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03.11.2020

Aryeh Neier

Mir war die Anzahl der Menschen in meiner Familie bewusst, die ermordet worden waren

Aryeh Neier im Interview von Irmtrud Wojak und Joaquín González Ibáñez

New York, USA (Original in englischer Sprache)

 

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Aryeh Neier, geboren 1937, überlebte den Nationalsozialismus in Deutschland, weil es seinen Eltern gelang, 1939 zunächst nach England und dann in die USA zu fliehen. Er wurde Menschenrechtsaktivist, war Mitbegründer von Human Rights Watch und war von 1993 bis 2012 Präsident des philanthropischen Netzwerks Open Society Institute von George Soros. Aryeh Neier war von 1970 bis 1978 Nationaler Direktor der American Civil Liberties Union, und er war auch an der Gründung von Students for a Democratic Society (SDS) beteiligt. Lesen Sie hier das vollständige Interview. – Die Redaktion


Ich war zwei Jahre, als wir Berlin verließen

IW: Herr Neier, ich würde gerne in Berlin anfangen. Wir haben gerade über Berlin gesprochen und dass Sie in Berlin geboren sind.

AN: Ich bin in Berlin geboren, aber ich habe keine Erinnerung an Berlin. Ich war zwei Jahre alt, als wir Berlin verließen. Meine Familie ist jüdischer Herkunft. Nach der „Kristallnacht“ wurde meinem Vater klar, dass wir weggehen mussten, und er versuchte, einen Ort zu finden, wo er hingehen konnte. Es war zu diesem Zeitpunkt schwierig, ein Land zu finden, das uns aufnimmt, aber die Briten waren einverstanden. Die Briten nahmen zu diesem Zeitpunkt tatsächlich mehr Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich auf als jedes andere Land. Ich glaube, dass die Briten ungefähr in dem Jahr vor Kriegsbeginn und für eine kurze Zeit nach Kriegsbeginn etwa 70.000 Juden aufnahmen, die versuchten, Deutschland und Österreich zu verlassen. Meine älteste Schwester ist zuerst nach England gegangen. Sie war acht Jahre älter als ich und kam im Alter von zehn Jahren mit einem Kindertransport nach England. Sie war einige Monate dort, bevor wir weggehen konnte. Wir kamen tatsächlich am 16. August 1939 in England an. Das war etwa zwei Wochen vor Kriegsbeginn. Zu diesem Zeitpunkt waren die Briten besorgt, dass sich unter den Flüchtlingen Spione und Saboteure befinden könnten. Also internierten sie die Männer, einige für kurze Zeit, andere für längere Zeit auf der Isle of Man, ließen sie sich im Grunde gegenseitig überführen und dann durften sie wieder gehen. Da mein Vater interniert wurde – nicht sehr lange, aber er wurde eben doch mitgenommen –, und meine Mutter arbeiten musste, um für ihre Existenz aufzukommen – sie konnte nichts aus Deutschland mitnehmen –, wurde ich in ein Heim für Flüchtlingskinder gesteckt.

JGI: Entschuldigen Sie die Unterbrechung, welchen Beruf hatte Ihr Vater?

AN: Er war Lehrer.

JGI: Ah, das ist der wichtigste Beruf. Und wenn Sie dann später wiedereinsetzen könnten, als Sie realisierten, woher Sie kommen? Würden Sie ein wenig über die Werte in Ihrer Familie erzählen, die in Ihre Lebensvorstellung einflossen?

AN: Ich wurde, weil meine Mutter arbeiten musste und sie sich nicht um mich kümmern konnte, in einem Heim für Flüchtlingskinder untergebracht. In der Herberge verbrachte ich elf Monate. Danach war mein Vater nicht mehr in der Gefahr, interniert zu werden, und er konnte die Familie wieder zusammenführen. Ich habe die Herberge gehasst, es gibt nur wenige Momente dort, an die ich mich erinnere. Aber ich erinnere mich, dass ich mich schlecht benommen habe, und ich wurde hinter eine Bank in der Ecke des Raumes gesetzt, in dem die Kinder spielten. Hinter dieser Bank stand ich, während die anderen Kinder zum Spielen nach draußen gingen. Ich erinnere mich an diesen Vorfall, und ich erinnere mich, dass ich, als ich die Herberge verließ, ein neues gestreiftes Hemd trug und vor meiner Abreise eine Tasse Kakao trank, die ich über mein gestreiftes Hemd spuckte. Das sind die beiden Erinnerungen, die ich an diese Herberge habe. Man sagte mir, dass ich nicht mehr sprach, als ich in der Herberge war. Aber daran erinnere ich mich nicht.

Danach war die Familie wieder beisammen, meine ältere Schwester, mein Vater und meine Mutter und ich. Wir lebten in einer Wohnung in London, unter dem Dach des Gebäudes, es war eine kleine Wohnung. Während der Luftangriffe in der Zeit der Luftschlacht um England gingen wir mit den anderen Bewohnern in die U-Bahn, wo man vor den Luftangriffen sicher war, und die Menschen verbachten die ganze Nacht in der U-Bahn. Irgendwann weigerte sich meine Mutter, weiterhin in den Untergrund zu gehen. Sie hasste es. Wir gingen in den Keller des Gebäudes, in dem wir wohnten. Englische Keller sind sehr gut gebaut und es war eine Reihe anderer Leute im Keller, und unser Haus wurde von einer Bombe getroffen. Sie zerstörte das Gebäude weitgehend, aber niemand im Keller wurde verletzt. Im Keller ging es allen gut. Doch danach hatten wir keinen Platz mehr zum Leben und die Menschen wurden aus London evakuiert. Die Art und Weise, wie man evakuiert wurde, war so: Man ging zu einem der Bahnhöfe in London und stieg in einen Zug, und an jeder Haltestelle des Zuges kam jemand an Bord und sagte, „wir können so viele Menschen mitnehmen“. An der Stelle stiegen Sie aus und wir taten dies in einer Stadt namens Kettering, die etwa siebzig Meilen von London entfernt liegt. Kettering ist eine Stadt, in der Stiefel und Schuhe hergestellt werden. Eine angenehme Stadt mit etwa 30.000 oder 35.000 Einwohnern, sie hat einen berühmten Park namens Wicksteed Park. Anfangs waren die Menschen, die in Kettering aus dem Zug stiegen, in einer Schule untergebracht. Meine ältere Schwester spielte auf dem Schulhof mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft. Das Mädchen fragte anscheinend ihre Eltern, ob sie meine Schwester bei sich aufnehmen könnten. Die Familie sagte ja. Es war keine wohlhabende Familie, der Vater war Fahrradmechaniker. Das Mädchen sagte meiner Schwester, sie könne zu ihnen kommen und bei ihnen wohnen, und meine Schwester sagte, sie müssten auch meine Mutter und meinen Bruder aufnehmen. Mein Vater war in London geblieben, weil sie zu diesem Zeitpunkt allein die Frauen und Kinder evakuierten. Die Familie war einverstanden, also zogen wir drei, meine ältere Schwester, meine Mutter und ich in das Haus des Fahrradmechanikers. Etwas später konnte mein Vater zu uns kommen, und auch er zog in das Haus ein.

In einem typisch englischen Haus gibt es ein Vorderzimmer und das wird die meiste Zeit nicht benutzt. Es ist der Ort, an dem irgendein formeller Anlass stattfindet, irgendein ausgefallenes Ereignis, aber der Hauptraum des Hauses ist normalerweise das Esszimmer. Weil dieses vordere Zimmer leer war, wurden wir dort untergebracht. Wir wohnten dort für eine kurze Zeit, ein Stadtrat in Kettering hatte beschlossen, unser Beschützer zu werden. Sein Name war Mr. Good oder Goode, wie man ihn dort aussprechen würde. Er kümmerte sich um uns, und er wollte meinem Vater eine Arbeit besorgen. Und er fand eine Arbeit in einer Milchabfüllfabrik. Aber die Milchabfüllfabrik war weit weg, und mein Vater fuhr nicht Fahrrad, und so fand Mr. Goode ein anderes Haus, in das wir einziehen konnten, es war ein besser geeignetes Zuhause. Es war das Haus eines Versicherungsagenten. Wir zogen in das Vorderzimmer des Versicherungsagenten ein und dann fand Mr. Goode eine eigene Wohnung für uns in Kettering und half meinem Vater, Arbeit zu finden und Sprachen zu unterrichten. Wir haben den Krieg in Kettering überlebt und zogen später in eine nahe gelegene Stadt, weil mein Vater dort in der Schule arbeitete. Eine Stadt namens Northampton, die Kreisstadt der Region, in der Kettering liegt. Wir lebten zweieinhalb Jahre lang in Northampton. Meine ältere Schwester, die noch recht jung war, heiratete einen amerikanischen Soldaten, der in England stationiert war. Sie kam als Kriegsbraut in die Vereinigten Staaten. Meine Eltern wollten den Kontakt zu ihrer einzigen Tochter nicht verlieren, und so beantragten sie, in die Vereinigten Staaten zu kommen. So kamen wir in die USA.

IW: Wann war das?

AN: Wir kamen im Juni des Jahres 1947 an.

IW: Ich habe noch eine Frage zu Ihrer Familie. War das eine religiöse Familie oder nicht?

Mir wurde ein hebräischer Name gegeben, Aryeh, was Löwe bedeutet

AN: Es war keine religiöse Familie, aber es war eine Familie, die sich sehr stark als jüdisch identifizierte. Meine Eltern gingen sehr oft in eine Synagoge. Sie feierten alle jüdischen Feiertage und führten keinen ganz koscheren Haushalt, aber sie aßen weder Schweinefleisch noch Schalentiere. Aber Fleisch und Milch zu mischen, das war ganz in Ordnung. Es war eine sehr bewusst jüdische Familie, aber nicht wirklich orthodox oder nicht wirklich religiös. Aber jüdisch zu sein, war für sie sehr wichtig. Es war die Art, wie sie sich selbst definierten. Und mir wurde ein hebräischer Name gegeben, Aryeh, was Löwe bedeutet.

IW: Haben sie später über ihre Erfahrungen in Deutschland vor dem Krieg gesprochen?

AN: Nicht besonders viel. Mein Vater war aus seiner Lehrerstelle entlassen worden, weil er jüdischer Herkunft war, und dann bei der jüdischen Gemeinde in Berlin angestellt, wo er wieder als Lehrer unter deren Leitung tätig war. Sie sprachen über Deutschland. Sie waren nicht in Deutschland geboren. Sie wurden im heutigen Polen geboren. Sie lebten an einem Ort, den sie meist als Dreikaisereck bezeichneten, wo die drei Reiche, das preußische, das österreichische und das russische Reich, zusammentrafen, und wo mein Vater als Kind etwas Geld verdiente, indem er Zigaretten über die Grenzen schmuggelte. Mein Vater wurde 1899 geboren und nach dem Krieg, nach dem Ersten Weltkrieg, wollte er weggehen, um eine Ausbildung zu machen, er ging nach Berlin. Nachdem er gegangen war, kam meine Mutter einige Zeit später zu ihm nach Berlin. Sie heirateten in Berlin und lebten dann in Berlin, bis sie nach England gingen.

