

DC: Und 2004 habt ihr beide dann Hamburg, die Reeperbahn, verlassen und ein kleines Kontrastprogramm begonnen. Ihr seid in diese wunderschöne idyllische Gegend nach Jamel gezogen – warum Jamel?

BL: Wir haben von Hamburg aus Immobilien gesucht und kleine Touren in das Umland gemacht, um uns Objekte anzuschauen, die wir im Internet gefunden hatten, die zum Verkauf standen. Irgendwann haben wir dieses historische Forsthaus gefunden, mit diesem wunderschönen großen Grundstück. Das war im Grunde unser Lebenstraum, wie wir leben wollten, wenn wir aus der Großstadt wegziehen – deshalb Jamel.

DC: Das war ein Bruch, oder? Zwischen der Großstadt und dem Dorf mit vierzig Einwohnern?

HL: Es hat uns immer ins Grüne gezogen, ob es nun im Urlaub oder am Wochenende war, das war immer unser großer Wunsch. Ich komme aus der Großstadt, habe aber zum Teil auch schon vorher auf dem Land gelebt und wusste es zu genießen. Wir waren uns relativ schnell einig. Irgendwann wird man der Großstadt überdrüssig, da dreht sich irgendwann alles im Kreis, es wurde langweilig. Das ist natürlich ein langer Prozess und den überdenkt man nicht mal eben kurz am Wochenende. Wie gesagt, der Wunsch wurde dann hier in Jamel wahr, genau das zu finden, was wir gesucht haben.

DC: Wusstet Ihr da schon von der Gesinnung der Nachbarn?

HL: Es war ja nur einer hier vor Ort. Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht. Irgendwann hat man gesagt: „Okay, wir trauen uns das zu. Wir waren auch unter anderen Bedingungen, gerade in Hamburg, in dieser Enge, mit einer wirklich schwierigen Nachbarschaft konfrontiert. Dann kommen wir mit dem auch klar.“ Wir haben uns das schlichtweg zugetraut. Wir konnten nicht ahnen, dass es so eine Entwicklung nimmt im Laufe der Jahre. Es ging relativ flott, bereits 2005 wurden hier Bauaktivitäten ersichtlich. Wir hatten damals einen Bauwagenbewohner bei uns auf dem Grundstück, der wurde verbal angegangen, das waren schon die ersten Zeichen: da sind neue Leute hier im Dorf, das ist bei zehn Häusern ja sehr übersichtlich, hier verliert sich niemand. Da ist es schon auffällig, wenn hier mehr passiert als sonst, und so nahm alles seinen Gang – bis 2007.

BL: Genau, wir sind nicht, wie fälschlich oftmals angenommen wird, hierher gezogen und alle anderen Nazis waren auch schon hier. Es war tatsächlich nur Herr Krüger plus Mutter und Schwester, die hier ansässig waren. Das haben wir uns schlichtweg zugetraut, wie Horst auch schon sagte, mit diesen Menschen, die dann noch am anderen Ende des Dorfes leben, in irgendeiner Form klarzukommen.

„Es gibt noch zwei Häuser, in denen die Menschen nicht explizit Mitglieder dieser Nazigruppe sind“

DC: Und wie ist die Situation jetzt? Wie ist das Verhältnis?

BL: Ich sage mal, 95 Prozent der Einwohner sind mittlerweile Angehörige der Naziszene, inklusive ihrer Kinder. Es sind komplette Familien aus dem Umfeld von Herrn Krüger hierher gezogen. Es gibt außer unserem Haus noch zwei andere Häuser, in denen Menschen leben, die nicht explizit Mitglieder dieser Nazigruppe sind.

HL: Zu Anfang, als wir hierhin zogen, hatten wir ausgiebigen Kontakt zu unseren direkten Nachbarn. Daran mussten wir uns auch erst mal gewöhnen, wir kamen ja aus der Anonymität der Großstadt. Das war uns aber von vorneherein schon klar, dass so ein Dorfleben anders funktioniert als die Großstadt. Von heute auf morgen brach das dann total ab. Es gab kein „Guten Morgen“, kein „Guten Tag“ mehr. Das war ein sehr einschneidendes Erlebnis, wie so was vonstattengeht, wie so was funktioniert. (…) Es war auch ein Erlebnis, das sich seitdem quasi wie ein roter Faden hier in dieser Region durchzieht. Man kann das ganz einfach sagen: „Entweder man liebt uns oder man hasst uns.“ Es gibt diese zwei Welten, und man hasst uns mehr, als dass man uns liebt (lacht), habe ich manchmal das Gefühl.

BL: Auf jeden Fall. Wir haben weniger Unterstützer als Leute, die uns scheel angucken, die uns verleumden, die Dinge in Umlauf bringen, die nicht stimmen. Bis hin zu: Der Nachbar erzählt, wir hätten unserer Scheune selber angezündet. Mit solchen Dingen sind wir sehr, sehr häufig konfrontiert. Die Menschen, die zu uns halten, die es hier auch gibt, sind zahlenmäßig in der Minderheit.

DC: Hier in Jamel gibt es Leute, die zu Euch halten? Oder meint Ihr die Leute in der Gemeinde Gägelow?

BL: Nein, die Region. Ich spreche nicht von Gemeinden, wir sprechen von der Region.

DC: Wie ist das in so einem kleinen Dorf, vierzig Seelen, zu leben und man kann zu keinem mal eben rübergehen, einen Kaffee trinken, quatschen, am Zaun einen Plausch halten?

BL: Ich bin super glücklich darüber, dass es so ist. Stellt Euch vor, ich bin Großstädterin. Ich habe doch gar keinen Bock auf soviel Nachbarschaftskontakte. Ich suche mir doch lieber meine Freunde und Bekannte selber aus und nicht in so einer Notgemeinschaft. Insofern, sage ich immer, hat es sich gefügt, wir sind als Ex-Großstädter genau die Richtigen in diesem Dorf, die auch gar nicht darauf erpicht sind, so wahnsinnig enge Nachbarschaftskontakte zu haben. Das lässt uns die Situation hier aushalten.

DC: Aber wenn Ihr durch das Dorf geht, ist das wie Feindesland betreten, oder wie ist das?

HL:  Wir gehen nicht mehr durch das Dorf. Wir werden natürlich angesprochen, man nimmt uns wahr, die Kinder winken. Der verbale Zuspruch ist aber nicht immer positiv.

BL: (lachend) Oh, das ist aber süß ausgedrückt. Kleine Szene: Einkaufen gestern im Supermarkt, in der nächsten kleinen Stadt. Herr Krüger und sein Sohn kaufen dort auch ein, sehen mich und lauthals wird durch den Laden gerufen: „Hier stinkt es aber.“ (lacht) Das sind die Nachbarschaftskontakte, auf die wir natürlich gerne verzichten. (lacht)

DC: Der Sohn ist wie alt?

HL: Fünfzehn, sechzehn.

BL: Nein, der ist schätzungsweise schon siebzehn. Der ist auf jeden Fall schon raus aus der Schule. Und ich weiß gar nicht, was er macht, ob er eine Ausbildung macht oder so was, keine Ahnung (…) Er lernt Nazi, weiterhin. (lacht)

DC: Ich habe gehört, der ist auch schon auf Demonstrationen fleißig unterwegs.

HL: Ja.

BL: Ja, klar.

DC: Fünf Prozent der Menschen, die hier leben, sind noch in Anführungszeichen „normale“ Menschen, also nicht Nazis. Halten die still oder haben die ein freundschaftliches Verhältnis mit den Nazis?

BL: Sie versuchen der Konfrontation aus dem Weg zu gehen, sagen wir es mal vorsichtig so.

DC: Die ducken sich weg.

BL: Die ducken sich weg, ja.

DC: Das kam für Euch nicht infrage?

BL: Auf keinen Fall.

„Woanders hingehen kam nicht in Frage, dann hätten wir uns selbst aufgegeben“

DC: Warum nicht?

BL: Warum sollte es? Ich meine, wir leben in diesem Land seit unserer Geburt und haben das schätzen gelernt, die freiheitliche, offene Gesellschaft, die wir haben. Wenn dann Leute kommen, die meinen, nur, weil sie eine andere politische Meinung haben, uns unterdrücken zu können, Straftaten an uns zu verüben, da glaube ich, wäre es eine seltsame Art zu sagen: „Ach, na gut, wir haben uns geirrt, wir ziehen mal woanders hin.“ (lacht) Also das kommt nicht infrage. Dann hätten wir nicht nur unser Land aufgegeben, unsere Heimat, sondern auch uns selbst, unsere Haltung.

DC: Der Forsthof hier ist wunderschön und sehr alt und auch denkmalgeschützt. Die Scheune, die vor dem Haus stand, war auch denkmalgeschützt, wie ich gelesen habe, brannte sie 2015 ab und die Staatsanwaltschaft hat wegen Brandstiftung ermittelt. Hattet Ihr Hilfe bei den Löscharbeiten in der Nacht, wo es brannte?

HL: Ja, die Feuerwehr hat uns unterstützt, damit unser Wohnhaus nicht auch noch in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Scheune brannte innerhalb kürzester Zeit bis auf die Grundmauern nieder. Wir hatten zu dem Zeitpunkt noch eine Ferienwohnung, die war auch zu dem Zeitpunkt belegt, eine Familie mit drei kleinen Kindern (wohnte da). Das war schon ein sehr dramatisches Erlebnis. Man merkt, jetzt kommen die schon auf den Hof und zündeln. Was wird das Nächste sein? Da war schon eine Entscheidung zu treffen und zu sagen. „Okay, wir holen jetzt unseren Koffer mit den wichtigen Papieren. Hol den mal raus, es könnte sein, dass auch das Wohnhaus in Mitleidenschaft gezogen wird.“ Und den Urlaubern dann auch zu raten, ihre Wertsachen aus dem Haus zu holen. Das ist ein Erlebnis, das gönne ich niemandem. Man ist aufgeregt und steht unter Schock und kann einfach nichts machen, wenn so ein riesiges Gebäude abbrennt, man kann nur noch zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig Meter Abstand halten. Das ist eine enorme Hitzeentwicklung, die da stattfindet.