IW: Und Ihre Familie, hatten Sie Familie in Berlin oder in Polen?

AN: Nein, ursprünglich hatte die Familie meiner Mutter elf Kinder. Acht haben bis ins Erwachsenenalter überlebt, und von den acht sind fünf während des Krieges in verschiedenen Konzentrationslagern gestorben. Ein Bruder überlebte, er hatte eine Zeitlang in Berlin gelebt, aber er war vor dem Krieg in das heutige Israel ausgewandert.  Und eine Schwester überlebte in Polen, sie überlebte, weil ihr Mann in der Lage war, in den Wäldern zu überleben. Er hatte die Fähigkeiten und die Kraft, auf diese Weise zu überleben. Obwohl er am Ende des Krieges starb, hat er seine Frau während des Krieges am Leben erhalten. Sie überlebte den Krieg in Polen. Einige Jahre nach dem Krieg konnten sie von Polen nach Israel auswandern. Die einzige Familie war dann die Familie des Bruders meiner Mutter, der nach Israel ausgewandert war. Wir hatten entfernte Verwandte in westlichen Ländern. Mein Vater war ein Einzelkind, er hatte weder Brüder noch Schwestern. Wir erfuhren, was mit der Familie meiner Mutter geschah, weil sie einen Cousin hatte, der nach Kanada gegangen war und der für eine Organisation namens Joint Distribution Committee arbeitete. Und er hatte sich in die Geschehnisse in der Familie vertieft, und eines Tages, völlig unerwartet, wir hatten keinen Kontakt mit ihm, tauchte er in unserem Haus in Northampton, England, auf und erzählte uns, was mit verschiedenen Mitgliedern der Familie geschehen war. Bis zu diesem Zeitpunkt wussten wir nichts darüber, was den verschiedenen Familienmitgliedern passiert war.

IW: Er fand Sie in Northampton?

AN: In Northampton, England. Durch seine Arbeit im Joint Distribution Committee war er in der Lage, verschiedene Personen ausfindig zu machen.

JGI: Wie kam es zu Ihrem Bewusstsein für die Idee von Gerechtigkeit und Solidarität, denn Sie erwähnten, dass Sie mit sechzehn Jahren sehr aktiv sein mussten, um jemanden wie Lemkin (Raphael Lemkin) einzuladen. Mir geht es darum, wie Sie vermutlich im Laufe der Zeit erkannt haben, was für Sie der Auslöser dafür war, in der Welt des Rechts tätig zu sein; wie verlief dieser Prozess Ihres Engagements für die Sache der Gerechtigkeit und der Menschenrechte?

Als Präsident des Geschichtsclubs lud ich Raphael Lemkin ein

AN: Ich kam in die Vereinigten Staaten und besuchte das Gymnasium namens Stuyvesant High School. Ich besuchte die Schule von 1950 bis 1954. Das war genau die Zeit, in der Senator Joseph McCarthy eine bedeutende Persönlichkeit in den USA war. Er hielt seine berühmte Rede, in der er 1950 die Kommunisten im Außenministerium anprangerte, und sein Niedergang kam 1954 in den so genannten Armee-McCarthy-Anhörungen. Zu dieser Zeit war jeder in den Vereinigten Staaten in eine Diskussion über den McCarthyismus verwickelt. An meiner Schule gab es ein paar Lehrer, die vor die Anhörungen des Kongresses gerufen wurden. Wir waren uns des McCarthyismus in dieser Zeit sehr bewusst. Die Schule war überfüllt, und so wurde sie in zwei Einheiten aufgeteilt. In den ersten beiden Jahren besuchte man den Unterricht von ein Uhr nachmittags bis 17.30 Uhr. Und in den letzten beiden Jahren besuchte man den Unterricht von acht Uhr morgens bis 12.30 Uhr mittags. In meinen letzten beiden Schuljahren hatte ich deshalb den ganzen Nachmittag frei. In der Schule gab es den so genannten Geschichtsclub. Wir wurden Geschichtsclub genannt, weil der Lehrer, der der Berater war, Geschichtslehrer war und dies der Rahmen für Diskussionen über politische Entwicklungen war, und ich wurde Präsident des Geschichtsclubs. In dieser meiner Rolle als Präsident des Geschichtsclubs arrangierte ich Aktivitäten, und da wir den Nachmittag frei hatten, konnten wir Redner zu Veranstaltungen einladen, die am Nachmittag stattfanden. Die Schülerinnen und Schüler, die von acht bis 12.30 Uhr anwesend waren, aßen zu Mittag und danach gab es eine Veranstaltung des Geschichtsclubs. Ich lud das örtliche Kongressmitglied ein, ich lud verschiedene andere Personen ein, die von Interesse sein könnten. Da die Schule besonders bekannt war und sich hier in Manhattan befand, günstig gelegen für verschiedene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, war es recht einfach, die Referenten zu bekommen, die ich in die Schule bringen wollte. Und eines der Themen, die zu diesem Zeitpunkt Anlass zur Beunruhigung gaben, war die Ratifizierung der Völkermordkonvention. Also schrieb ich einen Brief an Lemkin an die Adresse der UNO, der ihn erreichte, und dann lud er mich ein, ihn in der Delegiertenlounge zu besuchen. Ich sagte ihm, was ich wollte, und er willigte ein, in die Schule zu kommen, um über die amerikanische Ratifizierung der Völkermordkonvention zu sprechen.

JGI: Sie würden zu diesem Zeitpunkt niemand aus dem Kreis McCarthy einladen, sondern Sie haben andere Persönlichkeiten eingeladen?

AN: Ja, und viele der Redner waren Leute, die kritisch gegenüber den Geschehnissen während der McCarthy-Zeit in den USA waren. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemanden eingeladen haben, der für McCarthy war.

JGI: Und als Sie zur Schule gingen, zur Universität, was dachten Sie damals, dass Sie die Idee der Gerechtigkeit bewahren wollten oder…?

AN: Wir hatten kein Geld, und so war die Frage des Studiums ein ziemliches Thema. Wir waren mit nichts von Deutschland nach England, und mit fast nichts von England in die USA gekommen. In der Familie gab es kein Geld. Ich fand einen Weg, ohne nennenswerte Kosten zur Universität zu gehen. Eine der Universitäten in den USA, eine der bekannten Universitäten ist die Cornell University. Die Cornell University ist in erster Linie eine Privatuniversität, aber es gibt auch eine Reihe von Fachbereichen, die vom Staat New York öffentlich unterstützt werden oder wurden und immer noch werden. Und eine der Abteilungen, die vom Staat New York unterstützt wurde, ist die School of Industrial and Labor Relations. Der Unterricht an der School of Industrial and Labor Relations war kostenlos. Sobald man in die Schule eintrat, war die Kursarbeit weitgehend unentgeltlich. Man konnte einen Studiengang der Freie Künste belegen und hatte keine Kosten für den Unterricht. Darüber hinaus gab es im Staat New York Stipendien für Studierende, die Universitäten im Staat New York besuchten, und diese Stipendien wurden auf Wettbewerbsbasis vergeben. Man machte einen Test, und je nachdem, wie man ihn absolvierte, bekam man ein Stipendium, so dass ich auch eines der staatlichen Stipendien erhielt. Und dann habe ich, während ich an der Cornell University war, auch gearbeitet. Während meiner Studienzeit arbeitete ich in Jobs auf dem College-Campus. Und die School of Industrial and Labor Relations hat mir Jobs für die Sommerferien vermittelt. Zwischen dem kostenlosen Schulgeld, einem staatlichen Stipendium und dem, was ich verdiente, kostete der College-Besuch meine Eltern also nichts. Ich konnte die Kosten selbst tragen. Dort ging ich also zur Schule. Und während ich an der Cornell war, wurde ich auch in politischen Angelegenheiten und in Fragen der Rechte aktiv.

IW: Und wie erklären Sie sich das? Haben Sie sich aufgrund Ihrer Erfahrungen im „Dritten Reich“ mit den Menschenrechten oder dem Recht befasst oder woher kommt dies Engagement?

Mir war die Anzahl der Menschen in meiner Familie bewusst, die ermordet worden waren

AN: Ich würde sagen, dass ich selbst keine Erinnerungen an das „Dritte Reich“ hatte. Aber ich war mir der Situation meiner Familie bewusst. Ich war mir der Anzahl der Menschen in meiner Familie bewusst, die ermordet worden waren, und das hatte eine große Wirkung auf mich. Das verband sich gewissermaßen mit dem Eindruck, dass ich in der McCarthy-Zeit auf die High School ging, auf eine weiterführende Schule. Diese beiden Dinge kamen zusammen und machten mich zu jemand, der sich für die Rechte interessierte. Die zwei größten Rechtefragen, mit denen ich mich in Cornell beschäftigte, waren, dass im Januar 1955 – ich begann in Cornell im September 1954 – der Busboykott von Montgomery stattfand. Es handelte sich um die Weigerung der Schwarzen in Montgomery (Alabama), mit den Bussen zu fahren, weil die Busse getrennt waren. Der erste Artikel, den ich für die Cornell-Zeitung schrieb, handelte vom Boykott der Montgomery-Busse. Und das andere Thema, das mir am meisten auffiel, war, dass es 1956 die Ungarische Revolution gegen die Sowjetunion gab. Es gab einen Redner auf dem Cornell-Campus, einen Mann namens Norman Thomas.

Norman Thomas war sechsmal der sozialistische Präsidentschaftskandidat gewesen. Ich glaube, das letzte Mal war…, ich weiß nicht mehr genau, ob es 1956 oder 1960 war (es war 1948, Anm. der Red.). Aber er war ein sozialistischer Präsidentschaftskandidat. Er war einer der Gründer der American Civil Liberties Union(ACLU), und er war ein Sozialist, sehr antikommunistisch.