DC: Und Anteilnahme aus der Nachbarschaft?

BL: Natürlich nicht.

HL: Ja, Versicherungsbetrug, selbst angezündet und, und, und, alles solche Sachen. (…)

BL: In der Regionalzeitung stand, man hätte „angeblich“ jemanden beobachtet, der weggelaufen wäre. In der Lokalpresse wird immer eher gegen die Lohmeyers agitiert, als in unserem Sinne oder im Sinne der Demokratie geschrieben. Ich sage es mal so: „Um unsere Jungs von hier zu schützen.“ Herr Krüger ist hier geboren, das heißt, er ist ein Einheimischer. Insofern genießt er den Schutz und die Milde sehr, sehr vieler Einwohner, die selber überhaupt nicht unbedingt rechtsextrem sein müssen, aber die ihn halt kennen und wissen, dass er doch so ein hilfsbereiter Junge ist …

HL: Warum müssen die Lohmeyers auch immer so einen Ärger machen? (BL: (lacht)) Die können doch mal ruhig sein, was soll denn das?

DC: Ihr seid die Zugezogenen aus der Stadt.

BL: Und vor allem aus dem Westen zugezogen. Das kommt noch verschärfend dazu: Feindliche Übernahme!

DC: Und welche Repressionen oder Angriffe habt Ihr sonst noch erlebt?

HL: Och, wir haben Behinderung im Straßenverkehr, Diebstahl, Sachbeschädigung…

BL: …Beleidigungen, Morddrohungen, Erpressungen, also im Grunde sage ich immer, wir haben das ganze Strafgesetzbuch quasi durchdefiniert – als Opfer.

DC: Autoreifen?

HL: Ja, ja, ja, natürlich. Eine tote Ratte in den Briefkasten, ist auch immer hübsch. (lacht)Zu viele Mafiafilme gesehen.

DC: Wie hält man das aus?

HL: Mit einem gesunden Sarkasmus, sagen wir es mal so, über alles und sich selbst lachen zu können. Es ist natürlich auch Verdrängung, da machen wir uns nichts vor. Manchmal gibt es auch Tage, wo man sich sein altes Leben wieder zurückwünscht. Das ist ganz normal und Wahnsinn, aber es gibt auch Tage, wo man es wirklich toll hier aushalten kann. Es ist ein schönes Grundstück am Wald, eine Ruhe, die Natur pur. Das ist das, was wir uns eigentlich immer gewünscht haben, und daran erinnern wir uns ab und zu, dass es auch was Nettes gibt.

BL: Es gibt auch Kraft, gerade dieser alte Forsthof, der ist ein energetisch guter Ort, der uns Kraft gibt, die Widrigkeiten, die von außen kommen, auszuhalten.

„Wir könnten das Haus nur an Nazis verkaufen, und mit Nazis machen wir keine Geschäfte“

DC: Das fragt man sich immer: Woher man die Kraft nimmt, hier wohnen zu bleiben und nicht einfach zu verkaufen und woanders hinzuziehen?

HL: Na ja, ich meine, man kauft nicht mal eben ein Haus, um dann zu sagen: „Ach, es war eigentlich Bullshit hier, komm, lass uns das mal wieder verkaufen. Wir kaufen uns ein Neues.“ Das funktioniert so leider nicht.

BL: Wir könnten, wenn überhaupt, diese Immobilie nur an Nazis verkaufen, und mit Nazis machen wir keine Geschäfte, in keiner Weise, weder Immobiliengeschäfte noch andere. Insofern ist das Objekt unverkäuflich. Wir haben nicht das Kleingeld in der Portokasse, um uns irgendwo anders ein neues Haus kaufen zu können. Insofern sind wir gebunden und fühlen uns auch gebunden, diese alte Bausubstanz zu erhalten, das denkmalgeschützte Objekt nicht in falsche Hände kommen zu lassen.

DC: Wenn man jetzt in der Presse von Todeslisten liest, die diverse Nazi-Verbände erstellen, NSU hat die 10.000er Liste, Nordkreuz hat Todeslisten…, bekommt Ihr da Angst? Macht Euch das Angst?

BL: Nicht mehr als wir schon hatten. Uns ist natürlich klar, dass wir sicherlich auch auf mindestens einer Liste stehen. Wir wissen schon lange, wie gewaltbereit die Rechtsterroristen in unserem Land sind, mit welchen Kalibern wir es hier in unserer Region zu tun haben. Da dürfen wir uns alle nichts vormachen, jetzt ganz erschrocken tun und sagen: „Ah, das wussten wir alles gar nicht, wie brisant das ist und wie gewaltbereit die Szene.“ Das werdet Ihr von uns nicht hören. Wir wissen schon sehr, sehr lange, in welcher Gefahr wir alle schweben, nicht nur wir Aktivisten, sondern die Bevölkerung insgesamt.

„Der gezielte Zuzug der Nazifamilien, um ein Nazi-Musterdorf zu errichten, sollte nicht unbemerkt bleiben“

DC: Und die Idee zu dem Musikfestival, wie kam das?

BL: Ganz platt gesagt: Horst ist Musiker, wir sind beide Kulturschaffende und wir hatten die Idee für dieses Dorf. Es sollte eben nicht ein reines Nazi-Dorf bleiben oder sein oder werden, sondern wir möchten die Öffentlichkeit damit konfrontieren, was hier passiert. Dieser gezielte Zuzug der Nazifamilien, um hier ein Nazi-Musterdorf, wie wir immer sagen, zu errichten, sollte nicht unbemerkt bleiben. Das heißt, wir haben angefangen, hier bei uns auf dem Hof Kulturveranstaltungen anzubieten, Kunstausstellungen, Gartenausstellungen, dann auch 2007 das erste Musikfestival, um den Menschen gefahrlos die Möglichkeit zu geben, das Dorf anzuschauen. Mit uns darüber zu sprechen, warum wir hierbleiben, warum wir aktiv werden. Das hat funktioniert, nur die Kunstausstellung und die Gartenausstellung wurden uns nach ein paar Jahren ein bisschen zu viel, weil das Festival immer größer und aufwendiger wurde. Wir planen jetzt letztlich das ganze Jahr über an dem Festival, das an einem Wochenende im August stattfindet. Insofern haben wir alles andere sein lassen, eingedampft, und machen jetzt nur noch politische Bildungsarbeit in Schulklassen, in Vereinen und so weiter, wo wir als Referenten auftreten. Das ist eines unserer Standbeine. Und das zweite ist das große Festival, das einmal im Jahr stattfindet.

DC: Das findet in Eurem Garten statt, weil Ihr so einen schönen großen Garten habt?

HL:  Der ist prädestiniert dafür, ja.

DC: Das macht auch nicht jeder, fremde Menschen in seinen Garten lassen!

BL: Das stimmt wohl, aber ich meine, wir haben es eigentlich gar nicht verdient, so ein großes, schönes Gelände nur für uns alleine zu haben, deswegen teilen wir das gerne.

DC: Das Festival findet seit 2007 statt. Die Liste der auftretenden Künstlerinnen und Künstler wird immer illustrer: Tote Hosen, Ärzte, Fettes Brot, Kraftclub, alles bekannte Namen. Müsst Ihr lange suchen oder melden sich die Künstler mittlerweile bei Euch?

BL: Die Geschichte geht so: 2015 ist unsere große Scheune einer Brandstiftung zum Opfer gefallen und die Meldung kam sogar in der TAGESSCHAU der ARD. Daraufhin wurde Campino, der Sänger der Toten Hosen, auf uns und das Dorf aufmerksam. Die Band bot uns spontan –die Brandstiftung passierte anderthalb Wochen vor unserem damaligen Festival – einen Benefizauftritt auf dem Festival an. Das haben wir natürlich sehr, sehr gerne angenommen, und die Band hat gesagt: „Wir möchten aber ein wenig nachhaltiger unterstützend für Euch Lohmeyers wirken“, und hat uns angeboten, uns ein paar Profis aus deren Agentur zur Seite zu stellen. So kamen wir in den Genuss, Kontakte zu den großen Stars und Bands zu haben. Diese Kooperation, diese Unterstützung, passiert weiterhin, sie ist nicht mit einem Enddatum versehen. (…). Es passiert mittlerweile aber auch, dass Leute, wie zum Beispiel im letzten Jahr Herbert Grönemeyer, sich selbständig bei uns melden und sagen: „Wir würden gerne bei Euch auftreten.“ Das hat so eine Strahlkraft bekommen, unsere kleine Bühne – die ja gar nicht so klein ist –, dass auch andere Musikerinnen und Musiker merken: Das Festival ist sehr stark im Fokus der Öffentlichkeit und was hier von der Bühne herunter gesagt und getan wird, das findet letztlich in ganz Deutschland statt.

HL: Es ist ein Forum, sich ganz klar und sachlich zu positionieren. Wir haben sehr professionelle Hilfe, das muss man sagen. Das wird von Profis geführt, dieses Festival, mit uns als Zugpferden…

BL: …als Semiprofis mittlerweile natürlich auch.

HL: Das ist schon echt klasse.