Er sprach, und er war ein großer öffentlicher Redner, wahrscheinlich der beste öffentliche Redner, den ich je in meinem Leben gehört habe. Er sprach auf dem Cornell-Campus, es müssen dreitausend Studierende in der Halle gewesen sein, um ihn zu hören. Nach seiner Rede ging er in eines der Häuser auf dem Campus. Eine gewisse Anzahl von Leuten, die weiterdiskutieren wollten, ging dorthin und ich war einer davon. Er sagte, er habe gerade Besuch von einer Frau namens Anna Kethly gehabt. Anna Kethly war die von der ungarischen Regierung während der Zeit des Volksaufstands gegen die die Sowjetunion ernannte Außenministerin (Vize-Ministerpräsidentin, Anm. der Red.). Sie wurde von Imre Nagy, dem ungarischen Ministerpräsidenten, ernannt. Anna Kethly war eine sozialistische Antikommunistin wie Norman Thomas. Als sie in New York auf dem Flughafen Idlewild ankam, der damals noch Idlewild Airport hieß, bevor er Kennedy Airport hieß, ging sie vom Flughafen direkt in Norman Thomas’ Büro. Sie sprach mit ihm über die Ungarische Revolution. Am nächsten Abend sollte er in Cornell sprechen, und als wir uns im Haus versammelten und ihm zuhörten, sprach er über die Ungarische Revolution. Das war für mich auch ein wichtiges Ereignis. Nachdem ich Norman Thomas gehört hatte, ging ich zu einigen mir bekannten Fakultätsmitgliedern an der Cornell und fragte sie, ob sie Berater werden würden, wenn ich auf dem Cornell-Campus eine Organisation gründen würde, um verschiedene Redner auf den Cornell-Campus zu bringen. Wir nannten das das Cornell-Forum. Ich war der Präsident des Cornell-Forums. Norman Thomas war dies, bevor er Präsidentschaftskandidat wurde, er hatte eine Organisation namens League for Industrial Democracy geleitet, die 1905 gegründet wurde. Eine sozialistische antikommunistische Organisation, sie hatte eine Studierendenorganisation, die Sektionen an ein paar anderen Universitäten in Yale, in Harvard und an einigen anderen Einrichtungen hatte. Sie haben Veranstaltungen organisiert, die sich mit der Ungarischen Revolution befassten. Ich habe sie mit der Student League for Industrial Democracy verbunden. Dann wurde ich Teil dieser Gruppe, und ein Jahr später wurde ich Präsident der nationalen Organisation. Mein Vorgänger starb vor einigen Jahren, er war ein amerikanischer Verleger namens André Schiffrin, ein bekannter amerikanischer Verleger. Er war Student in Yale und leitete die Gruppe von dort aus, dann trat ich seine Nachfolge an und wurde Präsident der Student League for Industrial Democracy. Ich war an diesen Aktivitäten sowohl in der Sekundarschule als auch in der High School und im College beteiligt.

JGI: Das ist wunderbar. Ich möchte, dass Sie uns erzählen – dies ist keine Psychoanalyse, aber ich möchte, dass Sie uns erzählen – welche Menschen es zusammen mit Norman Thomas, ich sehe da Hannah Arendt (JGI zeigt auf die Wand, an der ein Portrait von Hannah Arendt hängt), sind – ich mag und identifiziere mich damit, dass George Orwell ein Sozialist, aber Antikommunist ist – oder wie schwierig war es damals, diese Einstellung zu vertreten?

AN: Ich habe ein Exemplar von Animal Farm zu Hause, ich hatte nicht viel Geld, aber ich habe das Buch gekauft, als es erstmals veröffentlicht wurde, und wenn ich es mir anschaue, war es die erste Ausgabe, die, glaube ich, 1953 (1946, Anm. d. Red.)  in den Vereinigten Staaten gedruckt wurde. Also, vielleicht früher…

JGI: Er starb 1950.

AN: Es ist die erste Ausgabe des Buches, ich habe es gekauft, als es veröffentlicht wurde, und später 1984, sie machten einen enormen Eindruck auf mich während dieser Zeit. Ein Großteil der Literatur, die ich damals las, hatte ein gewichtiges politisches Moment. Da waren die Bücher von André Malraux, von Albert Camus und von George Bernanos. Es gab diese ganze Engagement-Literatur aus Frankreich, die ich in dieser Zeit gelesen habe, ich mochte die Bücher sehr und habe viel daraus gelernt. Malraux schrieb ein Buch mit dem Titel Man’s Fate (dt.: So lebt der Mensch, 1933), das mich sehr beeindruckt hat.

JGI: Abgesehen von den Schriftsteller_innen, welche anderen Menschen beeinflussten Sie? Sie kennen dieses Zitat von Newton, als er gefragt wurde, wie er seine Theorie über die Physik erschaffen konnte, und er antwortete, weil ich eine Vision hatte, die auf den Schultern all der Giganten steht, die mich diese Sichtweise begreifen ließen. Welche anderen Menschen haben Sie beeinflusst, weil Sie ihnen nahestanden, weil Sie von ihnen inspiriert wurden? Ich meine, wir hatten Norman Thomas, er hat Ihnen offensichtlich viel Freude bereitet und Sie haben ihn studiert und bewundert, aber welche anderen Menschen waren in all den Jahren an diesem Prozess beteiligt?

AN: Nun, in meiner High School hatte die Lehrerin, die die Beraterin dieses Geschichtsklubs war, Frau Brody, sicherlich einen bedeutenden Einfluss auf mich. Als ich aufs College ging, gab es ein paar Mitglieder der Cornell-Fakultät, die Einfluss auf mich hatten. Es gab zwei oder drei Fakultätsmitglieder in der so genannten Leitungsabteilung. Einer davon war ein Mann namens Clinton Rossiter, der in den Vereinigten Staaten zu einer bekannten Persönlichkeit wurde, und dann gab es unter anderem zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Buchreihe, die vom „Fonds für die Republik“ gefördert wurde, „Kommunismus im amerikanischen Leben“, in denen der Kommunismus in den Gewerkschaften und in verschiedenen anderen Bereichen diskutiert wurde. Er war der Herausgeber dieser Buchreihe. Ein weiterer Leitungsprofessor an der Cornell University war ein Mann namens Mario Einaudi. Sein Vater, Luigi Einaudi, war Präsident in Italien. Aber Mario Einaudi hatte einen großen Einfluss auf mich. Und dann gab es ein jüngeres Fakultätsmitglied in der Leitung namens Andrew Hacker, der noch lebt. Er ist ein paar Jahre älter als ich, und bis vor zwei oder drei Jahren fand man seine Artikel immer in der New York Review of Books. Andrew Hacker hatte Einfluss auf mich. In der Labor Relation’s School gab es zwei Frauen, die einen großen Einfluss auf mich hatten. Die eine war eine Frau namens Alice Cook, sie war Gewerkschaftshistorikerin, und eine Zeit lang unterrichtete sie mit einer Frau, die eine wichtige Rolle in der amerikanischen Geschichte spielte. Die Frau hieß Frances Perkins. Sie war die erste Frau, die jemals im Kabinett der Vereinigten Staaten gedient hatte. Sie stand Franklin Roosevelt sehr nahe, war Arbeitsministerin unter Franklin Roosevelt und galt allgemein als die Person, die die verschiedenen Gesetze vorantrieb, die zum New Deal führten. Franklin Roosevelt wurde sehr stark von Frances Perkins beeinflusst. Aber nachdem sie in den Ruhestand ging, kam sie nach Cornell und wurde eine Freundin dieser Professorin für Gewerkschaftsgeschichte Alice Cook und schloss sich ihr in der Lehre an der Cornell an. Und dann gab es noch eine andere Frau namens Jean McKelvey, die ebenfalls eine Persönlichkeit war, denke ich, und an der Labor Relations School war ein Mann namens Milton Konvitz. Er lehrte die Studierenden an der Cornell Universität amerikanisches Verfassungsrecht, und ich habe seine Kurse sehr genossen. Ich habe mich mit all diesen Fakultätsmitgliedern persönlich angefreundet.

An großen Universitäten haben die Studierenden nur begrenzte Möglichkeiten, sich mit Fakultätsmitgliedern anzufreunden, aber ich habe mich mit allen angefreundet. Sie alle hatten bedeutenden Einfluss auf mich. Neben Norman Thomas gab es einen weiteren Redner, den ich an der Cornell gehört hatte, ein Mann namens Arthur Garfield Hays. Er war ein mit der American Civil Liberties Union verbundener Anwalt, General Counselfor the American Civil Liberties Union. Ich begann, mich sehr für die American Civil Liberties Union zu interessieren, zum Teil weil ich Arthur Garfield Hays hörte.

IW: Können Sie etwas näher erklären, was die Idee der American Civil Liberties Union war?

Die wichtigste Organisation in den Vereinigten Staaten zum Schutz der Rechte von Einzelnen

AN: Die American Civil Liberties Union steht kurz davor, ihr 100-jähriges Bestehen zu feiern. Sie wurde im Januar 1920 gegründet. Tatsächlich gab es während des Ersten Weltkriegs eine Vorgängerorganisation, das Civil Liberties Bureau. Diese Organisation war gegründet worden, um Menschen zu verteidigen, die sich gegen den Eintritt Amerikas in den Ersten Weltkrieg oder gegen die Wehrpflicht aussprachen. Viele dieser Menschen wurden zu langen Haftstrafen verurteilt, fünf Jahre, zehn Jahre oder sogar zwanzig Jahre Gefängnis. Der Erste Weltkrieg war wahrscheinlich die repressivste Periode in der amerikanischen Geschichte, oder die Periode 1917-1918, als die Vereinigten Staaten am Ersten Weltkrieg beteiligt waren. Während eines Großteils dieser Zeit lief die Präsidentschaft von Woodrow Wilson nicht besonders gut. Sein Generalstaatsanwalt war ein Mann namens A. Mitchell Palmer, der eine repressive Figur war.