DC: Wie war die Reaktion Eurer Nachbarn auf das Festival?

„Die Reaktion war von Anfang an extrem negativ. Selbst, als das Festival noch ganz klein war“

BL: Die war von Anfang an extrem negativ. Selbst, als das Festival noch ganz klein war, mit hundert Besuchern und sechs Bands, die wahrscheinlich keiner kannte, sah es schon so aus, dass im Dorf handschriftlich gemalte Plakate von den Nazis plakatiert wurden: „Jamel scheißt auf den Förster“. Das war jetzt ein Zitat.

HL: „Verpisst euch“… Es wurde dann außer der Reihe plakatiert, das ganze Dorf mit irgendwelchen NPD-Plakaten behangen, um unsere Besucher zu begrüßen. In einschlägigen rechten Medien wurde uns unterstellt, wir würden öffentliche Gelder unterschlagen und das würde alles nichts bringen. Dann wurden Fotos veröffentlicht, sie hatten sich auf das Gelände geschlichen und hier Fotos von menschenleeren Ecken  gemacht.

BL: Und hübsch ist auch: Sie lassen sich auch immer gerne T-Shirts mit irgendwelchen Slogans bedrucken. Es gab in Frakturschrift den Slogan „Hier rocken wir“, dorfweit während des Festivals getragen, damit unsere Besucher das wahrnehmen können. Das sind die Reaktionen.

DC: Ich habe von Herrn Krüger, dem Anführer der Neonazis im Dorf, gehört, das er in einem Interview gesagt hat, er findet die Toten Hosen eigentlich ganz gut. Wollte er damit für die Presse sagen: „Ach, ich habe nichts gegen das Festival, finde ich eigentlich ganz cool.“ ?

HL: Ja, natürlich. Man versucht sich ein bisschen einer Strömung anzupassen, nicht zu viel Gewichtung auf dieses Festival zu bringen. Das wäre kontraproduktiv, man müsste quasi in Vorleistung gehen, wenn er das jetzt nicht auch toll oder gut finden würde oder wie auch immer, also Strategie. Unsere stille Hoffnung istdie Kinder und Jugendlichen zum Nachdenken bringen, warum ihre Stars hier bei Lohmeyers auf der Bühne stehen und spielen, und sie da nicht hindürfen. Ob vielleicht doch irgendwas falsch ist an dem, was die Eltern ihnen erzählen.

HL: Das sät Zweifel, zu sagen: „Das ist toll da, was die da so machen.“ Bei denjenigen, die noch nicht so infiltriert sind. Das ist ja ein Novum, so ein Festival in Ruf- und in Sichtseite von beinharten Nazis. Das hier sind Fundamentalisten, die wirklich an ihre Sache glauben. Und dann die Reaktion von den Kindern, wir haben schon öfters mitbekommen, dass Kinder irgendwo auf der Straße spielen, wir an ihnen vorbeifuhren, und sie sich ganz schnell von uns weggedreht haben oder sie wurden von den etwas Größeren dazu gedrängt, keinen Blickkontakt mit uns aufzunehmen.

BL: Die Augen wurden sogar zugehalten.

HL: Ja, die Augen zugehalten. Ich meine, so was ist doch pervers. Wenn man sich das vorstellt, was die mit den Kindern alles machen.

BL: Das ist sehr bizarr.

DC: Wurden Festivalbesucher und -besucherinnen bedroht?

HL: 2010 hatten wir einen Übergriff durch die Rechten, da haben sich zwei auf das Festivalgelände geschlichen und einen Besucher krankenhausreif geschlagen. Das war ein einschneidendes Erlebnis. Da gab es noch keine umfangreiche polizeiliche Fürsorge, wie wir sie heute erleben. Es wurde uns geraten, nach einem Gespräch in Wismar, doch mal mit dem Krüger zu reden, dann würde alles wieder okay sein. Es hat uns sehr erschrocken, wie laissez-fairedie Sicherheitsbehörden damit umgegangen sind. Das hat sich verbessert, wir haben jetzt eine sehr gute Zusammenarbeit mit der Polizei, die machen einen guten Job, und wir sind froh darüber.

BL: Das ist eine Erkenntnis, ein Lerneffekt, den wir während der Jahre, die wir jetzt hier leben, hatten: dass es immer darauf ankommt, wer die Polizeiführungsfigur ist. Wenn das jemand ist, der ein Bewusstsein für die Gefahr der Rechtsterroristen und Rechtsradikalen hat, schlägt sich das auch in den Aktionen der Polizei nieder. Das ist seit mehreren Jahren so. Die Führung hat zwar in den letzten vier, fünf Jahren schon einmal gewechselt, aber auch die Nachfolgerin ist eine sehr wachsame Person und bemüht, in Jamel polizeilich was zu erreichen.

DC: Die Schirmherrin des Festivals ist mittlerweile Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern. Hilft das in irgendeiner Weise, nützt Euch das?