Während des Ersten Weltkriegs gab es auch Gewalttätigkeiten von Anarchisten. 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, sprengten Anarchisten das Haus von A. Mitchell Palmer in die Luft. Die einzige Person, die verletzt wurde, war die Person, die die Bombe trug und getötet wurde. Niemand sonst wurde verletzt, aber das war eine gewalttätige Zeit. Und nach dem Krieg gab es Briefbombenanschläge. Bei einem Briefbombenangriff verlor die Sekretärin eines Senators ihre Hand, als sie ein Paket öffnete. In dieser Zeit gab es anarchistische Gewalt, aber es gab auch Menschen, die friedliche Gegner des Kriegseintritts und friedliche Gegner des Wehrdienstes in dieser Zeit waren, die sehr hart behandelt wurden. Ursprünglich wurde die Organisation während des Krieges als eine vorübergehende Organisation angesehen, aber da die Angriffe auf die bürgerlichen Freiheiten auch nach Kriegsende weitergingen, wurde eine ständige Organisation, die American Civil Liberties Union, gegründet. In den hundert Jahren seit der Gründung der American Civil Liberties Union war sie die wichtigste Organisation in den Vereinigten Staaten zum Schutz der Rechte von Einzelnen. Heute ist sie eine sehr, sehr große Organisation. Sie hat etwa anderthalb Millionen Mitglieder und ein Budget von Hunderten von Millionen Dollar pro Jahr. Sie hat Büros mit Anwält_innen an jedem Ort in den Vereinigten Staaten, in allen fünfzig Bundesstaaten und in zahlreichen Staaten viele Büros, und sie bearbeitet jedes Jahr Tausende von Gerichtsfällen. Sie betreibt auch aktive Lobbyarbeit im Kongress und auf vielfältige andere Weise zum Schutz der bürgerlichen Freiheiten. Als ich mich zum ersten Mal engagierte, war sie viel kleiner. Als ich mich engagierte, hatte sie sechzigtausend Mitglieder. Sie hatte in etwa der Hälfte der Bundesstaaten Mitgliedsorganisationen und unterhielt Büros in etwa fünfzehn Städten in den Vereinigten Staaten. Ich begann 1963 für die Organisation zu arbeiten, da war ich 26 Jahre alt. Ich begann als Außendienstleiter und anderthalb Jahre später wurde ich Leiter der New York Civil Liberties Union, die sich um den Bundesstaat New York kümmerte, und dann fünf Jahre später, 1970, wurde ich auf nationaler Ebene Executive Director der American Civil Liberties Union, was ich bis 1978 blieb. Insgesamt arbeitete ich von 1963 bis 1978 für die Organisation, fünfzehn Jahre lang, und die letzten acht Jahre als nationaler Exekutivdirektor. Damals war ich als Person viel bekannter als je wieder.

JGI: Woher kam die Idee, Human Rights Watch zu gründen? War das ein anderes Konzept?

IW: Bitte, Joaquín, lass mich noch eine Frage stellen, bevor wir zu Human Rights Watch kommen, zu den Ereignissen, die in Chicago stattfanden, dem Skokie-Fall. Könnten Sie das ein wenig erklären und darüber sprechen, denn es ist uns wichtig für unsere Übersetzung Ihres Buches Defending My Enemy.

Den Feind verteidigen – Als die Nazis beschlossen, im Chicago-Stadtteil Skokie zu demonstrieren

JGI: Ich habe es zweimal gelesen und mir überlegt, ob es eine Tugend ist und was Sie dazu bewogen hat, Ihre Vorgehensweise nicht zu ändern, denn was Sie in dem Buch erzählen, Ihre Positionierung, wurde selbst innerhalb der jüdischen Organisationen so kritisch gesehen. War Ihnen damals wirklich klar, dass Sie sich auf die Verteidigung der Meinungsfreiheit konzentrierten? Nun, nachdem Jahre vergangen sind, war es wirklich notwendig, diese Kraft aufzubringen und Ihrem persönlichen Kompass zu folgen?

AN: Die American Civil Liberties Union hat immer schon die Meinungsfreiheit für alle verteidigt. Sogar in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, als es Nazis oder Anhänger des Faschismus oder Kommunismus in den USA gab. Sie hat die Redefreiheit für alle verteidigt und in den 1930er Jahren Veröffentlichungen darüber herausgegeben, warum wir die Redefreiheit für alle verteidigen. Dies war der fest etablierte Standpunkt der Organisation. In der Zeit, bevor ich in den Stab der American Civil Liberties Union eintrat, gab es hier in New York City einen sehr gut publizierten Fall von Redefreiheit für Nazis. Der bekannteste amerikanische Nazi war ein Mann namens George Lincoln Rockwell gewesen. Rockwell beantragte irgendwann eine Genehmigung für eine Demonstration im Union Square Park in New York City. Die Stadt lehnte dies ab, und die American Civil Liberties Union hat ihn vertreten und ihm das Recht auf eine Demonstration und das Recht, im Union Square Park zu sprechen, verschafft. Dieser Fall ereignete sich 1960, und ich trat 1963 in den Stab der ACLU ein. Ich war sehr vertraut mit der Tatsache, dass die ACLU die Redefreiheit für alle verteidigte. Und während der Zeit, in der ich Direktor der New Yorker Bürgerrechtsunion war, waren wir in eine Reihe von Fällen verwickelt, in denen es um Rockwell und ähnlich verschiedene Personen ging. Der Skokie-Fall ereignete sich etwas später, als ich der nationale Exekutivdirektor der ACLU war. Er begann 1977. Der Fall betraf eine Gruppe, die sich selbst American Nazis nannte, und sie hatten ursprünglich in der Stadt Chicago demonstriert und sich auf ein Gebiet in Chicago konzentriert, das Marquette Park heißt. Der Marquette Park ist ein kleiner Park in Chicago. Eine Seite des Parks hat eine Bevölkerung oder hatte damals eine Bevölkerung, die überwiegend aus African Americans bestand. Die andere Seite des Parks hatte eine Bevölkerung, die überwiegend aus osteuropäischen Einwanderern, Litauern, Polen usw. bestand. Zwischen diesen beiden Gruppen gab es Rassenspannungen. Die Nazis hielten ihre Demonstrationen ursprünglich im Marquette Park ab, um zu versuchen, diese Spannungen auszunutzen. Durch einen Gerichtsbeschluss war ihnen die Durchführung der Demonstration im Marquette Park verboten worden. Die Nazis kamen zum Chicagoer Büro der ACLU und baten um Vertretung, das Chicagoer Büro stimmte zu, und das Ganze wurde als Routineangelegenheit betrachtet. Während der Zeit, in der die Nazis nicht im Marquette Park demonstrieren konnten, schrieben sie Briefe an verschiedene Vororte Chicagos und sagten, wir wollen in ihrer Gemeinde demonstrieren. Alle bis auf einer der Vororte ignorierten die Briefe. Skokie hat die Briefe nicht ignoriert. Darin stand, wagt es nicht, hierher zu kommen. Der Stadtrat von Skokie verabschiedete schnell eine Reihe von Gesetzen, Verordnungen, die es den Nazis unmöglich machen sollten, zu demonstrieren. Sie mussten eine Kaution von 350.000 Dollar hinterlegen, um eventuelle Schäden zu decken, niemandem durfte es erlaubt werden, in Uniform zu demonstrieren. Es gab noch eine weitere Verordnung dieser Art, die sie verabschiedeten.

IW: Und wie viele waren sie, die Nazis?

AN: Ungefähr fünfzehn oder zwanzig. Die Nazis beschlossen dann, dass sie in Skokie demonstrieren würden, aber als diese Verordnungen verabschiedet wurden, kamen sie zurück zur ACLU, und die ACLU von Chicago erklärte sich bereit, sie zu vertreten. Es wurde als so routinemäßig angesehen, dass sich die ACLU Chicago nicht mal die Mühe machte, uns im nationalen Büro davon in Kenntnis zu setzen. Es handelte sich lediglich um eine Standardangelegenheit. Und dann entdeckte die Presse plötzlich diesen Vorfall und das Thema, das zu einer Story wurde: Skokie war eine Stadt mit etwa 40.000 Einwohner_innen und etwa 7.000 Menschen in Skokie konnte man mehr oder weniger als Holocaust-Überlebende bezeichnen. Eine ungewöhnlich große Zahl war an diesen einen Ort gekommen, und das wurde zum Pressethema.

Ich wusste nichts von dem Fall, bis daraus eine Pressestory wurde. Ich fuhr nach Chicago, um mit unseren Leuten zu sprechen, und ich stimmte zu, dass wir sie dabei unterstützen würden, es wurde eine immer größere Geschichte. Daraus ging eine Reihe von Gerichtsverfahren hervor, es gab eine Zeitungsgeschichte über diesen Skokie-Fall, jeden Tag eine neue Seite. Ich bekam an sehr vielen Orten Einladungen, über Skokie zu sprechen, und nahm insbesondere die zu Vorträgen in verschiedenen Synagogen an. Ich sprach in sehr vielen Synagogen und auch in der in Skokie. Die Diskussion über den Fall war sehr interessant. Anfangs waren die meisten Leute gegen die Position der American Civil Liberties Union. Mit der Zeit änderte sich das. Im Laufe der Zeit, als die Menschen immer mehr über die Angelegenheit diskutierten, wurde die Redefreiheit immer stärker und immer mehr Menschen waren davon überzeugt. Rückblickend würde ich sagen, dass die meisten Amerikaner_innen heute wahrscheinlich zustimmen würden, dass die ACLU das Richtige getan hat. Ich bin mir nicht sicher, wie das Ergebnis aussehen würde. Aber es wären wohl sogar die meisten Amerikaner_innen, oder es wäre knapp, wenn heute eine Umfrage zu diesem Thema durchgeführt würde. Als die Menschen das Thema diskutierten, wurde die Seite der Redefreiheit immer stärker. Ich habe, wenn ich gesprochen habe, die Leute unter anderem gefragt, wie viele von ihnen an den Tischdebatten über Skokie teilgenommen haben, und dann gingen fast alle Hände nach oben. Alle hatten darüber gestritten. Die Seite der Redefreiheit wurde in diesen Auseinandersetzungen, die beim Abendessen stattfanden, bestärkt. Am Ende war es so, dass wir alle Gerichtsverfahren gewonnen hatten und die Demonstration stattfinden konnte. Und dann, an dem Tag, an dem die Demonstration sein sollte, sind die Nazis nicht aufgetaucht. Nicht lange danach veranstalteten sie eine Demonstration im Marquette Park, wo sie ursprünglich demonstrieren wollten. Aber sie hatten nur eine Handvoll Leute, die dazu kamen, danach löste sich die Nazigruppe auf und niemand hat je wieder von ihnen gehört.

IW: Die Idee oder die Versuche, die Demonstration zu stoppen, verschaffte ihnen mehr Publizität als alles andere.

AN: Es gab ihnen mehr Publizität, aber als sie gewonnen hatten, war alles vorbei. Und es gab einige schlimme Dinge, die sich bis dahin ereignet haben. Es gab einen radikalen amerikanischen Rabbiner, der dann zu einem radikalen Rabbiner in Israel wurde, Meir Kahane. Kahane veranstaltete Demonstrationen, unter anderem einmal in den Büros der ACLU in New York. Er wollte, dass wir die Polizei rufen, um ihn rauszuwerfen, was für ihn eine gute Öffentlichkeit bedeutet hätte. Wir haben es geschafft, ihn so loszuwerden. Meine Telefonnummer zu Hause ist nicht öffentlich, die Leute hatten meine Adresse nicht, aber anscheinend folgte mir bei einer Gelegenheit eine Gruppe der Jüdischen Abwehrliga (Kahane war einer der Mitbegründer der Jewish Defense League, Anm. d. Red.) nach Hause. Sie fanden heraus, wo ich wohnte und veranstalteten Demonstrationen vor meinem Wohnhaus. Es gibt jedoch einen Eingang zu dem Gebäude, in dem ich wohnte, der sich in einem anderen Block befindet, und zwar einen Eingang zu einer Garage im Keller des Gebäudes. Eine Zeit lang benutzten meine Frau und ich den Garageneingang des Gebäudes, um den Demonstrant_innen, die vor dem Gebäude waren, auszuweichen. Irgendwann überreichte mir die Jüdische Abwehrliga (Jewish Defense League) ein Geschenk, eine Art Tafel mit einem Lampenschirm und etwas, das wie Blut darauf aussah, und ähnliche solche Dinge. Es gab solche Sachen, sie fanden statt.