BL: Das ist eine Frage, die sich so einfach nicht beantworten lässt. Es ist natürlich erst mal toll, dass Manu für uns als Schirmherrin da ist, dass sie das gerne unterstützt. Sie ist bei dem Festival jeweils mindestens einen Tag lang für eine Weile hier, zeigt sich, zeigt unseren Besuchern und den Künstlern, was für eine Wertschätzung die Landespolitik und im Grunde auch die Bundespolitik – sie ist ja schon als Bundesministerin Schirmherrin geworden – für dieses Festival hat. Die Kehrseite ist, dass sich das in keiner Weise auf das Agieren der regionalen und kommunalen Verwaltung niederschlägt. Das heißt, je niedriger man in der Hierarchie kommt, das heißt kleiner Bürgermeister, Chef des Ordnungsamtes oder auch Landkreismitarbeiter: die sehen nicht ein, warum sie, nur weil Manuela Schwesig die Schirmherrin ist, für dieses Festival irgendwas besonderes tun sollten.

DC: Bekommt Ihr von dieser Seite auch Steine in den Weg gelegt?

HL: Die Sache wird uns nicht gerade leicht gemacht. Wenn ich mir vorstelle, was für eine Ausstrahlung das Festival hat, wie viele Preise wir schon bekommen haben, stellen sich mehr Fragen als Antworten. Das ist manchmal nicht ganz einfach, da alles auf Formalien reduziert wird: eine Festivalgenehmigung, ein Festivalablauf und so weiter. Die Ausstrahlung, die das für die Region bedeutet, wird nicht wahrgenommen. Man hält sich sehr bedeckt beziehungsweise in der Meinungsäußerung neutral uns gegenüber. Das sind Dinge, die sich im Laufe der Jahre entwickelt haben. Mit der Größe des Festivals wuchs auch die Ablehnung, oder ich sage mal nicht so direkt Ablehnung, aber es wird schon überkritisch gesehen. Die Verhältnismäßigkeit stimmt meines Erachtens nicht. Es gibt  für die Sicherheit die Polizei, für Genehmigungen die Behörden, und es gibt bestimmte Inhalte, darüber kann man reden. Aber es wird nicht gesagt: „Tolle Sache, super. Klasse, was ihr da macht. Was können wir für euch tun?“ Also man rennt uns nicht die Türen ein. Das habe ich mir ein bisschen anders vorgestellt und da bin ich auch enttäuscht. Das zeigt sich auch in der Politik, wie mit den Rechten nach dem Motto umgegangen wird: Alles halb so wild, lass’ die mal ein bisschen rumhitlern. Bis hier im Dorf: dass von der Gemeinde einem Nazi die zentrale Dorfwiese für einen Apfel und ein Ei überlassen worden ist. Für eine Handvoll Euros wird die zentrale Dorfwiese verpachtet. Was ist das für ein Zeichen? Was ist das für eine Strategie? Ich verstehe das nicht. Und es ist nicht nur das, das ist offiziell, wir haben aber noch andere Dinge. Wir könnten jetzt noch eine Stunde weiterreden, was alles uns daran zweifeln lässt, dass die Leute wirklich was gegen die Rechten unternehmen wollen.

DC: Okay. Würdet ihr Euch mehr Unterstützung wünschen von offizieller Seite?

HL: Ja, auf jeden Fall, auf alle Fälle. Ich vermisse viele Dinge. Wir sind nicht dazu da, um hier wie auch immer auf Friede, Freude, Eierkuchen und ein bisschen was gegen die Nazis zu machen, mit einem kleinen Festival. Wir kritisieren auch Dinge, die sich die Politik leistet, zum Beispiel den Verkauf eines Grundstücks an einen Nazi. Das wurde von uns angemahnt und kommuniziert. Dann eine Anzeige des zweiten Bürgermeisters, an der B105, das ist die Bundesstraße, dürfe man nicht plakatieren. Als zweiter Bürgermeister war er vierzehn Tage vorher mit uns in Kontakt. Ich meine, wenn man daran vorbeifährt, kann man doch kurz mal nach Jamel fahren und uns darauf aufmerksam machen, dass man so was nicht darf. Das ist alles sehr unverhältnismäßig, darüber haben wir uns auch bei seinem Chef beschwert, der hat uns beigepflichtet. Das sind alles solche im Grunde genommen kleinen Dinge, wo wir sagen: „Leute, sprecht doch mal mit uns. Was ist denn? Wo ist das Problem? Machen wir zuviel? Machen wir irgendwas verkehrt? Zuviel Kritik? Könnt ihr Kritik nicht ab? Könnt ihr nicht damit leben?“ Wie auch immer, ich verstehe es manchmal nicht.

DC: Darf ich noch eine Frage zu Deiner Kandidatur stellen? Du hast im Mai 2019 für den Kreistag in Nordwestmecklenburg für die SPD kandidiert, hast die Wahl gegen Herrn Krüger aber verloren. Das ist ja nicht nur Jamel.