JGI: Ich habe nur eine Frage. Ich denke über das europäische System und das amerikanische System nach. In den USA berechtigt die Redefreiheit auch zu Reden, die zu Verbrechen oder zum Hass auf andere Menschen aufstacheln? Gehört das hier zur Redefreiheit?

Cover von “Defending My Enemy”, Erstausgabe 1979, Neuausgabe 2012 mit einem Foto des Führers der amerikanischen Nazipartei, Frank Collins

AN: Die wichtigste Gerichtsentscheidung in den Vereinigten Staaten ist ein Fall aus dem Jahr 1969 mit dem Titel Brandenburg gegen Ohio. Brandenburg war an einer Kundgebung des Ku-Klux-Klan in Ohio beteiligt. In diesem Fall waren die Clanmitglieder aufgrund von Aufwiegelung verurteilt worden. In der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs hieß es, dass man jemanden wegen Aufwiegelung nur unter Umständen verurteilen kann, unter denen die Aufwiegelung wahrscheinlich zu dem eigentlichen Verbrechen führt. Ein Beispiel, das ich benutzte, ist ein Richter des Obersten Gerichtshofs, der bekanntlich sagte, dass die Redefreiheit nicht das Recht umfasst, in einem überfüllten Theater fälschlicherweise “Feuer” zu schreien. Ich sage den Leuten, dass das wichtigste Wort in diesem Satz das Wort “überfüllt” ist. Denn wenn Sie in ein leeres Theater gehen und fälschlicherweise “Feuer!” schreien, wird nichts passieren. Aber wenn Sie in ein überfülltes Theater gehen, dann ist es wahrscheinlich, dass eine Panik ausbricht und Menschen verletzt werden. Man muss sich also um den Kontext kümmern und nicht nur um den Inhalt. Der Inhalt der Rede ist, was die Leute sagen, der Kontext ist, was sich mit den Umständen befasst, unter denen die Rede stattfindet. Wenn die Umstände so beschaffen sind, dass Gewalt wahrscheinlich ist, wenn man zum Beispiel einen Lynchmob nimmt und es eine Atmosphäre gibt, in der jemand gelyncht werden soll und jemand, ein Redner, ruft: „Holt ihn euch, hängt ihn auf!“, unter diesen Umständen hat der Redner selbst keine Gewalt ausgeübt, aber er hat unter Umständen Menschen aufgehetzt, unter denen die Gewalt wahrscheinlich stattfinden wird, daher kann der Redner aufgrund dieser Situation bestraft werden. Aber wenn es auf einer New Yorker Straße ist und jemand auf der Straße steht und ruft: „Holt ihn euch, lyncht ihn!“, werden alle irgendwie davonkommen. Es wird keine Gewalt stattfinden. Man muss sowohl auf den Kontext, als auch auf den Inhalt der Rede achten. Ich denke, das ist wahrscheinlich der Hauptunterschied zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Rederecht. Der Kontext ist kein entscheidender Faktor im europäischen Recht.

IW: Ja, das ist richtig.

JGI: Es gab eine berühmte Situation während der Obama-Regierung, die uns aus europäischer Sicht wirklich überrascht hat. Es war in Gainesville, Florida, als der Pastor Terry Jones seinen Plan verkündete, Korane zu verbrennen. Am Ende tat er es nicht, aber wenn er es getan hätte, hätte das für Einzelpersonen und die amerikanischen Interessen in Übersee ernsthafte Schäden verursacht, und ich erinnere mich, dass Präsident Obama, ich meine, er war sich der potenziellen Krise bewusst, aber er hat es nicht gewagt, in dieser Situation einzugreifen. Erinnern Sie sich an diesen Fall?

AN: Ja.

JGI: Alles stand hinter der Meinungsfreiheit, aber hätte er das Buch in das Feuer fallen lassen, dann hätte das eine Menge Gewalt im Ausland ausgelöst.

Wir haben in den USA ein sehr starkes Bekenntnis zur Meinungsfreiheit

AN: Ja, sehen Sie, das ist ein Bereich, der den Fragen der Meinungsfreiheit ähnlich ist, die sich im Zusammenhang mit dem Internet stellen, wenn man etwas über das Internet verbreitet und es in die ganze Welt hinaus geht, man aber nicht die Umstände in jedem Teil der Welt kennt. Das schafft eine Schwierigkeit, der ich nie begegnet bin, wenn ich mich mit dieser Art von Fragen beschäftigt habe.

JGI: Ich verstehe.

AN: Es ist ein sehr schwieriges Gebiet, und ich habe keine genau definierte Sicht auf die Fragen der Anstiftung im Internet.

JGI: Lassen Sie mich Ihnen, bevor wir auf die Menschenrechte zurückkommen, kurz einige reale Fälle in Spanien schildern, in denen Menschen strafrechtlich verfolgt wurden, weil sie in ihren künstlerischen Darbietungen die Krone absichtlich beleidigt haben, und von Menschen, die Opfer des Terrorismus wurden. Sie haben sich zum Beispiel in einem Liedtext lustig gemacht, wenn jemand durch einen Terroranschlag ein Körperteil verloren hat und sind strafrechtlich verfolgt worden. Das Dilemma in der spanischen Gesellschaft ist nicht, dass es natürlich ein offensichtlicher Mangel an Geschmack, ein Mangel an Respekt war. Aber sie wurden wegen schwerer Vergehen angeklagt, die eine Strafe von zwei Jahren Gefängnis, ja sogar fünf Jahren Gefängnis bedeuteten. Wenn es um künstlerische Darbietungen, Rap-Musik, Theater geht, wo ist Ihrer Meinung nach die Grenze? Denn in gewisser Weise glaube ich, dass wir als Gesellschaft und Bürger_innen eine Art Elastizität brauchen: die Elastizität, die Flexibilität eines wirklich demokratischen Umgangs mit der Redefreiheit. Ich meine, dass die Rechtsstaatlichkeit Menschenrechtsprinzipien und demokratische Werte verkörpert, aber sie erfordert auch Toleranz gegenüber gegensätzlichen Meinungen und das Vorhandensein gewisser Spannungen. Diese Art von künstlerischen Äußerungen löst einen Mechanismus aus, der zu der Frage führt, welche Grenzen zu beachten sind. In Spanien wird beispielsweise jedes Thema im Zusammenhang mit der Redefreiheit, das die katholische Kirche angeht, in der Öffentlichkeit mit besonderem Augenmerk betrachtet.

AN: Im amerikanischen Kontext wäre die Tatsache, dass es sich um Kunst handelt, kein bedeutender Faktor. Ein Faktor, der von Bedeutung wäre, ist die Frage, ob es eine unmittelbare Beziehung zwischen einer Rechtsverletzung, die der Staat zu verhindern berechtigt ist, und der Rede gibt. Wenn die Rede in direktem Zusammenhang mit Gewalt steht, dann wäre das keine geschützte Rede. Wenn die Rede, sagen wir, bei der Einstellung eines Mitarbeiters stattfindet und zu diesem Zeitpunkt zu einer Diskriminierung führt, das wäre nicht erlaubt. Aber wenn es keine direkte und unmittelbare Folge gibt, die eine Rechtsverletzung beinhaltet, dann wäre die Rede in den USA erlaubt. Und in den USA finden Reden aller Art zu jeder Zeit statt. Wir haben in den USA ein sehr starkes Bekenntnis zur Meinungsfreiheit.

JGI: Das führt mich zu den aktuellen Problemen mit Präsident Trump. Was halten Sie davon, dass das Staatsoberhaupt es auf Menschen abgesehen hat, die aktiv die Rechtsstaatlichkeit stärken, indem sie ihren Aufgaben als Journalisten nachgehen? Die Verweigerung des Zugangs zum Weißen Haus für einige Journalist_innen ist in diesem Sinn beispiellos. Aber letzten Endes ist es noch weit gefährlicher, da dies den Kern der amerikanischen Bürgerrechtstradition und der Rechtsstaatlichkeit berührt.

AN: Ja, wenn eine Person in offizieller Eigenschaft handelt, gibt es mehr Einschränkungen oder sollte es mehr Einschränkungen für die Person geben, als wenn sie als Privatperson handelt. Man prangert Trump für diese Art von Dingen an, aber solange er nicht tatsächlich einen Gesetzesbruch begeht, kann man wirklich nichts dagegen tun. Und wenn er tatsächlich einen Gesetzesbruch begeht, dann stellt sich die Frage, wer in einem solchen Fall handeln wird. Das ist etwas, womit sich das Gesetz zur Meinungsfreiheit nicht wirklich befasst.

JGI: Ja, aber Sie erwarten, ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist, eine gewisse Würde bei den Menschen, die eine öffentliche Funktion ausüben, die das gemeinsame Interesse aller Bürger_innen vertreten und durchsetzen sollten.

AN: Eine Situation, bei der ich der Meinung bin, dass er unter Umständen, bei denen es zu Gewalt kommen könnte, dazu angestiftet hat, ist, wenn er auf Kundgebungen war und tatsächlich Leute aufgefordert hat, jemanden zu verprügeln, der oder die ihn mit der gestellten Frage oder mit der vertretenen Position ärgert, dann überschreitet er wirklich die Grenze zur Anstiftung, weil unter diesen Umständen wirklich Gewalt stattfinden könnte.

JGI: Okay, danke, und was denken Sie bezüglich der Solidarität? Wie steht es mit dem Prinzip der Solidarität aus Ihrer Sicht? Im Vertrag über die Europäische Union und in einigen europäischen Verfassungen ist das Solidaritätsprinzip als rechtliche Grundlage in den Verfassungen verankert. Es ist kein politischer Grundsatz, aber für uns ist es ein rechtlicher Grundsatz. Da Sie als Menschenrechtsaktivist, als Anwalt, sich für diese Art von Anliegen einsetzen, möchte ich Sie bitten, ein wenig näher Ihre Vorstellung von Gerechtigkeit zu erläutern.

AN: Ich bin mir nicht sicher, wie ich das Prinzip der Solidarität als Rechtsbegriff definiere. Das ist sehr schwierig. Was bedeutet es eigentlich? Welche Verpflichtung erlegt es jemandem auf?