BL: Das ist nicht ganz richtig.

DC: Und wieso steht das immer in der Presse?

BL: Ich habe zwei Kandidaturen gehabt: Eine für den Kreistag und eine für die Gemeindevertretung unserer Gesamtgemeinde, zu der auch Jamel gehört. In der Gesamtgemeinde hat Herr Krüger mit seiner Wählerliste kandidiert, nicht für den Kreistag. Das sind zwei unterschiedliche Ebenen.

DC: Und da hast Du gegen Herrn Krüger verloren?

BL: So würde ich das nicht bezeichnen (lacht). Ich habe auf jeden Fall nicht genügend Stimmen bekommen, um selber einen Sitz in der Gemeindevertretung zu bekommen.

DC: Hat Herr Krüger den Sitz bekommen?

BL: Ja, Herr Krüger hat mittlerweile einen Sitz dort. Zum ersten Mal, dass ein expliziter Rechtsradikaler und vorbestrafter Straftäter Mitglied der Gemeindevertretung unserer Gesamtgemeinde geworden ist.

DC: Und das waren nicht nur die Leute aus Jamel, die ihn gewählt haben.

BL: Da seine Liste insgesamt über vierhundert Stimmen bekommen hat, kann man sich das rein mathematisch erklären, dass das nicht nur Jameler gewesen sind, die das Kreuz bei ihm gemacht haben (lacht). Die Region ist schon durchsetzt von Sympathisanten.

„Dranbleiben, darüber reden, nicht verdrängen, jeder kann etwas tun“

DC: Hat man da noch Kraft, hier weiterzumachen, nach so einer Wahl?

HL: Jetzt erst recht. (BL: Ja, sicher.) Das ist erst mal erschreckend, sagen wir es mal so, diese Erkenntnis, dass seine Liste, bei etwas über 2.000 Wahlberechtigten und einer Wahlbeteiligung von 67 Prozent, über vierhundert Stimmen bekommen hat. Es gibt noch viel zu tun.

BL: Ja, jetzt haben diese Leute die Hosen runtergelassen, indem sie den Krüger und seine Liste gewählt haben. Das ist vielleicht auch ganz schön, als Erkenntnisgewinn wichtig für uns, dass wir wissen, wie hier die Mehrheitsverhältnisse sind, wie die Gemeinde tickt, wie viele Sympathisanten die Rechtsradikalen hier tatsächlich haben. Wenn man nicht parlamentarisch arbeiten kann, dann macht man es außerparlamentarisch, das war bisher sowieso unser Weg. Der manchmal auch viel einfacher ist (lacht), insofern ist das Wahlergebnis zu verschmerzen.

HL: Da ist es uns egal, ob wir ein öffentliches Mandat haben oder nicht, wir machen trotzdem unseren Mund auf.

DC: Wie sind Eure weiteren Pläne?

HL: Nach dem Festival ist vor dem Festival (lachend), das geht immer so weiter. (BL: Genau.) Ich habe noch nicht das Gefühl, irgendwie auch noch nicht darüber nachgedacht, dass irgendwann mal Schluss sein könnte, mir auch keinen festen Termin gesetzt.

DC: Und kommunalpolitisch? Wird es da auch weitergehen?

HL: Das wird auch weitergehen, auf alle Fälle.

BL: Ich werde nicht aus der Partei austreten, weil ich jetzt bei der Wahl keinen Sitz im Gemeinderat bekommen habe – und übrigens auch nicht im Kreistag. Nein, ich bleibe der SPD natürlich treu und versuche, das Thema Rechtsradikalismus, Gefahr von Rechts, Rechtspopulismus immer wieder anzuspielen. Das ist nicht einfach, weil in den sogenannten bürgerlichen Parteien eine wahnsinnige Resistenz dem Thema gegenüber existiert, von wegen: „Da wollen wir uns eigentlich gar nicht darum kümmern müssen. Läuft doch alles hier.“ Lieber kümmert man sich um irgendwelche anderen Themen, die ja nicht unwichtig sind, aber trotz alledem denke ich, bin ich dafür da, überall, wo ich auftrete, sei es in der Partei, sei es woanders, das Thema Rechtsradikalismus, Rechtsterror weiterhin in den Köpfen der Menschen zu ventilieren.

DC: Wie kann man Euch dabei weiter unterstützen – zum Beispiel?

HL: Indem man immer wieder auf die große Problematik des Rechtsradikalismus aufmerksam macht. Ich meine, gerade aktuell ist ein Politiker umgekommen, erschossen worden. In den letzten zwanzig Jahren sind laut der Amadeu Antonio Stiftung über 180 Menschen erschossen, erschlagen, verbrannt worden.

BL: Durch Rechtsradikale!! Es ist gut, dass jetzt endlich der Hahn danach kräht. Es war ein ganz tragischer Anlass, aber uns wundert in der Hinsicht überhaupt nichts, wir kennen die Opferzahlen rechter Gewalt. Insofern: dranbleiben, darüber reden, nicht verdrängen, das ist es. Jeder in seinem Umfeld sollte das tun, was er oder sie kann, es muss nicht immer ein Rockfestival sein. Jeder kann irgendwas tun, gegen Hass vorgehen, Stammtischparolen beantworten, auf kluge, gesunde, intelligente Art.

DC: Das ist ein tolles Schlusswort. Gibt es noch Dinge, die Ihr sagen möchtet? Ist noch irgendwas nicht erwähnt worden, was Euch am Herzen liegt?

BL: Was mir immer sehr, sehr am Herzen liegt, ist der Appell an alle Menschen, die in der Bildungslandschaft tätig und unterwegs sind: Vergesst bitte, bitte nicht die politische Bildung. Damit meine ich die jüngste deutsche Geschichte. Wenn wir an ein Gymnasium kommen und uns Zehntklässler erzählen: „Nein, also das mit der NS-Zeit, das hatten wir noch nicht, Holocaust, nein, was ist das?“, da stimmt irgendwas nicht.

HL: Das ist jetzt der Einzelfall, aber…

BL: Das ist uns aber tatsächlich passiert, auch wenn es nur ein Einzelfall ist. Es war ein Gymnasium im ländlichen Raum, aber für mich entschuldigt das in keiner Weise irgendetwas. Wir sind einfach zu geschichtsvergessen in unserem Land.

HL: Der Rechtsterrorismus ist die größte Herausforderung im 21. Jahrhundert. Wenn wir das nicht in den Griff kriegen, dann fliegt uns alles irgendwann um die Ohren.

MF: Ich habe noch eine Frage.

BL: Ja, natürlich.

MF: Als Euch die Scheune abgebrannt wurde, denkt man da nicht irgendwann: Okay, krass, die Angriffe von denen kommen immer näher und das ist real, so dass wirklich was passieren kann. Kann sein, dass unser Haus irgendwann brennt oder uns was passiert. Dass man lieber sich selbst schützt und weggeht? Oder war das wirklich nur Bestärkung?

HL: Man entwickelt eine ambivalente Haltung: Auf der einen Seite ist der Zeitpunkt kurz vor dem Festival gewesen. Man ist sehr eingespannt mit dem einen und dem anderen, dass da gerade jemand versucht, irgendwas zu verhindern. Das heißt, man konzentriert sich auf Dinge. Die Überlegung, zu sagen: „Ist jetzt die Zeit, aufzuhören. Die Zeit, hier langsam die Zelte abzubrechen“, kommt erst später. Ich habe für mich so einen demokratischen Trotz entwickelt und, glaube ich, auch bei Birgit. Wir haben darüber gesprochen, diskutiert und gesagt: „Was machen wir hier?“ Die materiellen Dinge, das haben wir beide festgestellt, unabhängig voneinander, interessieren uns nicht mehr. Es gibt andere Dinge, ich meine, wenn nun alles in Rauch aufgeht, dann ist man halt mittellos, aber man lebt noch. Das ist das Wichtigste und nicht, sich an irgendwelche materiellen Dinge zu klammern. Ballast abwerfen zu können, das ist schon mal die halbe Miete, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wie gesagt, man kauft nicht ein Haus, um es innerhalb kürzester Zeit wieder zu verkaufen. Dazu sind wir monetär nicht in der Lage, davon mal ganz ab. Der demokratische Trotz heißt: uns nicht von ein paar Idioten hier verjagen zu lassen, das kann nicht sein, dann stimmt unsere Welt nicht. Mein Gott, 75 Jahre nach dem „Dritten Reich“, nach einem verlorenen Weltkrieg, Frieden, freie Meinungsäußerung, pluralistische Gesellschaft, was wollen wir eigentlich noch mehr? Was wollen die Rechten uns denn erzählen? Dass es noch besser geht (lacht)? (BL: (lacht)) Ich meine, der Faschismus, alle Diktaturen, ist früher oder später zugrunde gegangen beziehungsweise mit starken Oppositionen konfrontiert.

BL: Genau, die Überlegung, wegzuziehen, war maximal Bruchteile von Sekunden da. Im Gegenteil, selbst wenn wir in der Nacht obdachlos geworden wären, weil auch unser Wohnhaus abgebrannt wäre, wir hätten einen Bauwagen hingestellt und wären geblieben. Das ist doch wohl logo.

HL: Na klar.

DC: Ja, super, vielen Dank!

Filmkamera: Mike Fischer
Fotos: Bosse/ Headerbild ©Charles Engelke; Birgit Lohmeyer und Horst Lohmeyer ©Jaro Suffner; Kraftclub/ Blick ins Publikum ©Paul Gärtner
Kontakt: info@fritz-bauer-blog.de

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