Ich glaube sehr stark an den Widerstand

IW: Was ist mit der Pflicht, Widerstand zu leisten, wenn Menschenrechte verletzt werden? Ich meine, das war zum Beispiel die Idee von Fritz Bauer: dass der Kampf für die Menschenrechte historisch gesehen immer Widerstand war und dass es eine Pflicht zum Widerstand gibt, wenn Menschenrechte verletzt werden.

AN: Ich glaube sehr stark an den Widerstand. Ich habe dort das Bild von Hannah Arendt, Hannah Arendt ist am umstrittensten aufgrund ihres Buches Eichmann in Jerusalem. Sie ist darin sehr kritisch gegenüber der jüdischen Führung im von den Nazis besetzten Europa, weil sie keinen Widerstand gegen die Nazis geleistet habe. Ich unterstütze ihre Position in dieser Frage sehr stark. Aber können Sie jene Menschen zur Rechenschaft ziehen, die keinen Widerstand leisten oder keine Führung übernehmen? Ich glaube nicht, dass Sie das können. Wenn sie Angst haben, oder wenn sie glauben, dass es die Sache noch schlimmer macht, wenn sie sich widersetzen, sie können sich auch irren, wenn sie sagen, dass es die Sache noch schlimmer macht, wenn sie sich widersetzen, aber vielleicht haben sie damit Recht, deshalb glaube ich nicht, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden können. Ich glaube, man kann sich für Widerstand einsetzen.

IW: Ja, man kann für Widerstand eintreten, aber was ist mit der deutschen Gesellschaft in den 1920er oder Anfang der 1930er Jahre? Waren die Menschen nicht verpflichtet, gegen den Nationalsozialismus und das Aufkommen der NSDAP Widerstand zu leisten? Ich meine, waren wir nicht verpflichtet, den Juden zu helfen oder die Juden zu retten?

AN: Ich bin ein großer Anhänger des deutschen Philosophen, der am Ende des Zweiten Weltkriegs über die Schuld schrieb…

IW: Jaspers.

AN: Karl Jaspers. Jaspers teilt die Schuld in vier Kategorien ein. Er befasst sich mit politischer Schuld, er befasst sich mit moralischer Schuld, er befasst sich mit metaphysischer Schuld, die vierte Kategorie habe ich vergessen. Am Ende kommt er zu dem Schluss, dass nur eine dieser Kategorien, nämlich die Schuld, sich an einem Verbrechen zu beteiligen, eine strafrechtliche Schuld sein kann. Und eine kriminelle Schuld ist aus seiner Sicht immer persönlich, während politische Schuld oder metaphysische Schuld oder moralische Schuld kollektiv sind und nicht als ein Verbrechen verfolgt werden können. Man kann Menschen wegen dieser kollektiven Formen von Schuld kritisieren, aber nur diejenigen bestrafen, die strafrechtlich schuldig sind, die persönlich schuldig geworden sind. Ich denke, diesen Standpunkt von Jaspers kann man generell akzeptieren.

IW: Ja, das finde ich auch. Das ist auch der Gedanke von Fritz Bauer, meine ich, dass man Menschen nicht unter dem Gesichtspunkt der moralischen Schuld verurteilen kann. Das kann man nicht, denn wenn jemand versagt hat oder etwas in der Art, was kann man dann tun? Aber vom Standpunkt des Gesetzes aus muss man ihn bestrafen. Man muss sich fragen, was man den Juden, den Roma, den … und so weiter angetan hat.

AN: Ja, aber das kann man nur persönlich behandeln.

IW: Aber Menschenrechte sind individuelle Rechte, keine kollektiven Rechte.

AN: Ja, richtig.

IW: Können wir über die Zeit nach Skokie sprechen, was haben Sie nach diesen Erfahrungen gemacht?

Reagan kehrte der Förderung der Menschenrechte den Rücken

AN: Nach dem Skokie-Fall dachte ich zunächst daran, es eine Zeit lang einfach mal ruhiger angehen zu lassen, und so wurde ich Gastprofessor für Rechtswissenschaften an der New York University, und meine Professur wurde an ein geisteswissenschaftliches Institut der New York University angegliedert, das ich leitete. Etwa zu der Zeit, als ich die American Civil Liberties Union verließ, war ein Freund von mir dabei, Helsinki Watch zu organisieren, eine Organisation, die sich mit Missständen in den Ländern des Sowjetblocks und anfangs vor allem in der Sowjetunion befasste. Er war der Leiter eines großen Verlagshauses, des größten Verlagshauses der USA, Random House. Und er bat mich, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er wurde der Vorsitzende, ich der stellvertretende Vorsitzende von Helsinki Watch. Dort war ich aktiv, während ich an der juristischen Fakultät der New York University und am geisteswissenschaftlichen Institut unterrichtete. Und dann, im November 1980, wurde Ronald Reagan zum Präsidenten der USA gewählt. Der vorherige Präsident Jimmy Carter hatte versucht, die Menschenrechte international zu fördern. Reagan kehrte den Bemühungen um die Förderung der Menschenrechte den Rücken. Und zu diesem Zeitpunkt schien es mir, dass die Menschenrechtsfrage in den USA zu einem großen Faktor werden würde.

Also willigte ich ein, Direktor der Organisation zu werden, vorausgesetzt, dass wir uns nicht nur auf die Sowjetunion und die Länder des Sowjetblocks konzentrieren, sondern uns weltweit engagieren würden. Ich beschloss, die Organisation Stück für Stück zu einer weltweiten Organisation auszubauen. Wobei ich nicht dachte, dass wir die ganze Welt auf einmal angehen könnten. Das wäre eine zu große Aufgabe. Aber ich dachte, wenn wir eine Region angehen und dann eine andere und dann die nächste. Das wäre der richtige Weg, die Sache voranzubringen. Reagan war insbesondere gegen die Carter-Menschenrechtspolitik in Lateinamerika. Also habe ich mit Lateinamerika begonnen und America’s Watch ins Leben gerufen, zwei oder drei Jahre später Asia Watch und dann Africa Watch und dann eine Middle East Watch. Insgesamt dauerte es etwa zehn Jahre, bis ich das Gefühl hatte, dass wir auf globaler Basis operieren können. Und als wir global wurden, verwendete ich den Namen Human Rights Watch und nicht mehr die Namen der verschiedenen Regionen.

JGI: Oder “Planet Earth Watch”…

IW: Und wie gelang es Ihnen, das alles zu organisieren? An jedem Ort kamen Leute zusammen oder wie hat das funktioniert?

AN: Es musste Stück für Stück geschehen. Als ich mich entschied, mich mit Lateinamerika und der America’s Watch zu befassen, musste ich Leute finden, die sich besonders gut mit den Menschenrechten in Lateinamerika auskennen, und ich brauchte ein Gremium, das sich mit den Themen in Lateinamerika auskennt. Das konnte ich in einer Region nach der anderen tun, nicht in allen auf einmal.

IW: Sie haben sie persönlich angerufen?

AN: Ja, ich habe Leute, die ich kenne, gefragt, wen schätzen Sie in Bezug auf die Menschenrechte in Lateinamerika am meisten? Und ich bekam verschiedene Namen, und einer der Namen, die ich bekam, war ein argentinischer Anwalt namens Juan Mendez. Ich ging zu Juan Mendez und überredete ihn, sich dem Stab anzuschließen. Juan Mendez war Anwalt in Argentinien gewesen. Er hatte politische Gefangene verteidigt, als die Militärdiktatur an der Macht war, war selbst gefoltert worden. Er gehörte zu den Verschwundenen.

JGI: Ja, ich kenne Juan Mendez, er ist derzeit Professor an der American University -Washington College of Law, und er war der United Nations Special Rapporteur on Torture, ein sehr angenehmer Mensch.

AN: Er überlebte, weil er als Gymnasiast in Argentinien an einem Austauschprogramm teilgenommen hatte, bei dem er mit einer Familie aus Iowa in den Vereinigten Staaten lebte. Als er verschwand, rief seine argentinische Familie seine Familie aus Iowa an, und seine Familie aus Iowa ging zu den Kongressabgeordneten aus Iowa und dem Nachbarstaat Illinois und brachte sie dazu, sich für seinen Fall einzusetzen, das rettete ihn wahrscheinlich das Leben. Nach anderthalb Jahren Gefängnis wurde er freigelassen und kam in die Vereinigten Staaten.

IW: Als Einwanderer?

AN: Ja, verschiedene Mitglieder des Kongresses waren in seinem Fall tätig und unterstützten ihn. Er hat sich im Laufe der Jahre auf dem Gebiet der Menschenrechte einen bedeutenden Namen gemacht. Er wurde Präsident der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, als Kofi Anan Generalsekretär der UNO war, er war der Sonderberater des Generalsekretärs für die Verhinderung von Völkermord (Special Adviser oft he Secretary General on the Prevention of Genocide). Er war der UN-Berichterstatter über Folter. Er hatte verschiedene bedeutende Positionen inne und lehrt heute an der American University Law School. Er ist jetzt etwa 76 Jahre alt, und er bleibt ein enger Freund von mir und ein enger Mitstreiter von mir, wir arbeiten zusammen. Ich habe ihn Kofi Anan vorgestellt.

Ich erinnere mich, dass Kofi Anan, nachdem er nach einigen Monaten Sonderberater für Völkermord geworden war, mich anrief und mir erzählte, wie dankbar er mir dafür war, dass ich ihn Juan vorgestellt hatte, weil er seine Aufgabe so effektiv und so gut erfüllte. Er ist einer von den Menschen, die nach meinem Gefühl ganz oben auf der Liste der besonderen Menschen stehen. Natürlich habe ich auch andere Menschen aus anderen Teilen der Welt gefunden, heute ist Human Rights Watch eine ziemlich große Organisation. Keine so große wie die American Civil Liberties Union, aber sie ist ziemlich groß, und die American Civil Liberties Unionbeschränkt sich auf die Vereinigten Staaten, während sich Human Rights Watch mit der ganzen Welt befasst.

IW: Wurde Human Rights Watch vor oder nach Amnesty International gegründet?

AN: Amnesty International wurde 1961 gegründet. Der erste Teil von Human Rights Watch, Helsinki Watch, wurde 1978 gegründet, und dann dauerte es zehn Jahre, bis wir global wurden.

Heute gibt es keinen wesentlichen Unterschied mehr zwischen der Agenda von Amnesty International und Human Rights Watch

IW: Können Sie beschreiben, was die Hauptunterschiede oder die Hauptziele beider Organisationen, Amnestyund Human Rights Watch, sind?

AN: Als Human Rights Watch gegründet wurde, hatte Amnesty eine sehr begrenzte Agenda. Amnesty kümmerte sich um Gefangene aus Gewissensgründen und Folter. Und dann kam die Problematik der Todesstrafe hinzu. Human Rights Watch verfolgte einen viel breiteren Ansatz. Die wichtigste Neuerung bei Human Rights Watch ist, dass wir uns mit den Verletzungen des Kriegsrechts, also des humanitären Völkerrechts, befassen. Zu diesem Zeitpunkt unternahm Amnesty nichts gegen Kriegsgesetze, gegen Verletzungen der Kriegsgesetze. Viele Jahre später griffen sie dies auf. Aber sie sträubten sich bei der Übernahme des humanitären Völkerrechts. Human Rights Watch befasste sich auch mit Rechtsverletzungen, die keine politischen Missbräuche beinhalteten, so dass Frauenrechtsfragen oder Fragen der Rechte von Homosexuellen oder das Recht auf einen fairen Prozess für gewöhnliche Personen oder die Rechte von Gefangenen, die keine politischen Gefangenen, sondern gewöhnliche Gefangene waren, behandelt wurden. Human Rights Watch hatte also eine viel umfassendere Agenda als Amnesty. Mit der Zeit veränderte sich Amnesty, und heute gibt es keinen wesentlichen Unterschied mehr zwischen der Agenda von Amnesty International und Human Rights Watch. Aber damals war das ganz anders. Eine andere Sache ist, dass Human Rights Watch ursprünglich eine amerikanische Organisation war und sich mit der amerikanischen Außenpolitik und der Art und Weise, wie diese sich auf die Menschenrechte auswirkt, befasste. Amnesty hätte sich damals nicht damit befasst. Amnesty vertrat den Standpunkt, dass sie sich nur dann mit der amerikanischen Außenpolitik befassen würden, wenn sie sich auch mit der sowjetischen Außenpolitik befassen könnten. Mit sowjetischer Außenpolitik oder chinesischer Außenpolitik konnten sie sich nicht befassen. Sie befassten sich nicht mit der amerikanischen Außenpolitik. Human Rights Watch konzentrierte sich sofort sehr stark darauf, wie sich die amerikanische Außenpolitik auf die Menschenrechte auswirkt. Es versucht auch, sich mit allen anderen zu befassen und wie sich ihre Politik auf die Menschenrechte auswirkt. Human Rights Watch hat heute übrigens ein sehr, sehr gutes Verhältnis zu Angela Merkel. Ken Roth, mein Nachfolger, trifft sie wohl einmal im Jahr oder alle zwei Jahre. Und er ist immer sehr begeistert über seine Treffen mit ihr.

JGI: Was war die Rolle der NGOs und die Entwicklung ihrer Funktionen in den letzten Jahrzehnten?

AN: Im Laufe der Zeit sind NGOs meiner Meinung nach wichtiger geworden. Es gab eine Zeit, in der NGOs keine bedeutende Rolle in der öffentlichen Politik spielten. Ich glaube, die frühesten NGOs, die eine bedeutende Rolle in der öffentlichen Politik spielten, und die frühesten Menschenrechtsbemühungen waren wirklich die Anti-Sklaverei-Einsätze in England beginnend in der zweiten Hälfte des 18. Und dann in den USA im 19. Jahrhundert. Ich glaube, die Anti-Sklaverei-Bewegung war im Wesentlichen eine NGO-Bewegung, die dann zur Regierungspolitik wurde. Wissen Sie, England schaffte zunächst die Sklaverei in den Kolonien ab, dann den Sklavenhandel und die Sklaverei in England selbst, etwas später taten dies auch die Vereinigten Staaten. NGOs spielten dabei eine entscheidende Rolle. Aber in den Vereinigten Staaten begannen NGOs erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine umfassendere Rolle zu spielen. Die NAACP, die National Association for the Advancement of Colored People, wurde 1909 in den Vereinigten Staaten gegründet und die American Civil Liberties Union 1920. Diese wurden zu den wichtigsten NGOs, die sich hier in den Vereinigten Staaten mit den Menschenrechten befassen. Während des Ersten Weltkriegs gab es in England eine Bürgerrechtsorganisation, die von Persönlichkeiten wie Bertrand Russell geleitet wurde und sich mit dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen befasste. Und dann verschwand die englische Organisation nach dem Ersten Weltkrieg, wurde aber 1934 wieder gegründet, und heute gibt es im Vereinigten Königreich eine Organisation namens Liberty, die dieselbe Organisation ist wie der 1934 gegründete National Council for Civil Liberties, aber es gab diese Lücke zwischen etwa 1920 und 1934 im Vereinigten Königreich. In Frankreich gab es eine Menschenrechtsorganisation, die in den 1890er Jahren als Folge des Dreyfus-Falls gegründet wurde, die Federation in Frankreich ist eine Folge des Dreyfus-Falls. Im Jahr 1922 gründete sie eine internationale Organisation. Und sie hatte eine gewisse Anzahl prominenter Persönlichkeiten aus anderen europäischen Ländern, die mit der Federation verbunden waren. In Italien war zum Beispiel Matteotti (Giacomo Matteotti), der von Mussolini ermordet wurde, mit der Federation assoziiert. In Deutschland war Carl von Ossietzky, der den Nobelpreis erhielt und über die deutsche Wiederbewaffnung berichtete, Mitglied der Federation. Nachdem Carl von Ossietzky den Nobelpreis erhalten hatte, verfügte Hitler, dass kein Deutscher jemals einen Nobelpreis erhalten könne. Also, wissen Sie, in Spanien war Miguel de Unamuno, glaube ich, Mitglied der Federation.

JGI: Ja, in der Tat, ein wunderbarer Film über Unamuno als Rektor der Universität Salamanca während der ersten Monate des spanischen Bürgerkriegs ist gerade im Jahr 2019 erschienen.

AN: In den Vereinigten Staaten kam es während des Zweiten Weltkriegs zu Bemühungen, internationale Menschenrechte einzuführen. Was geschah, ist, dass es in den Vereinigten Staaten eine gewisse Anzahl französischer Exilanten gab, die mit der Federation in Frankreich verbunden waren. Der Leiter der Federationin Frankreich wurde von den Nazis ermordet. Ich erinnere seinen Namen nicht. Aber es gab einige Mitglieder der Gruppe in den Vereinigten Staaten. Sie nahmen Kontakt mit einem Mann namens Roger Baldwin auf, der der Gründer der American Civil Liberties Union gewesen war und immer noch ihr Leiter war. Mit ihm verbündeten sie sich und gründeten eine Organisation mit dem Namen Internationale Liga für Menschenrechte (International League for Human Rights) zu gründen. Zuerst hieß sie International League for the Rights of Man, und dann änderten sie diesen Namen, um Frauen einzubeziehen, und wurden zur Internationalen Liga für Menschenrechte, die zur Zeit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aktiv war und eine Organisation, die die Ratifizierung der UN-Völkermordkonvention unterstützte. Sie existiert nicht mehr, sie war eine kleine Organisation.

IW: In Deutschland existiert sie, glaube ich, immer noch. Sie heißt Internationale Liga für Menschenrechte.

AN: Ja, ich bin mir nicht sicher, ob sie jemals verbunden waren. Ich bin mir nicht sicher, ob das dasselbe war, ich glaube, die deutsche Organisation war davon getrennt.

Die Menschen, die gegen Sklaverei kämpften, haben die Menschenrechte erfunden

IW: Ja. Was Sie uns erzählt haben, erinnert mich an ein Zitat von Richter Thomas Buergenthal. Als wir ihn befragten, sagte er, die Menschenrechte hätten vor dem Zweiten Weltkrieg nicht existiert, “wir haben sie erfunden”.

AN: Ich denke, dass die Menschen, die gegen Sklaverei kämpften, die Menschenrechte erfunden haben, und ich empfinde dies aus folgenden Gründen. Erstens war die Anti-Sklaverei-Bewegung international, und sie musste international sein, weil Sklaven von einem Land in ein anderes importiert wurden. Und das Zweite an der Anti-Sklaverei-Bewegung ist, dass viele der beteiligten Personen altruistisch an diesen Anstrengungen beteiligt waren. Das heißt, es ging ihnen nicht um ihre eigenen Rechte, sondern um die Rechte anderer. Für mich besteht das Wesen der Menschenrechtsbewegung darin, sich mit den Rechten von anderen zu befassen. Man kann durch die Geschichte zurückgehen und Menschen finden, die sich um ihre eigenen Rechte kümmern. Das Novum an der Anti-Sklaverei-Bewegung ist, dass es Menschen gibt, die sich uneigennützig um die Rechte anderer kümmern. Die Menschen streiten sich darüber, was der Beginn der Menschenrechtsbewegung ist. Ich vertrete den Standpunkt, dass es die Anti-Sklaverei-Bewegung ist.

IW: Ich habe noch eine Frage: Warum sind Sie nie in die Politik gegangen?

AN: (Lacht) Ich habe nie wirklich gedacht, dass ich in der Politik sehr gut sein würde. Eine Erfahrung habe ich gemacht, die in gewisser Weise eine politische war. Als ich 1966 Direktor der New Yorker Civil Liberties Unionwar, hatten wir in New York ein Referendum darüber, ob es eine zivile Überprüfung von Beschwerden gegen die Polizei geben sollte. Und ich war der Leiter der Bemühungen um eine zivile Überprüfung. Wir starteten eine große Operation, und ich habe viele wichtige Persönlichkeiten für meine Seite der Debatte gewonnen. Ich redete mir ein, dass wir Erfolg haben würden. Und wir haben mit einer Spanne von 63 zu 37 Prozent verloren. Das war meine einzige Erfahrung mit einer Kampagne, die die breite Öffentlichkeit einbezog. Und wenn ich jemals daran gedacht habe, politisch aktiv zu werden, dann hat mich diese eine Erfahrung davon abgehalten, weiter in diese Richtung zu gehen.

IW: Und auch, nie Mitglied einer Partei zu werden? Einer politischen Partei?

AN: Ich bin Mitglied einer politischen Partei. Aber nur aus dem Grund, um bei Vorwahlen abstimmen zu können, ich war nie aktiv in einer politischen Partei.

JGI: Lassen Sie mich Ihnen diese Frage stellen, die für mich als Juraprofessor wichtig ist. Thomas Bingham, der britische Richter, hat gesagt, Rechtsstaatlichkeit sei die Seele von Demokratien. Sie ist das innere Gehalt der Demokratien. Was bedeutet für Sie Rechtsstaatlichkeit, wenn es um den Schutz der Menschenrechte geht? Ich denke, man kann sie nicht vom Schutz der Menschenrechte trennen.

AN: Ich denke, dass man die Menschenrechte nur mit Hilfe der Rechtsstaatlichkeit schützen kann. Rechtsstaatlichkeit bedeutet mir alles.

JGI: Ja, da stimme ich Ihnen zu. Meine Frage ist von Bedeutung, weil das heißt, wenn Sie an die Demokratie glauben, sind Sie per Definition ein Verteidiger der Menschenrechte. Das bedeutet, dass jeder, der an die Demokratie glaubt, ein aktiver Verteidiger der Menschenrechte ist. Und das ist eine unserer größten Herausforderungen, dass Rechtsstaatlichkeit nicht die Aufgabe von Richtern ist, nicht die Aufgabe von Gesetzgebern oder Anwälten, es ist die Aufgabe von aktiven Bürgerinnen und Bürgern, sich für ihr gemeinsames Interesse einzusetzen.

AN: Dem stimme ich zu.

IW: Aber wie ist es möglich, die Menschenrechte in dieser politischen Situation zu bestärken?

AN: Es ist sehr schwierig, ich meine, ich habe noch nie eine größere Polarisierung der Meinungen gesehen, wie wir sie heute in den Vereinigten Staaten, aber auch sonst auf der Welt haben. Die Polarisierung ist heute extrem.

IW: Zum Beispiel hat Jakob (Jakob Gatzka) einen Film über die Migration nach Europa in den letzten Jahren gedreht und dieses berühmte Zitat, das Sie von Angela Merkel erwähnten, als sie die Grenzen für die Einwanderung öffnete. Das hat unser Land völlig gespalten.

AN: Wissen Sie was, schauen Sie, ich halte sie für eine Heldin.

IW: Ja, aber einige Leute sagen, sie tat dies nur, um die politische Macht zu behalten. Ich weiß es wirklich nicht, das ist ambivalent, weil sie jetzt wegen dieses Zitats sehr berühmt ist und auf der anderen Seite hat dies unser Land gespalten.

AN: Ich bin ihr nie begegnet, aber mein Nachfolger bei Human Rights Watch spricht bewundernd von ihr. Er sagt, wenn er sich mit ihr trifft, findet er einen anständigen Menschen. Und wenn er etwas sagt, und zwar etwas, wovon sie nicht wusste, antwortet sie: „Das wusste ich nicht.“ Er sagte, Politiker würden das nie tun… ((Alle lachen).

AN: Wissen Sie, sie ist eine andere Art von Mensch als die in den Machtpositionen, mit denen er sonst zu tun hat.

IW: Interessant.

AN: Und sie hat auch in sehr vielen Einzelfällen gehandelt. Mir ist bekannt, dass sie sich für bestimmte Opfer von Menschenrechtsverletzungen eingesetzt hat. Ich meine, wenn ich einen Fall nennen sollte, der mich in diesem Augenblick am meisten beschäftigt. Ich habe einen Freund in der Türkei, einen Geschäftsmann namens Osman Kavala. Osman ist ein Wohltäter, ein Philanthrop in der Türkei, ein großer Befürworter der Minderheitenrechte in der Türkei und auch Unterstützer von Kulturprogrammen. Eine typische Tat von ihm ist die Gründung eines Kulturzentrums in Diyarbakir, der Hauptstadt der kurdischen Bevölkerung in der Türkei. Und es ist nun schon mehr als zwei Jahre her, dass er in Istanbul im Gefängnis ist. Erdogan wirft ihm vor, die Proteste finanziert zu haben, die 2013 an einem Ort in Istanbul namens Gezi-Park stattfanden, er sieht dies als einen Putschversuch. Das ist absurd, aber Osman Kavala befindet sich aufgrund dieser Anschuldigungen seit mehr als zwei Jahren im Gefängnis. Er hat keinen Prozess bekommen. Ich weiß, dass Angela Merkel mehr als einmal mit Erdogan über diesen Fall gesprochen hat. Und es gibt weltweit viele Fälle wie diesen, in denen sie interveniert hat.

Als die Frau von Liu Xiabo (Friedensnobelreisträger im Gefängnis in China) in Berlin ankam, wurde sie mit dankbarer Geste in Richtung Angela Merkel fotografiert. Und das lag daran, dass Angela Merkel mit Xi Xingping verhandelt hatte. Sie hat sich mehr als andere Führungspersönlichkeiten aktiv um einzelne Menschenrechtsfälle gekümmert. Am ehesten kommt noch Trudeau in Kanada da heran, aber Angela Merkel war die aktivste Führungspersönlichkeit auf diesem Gebiet.

IW: Ja, das ist wahr. Das ist das, was Teng Biao (Anwalt und Menschenrechtsaktivist) gestern in unserem Gespräch über China sagte, dass Angela Merkel diejenige war, die nach den Gefangenen gefragt hat. Aber er sagte auch, dass das nicht genügend ist.

AN: Ja.

JGI: Darf ich Herrn Neier eine Frage stellen, die Irmtrud in ihren Interviews aufgegriffen hat? Wer war für Sie der wichtigste Menschenrechtsverteidiger in Ihrem Leben?

Die wichtigsten Verteidiger_innen der Menschenrechte

AN: Ich kann keine Person nennen, die ich als den oder die wichtigste Verteidiger_in der Menschenrechte bezeichnen könnte. Ich kann an Menschen in verschiedenen Teilen der Welt denken und wen ich für die wichtigsten Verteidiger_innen der Menschenrechte in diesem Teil der Welt halte. Wenn ich zum Beispiel an Russland und die Sowjetunion denke, fallen mir zwei Menschen ein. Ich denke an eine Frau namens Ludmila Alexeeva, die vor nicht allzu langer Zeit im Alter von 90 oder 91 Jahren starb. Sie war eine Freundin von mir. Sie lebte einige Jahre in den Vereinigten Staaten, und in dieser Zeit wurden wir Freunde, und als sie in der zweiten Hälfte von Gorbatschows Amtszeit in die Sowjetunion zurückkehrte, besuchte ich sie in Moskau, ich besuchte sie dort viele Male, und als ich von meinem Amt als Präsident der Stiftung zurücktrat, reiste sie, obwohl sie damals 85 war, nach Budapest, um an einem Abendessen für mich teilzunehmen. Schauen Sie, Ludmila Alexeeva war eine große Frau.

Und dann gibt es noch eine weitere Person, Sergej Kovalev, der noch lebt und heute ebenfalls etwa 90 Jahre alt ist. Er war Mikrobiologe und einer der ersten Dissidenten, und er war die Hauptperson bei der Veröffentlichung einer Chronik der aktuellen Ereignisse, die die beste Informationsquelle für die Unterdrückung in der Sowjetunion war, und er saß siebzehn Jahre im Gefängnis und war danach im inneren Exil in Sibirien. In den Ländern des ehemaligen Sowjetblocks sticht er als Oppositioneller hervor.

Adam Michnik in Polen ist ein Freund von mir. Ich habe ihn vor kurzem hier in New York gesehen. Vaclav Havel in der Tschechoslowakei. In China bin ich Liu Xiaobo nie begegnet, aber ich wusste sehr lange Zeit von ihm. Ich wusste, dass er hier in den Vereinigten Staaten lehrte, als die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens stattfanden, und dass er nach China zurückkehrte und zum Zeitpunkt der militärischen Niederschlagung auf dem Platz des Himmlischen Friedens war. Er rettete wahrscheinlich in diesem Augenblick viele Leben, weil die Studierenden, die den Platz des Himmlischen Friedens besetzt hatten, sich am Denkmal auf dem Platz versammelten und darüber debattierten, ob sie gehen oder bleiben sollten, um sich dem Militär entgegenzustellen. Er sagte, lasst uns abstimmen, und er führte den Vorsitz und erklärte, dass diejenigen, die für den Abzug gestimmt hatten, die Mehrheit hatten. Fast alle Studierenden verließen den Platz und überlebten. Alles, was ich über Liu Xiaobo erfuhr, bewunderte ich ungemein.

Wenn ich an Lateinamerika denke, gibt es eine Reihe von Menschen. Es gibt einen Mann, der noch in Chile lebt, namens José Zalaquett (er starb am 15. Februar 2020). Er hat wirklich eine ungemein wertvolle Rolle in Chile gespielt. Und in Argentinien ein Mann namens Emilio F. Mignone, er war der Gründer einer Organisation namens CELS (Centro de Estudios Legales y Sociales) in Argentinien. Er war Rektor der Universität gewesen. Seine Tochter verschwand. Und nachdem seine Tochter verschwunden war, trat er von seinem Posten als Rektor der Universität zurück und gründete die inzwischen führende Menschenrechtsorganisation in Argentinien. Nach dem Verschwinden seiner Tochter konnte ihm niemand mehr etwas antun. Es gab nichts, was ihn einschüchtern konnte, denn das Schlimmste war ihm bereits passiert. Er spielte eine ungeheuer wichtige Rolle in Argentinien.

In Brasilien war die Person, die ich besonders bewunderte, Kardinal Arns, der Kardinal von Sao Paulo, er war der Hauptgegner des Militärs während der Militärdiktatur in Brasilien. Er dokumentierte ihre Verbrechen, und es gibt ein Buch mit dem Titel Folter in Brasilien, das das Ergebnis seiner Dokumentation der Verbrechen ist, und zwar in dem Maße, wie die Kirche in Lateinamerika in bestimmten Ländern zu einem starken Gegner von Menschenrechtsverletzungen wurde. Der Einfluss von Kardinal Arns war besonders wichtig. Das sind also die Menschen in Lateinamerika. Wenn ich gedanklich in verschiedene Teile Afrikas reise, ist Erzbischof Tutu in Südafrika einer meiner Helden. Ich denke, er ist ein wunderbarer Mensch, und er hat auch einen großartigen Sinn für Humor. Ich denke, Erzbischof Tutu hat zu jedem Zeitpunkt eine entscheidende Rolle im Widerstand gegen die Apartheid in Südafrika gespielt, und ich könnte noch andere Personen nennen.

IW: Ich danke Ihnen.

JGI: Vielen Dank. Wir schätzen diese wertvolle Zeit, die wir mit Ihnen verbracht haben, die gleichzeitig eine neue Erfahrung und ein Lernen für diejenigen von uns ist, die Ihr Engagement und Ihr Vermächtnis im Bereich der Menschenrechte hochschätzen.

 

Das Interview fand im Dezember 2019 in New York statt. Die Veröffentlichung wurde von den Beteiligten autorisiert.

Interview: PD Dr. Irmtrud Wojak (BUXUS STIFTUNG), Prof. Dr. Joaquín González Ibánez (Berg Institute Oceana Aufklärung)
Kamera: Jakob Gatzka
Übersetzung: Dr. Irmtrud Wojak

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