Geschichte der Menschenrechte

Die Suche nach dem Recht

 

„Die Menschenrechte wurden im Hirn und Herzen der Menschen geboren und mit ihren Fäusten erkämpft. Deswegen schulden wir dem Widerstand ihre Idee und Wirklichkeit.“

Fritz Bauer

 

Fritz Bauer

Abb. 1

In seiner letzten großen Schrift spricht Fritz Bauer von der Suche nach dem „wahren“ und „richtigen“ Recht, auf der wir uns alle befinden und die oft einem Herumirren durch ein Labyrinth gleicht und glich. [1] In seinen Augen stellte die Geschichte der Menschenrechte keine geradlinige Fortschrittsgeschichte, sondern eine fortwährende Suche nach Recht und Gerechtigkeit mit Höhen und Tiefen dar, die sich durch Widerstand und Ungehorsam auszeichnet. Im Gegensatz zu engstirnigen ideengeschichtlichen Interpretationen sprach er von einem „Kampf um des Menschen Rechte“ [2] und betonte, dass die Menschenrechte den Herrschenden erst mühselig abgerungen werden mussten. Dieser Kampf sei nach wie vor notwendig und ziehe sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit.

Für ihn bildeten Widerstand und Menschenrechte stets die zwei Seiten einer Medaille: Ohne Menschenrechte kein Widerstand und ohne Widerstand keine Menschenrechte. Folgen wir diesem (Geschichts- und Rechts-) Verständnis, dann weitet sich der Horizont und die Menschenrechte erscheinen als das Erbe der gesamten Menschheit, da zu allen Zeiten und an allen Orten Widerstand geleistet wurde. [3]

Hier wird die lange und entbehrungsreiche Suche nach dem Recht in der Menschheitsgeschichte in groben Zügen nachgezeichnet. Vorrangiges Ziel ist es, den engen Verflechtungen von Widerstand und Menschenrechten – ohne die der Ansatz und das Anliegen der Fritz Bauer Bibliothek nicht verstanden werden kann – auf die Spur zu kommen. Das Werk von Fritz Bauer dient hierbei als Kompass.

Die Geschichte des Widerstands als Kampf um des Menschen Rechte

„Widerstand ist ein Naturrecht, ein Recht das mit uns geboren ist. (…)
Es ist das Recht auf Leben, das dem Selbsterhaltungstrieb entspricht.“

Fritz Bauer

 

Das von Bauer angesprochene Recht auf Leben beschränkt sich allerdings nicht, wie fälschlicherweise angenommen werden könnte, auf das bloße „Vegetieren“; es meint vielmehr das Recht auf eine menschenwürdige Existenz im Hier und Jetzt – mit allem was dazu gehört. In der Goldenen Regel, die sich bereits in den Schriften des Konfuzius (circa 551 – 479 v. u. Z.), im Buddhismus, im Hinduismus, im Judentum und wesentlich später auch im Christentum findet, erblickte er die ethische Grundlage einer solchen Existenz:

„Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“

Die enorme Bedeutung der Goldenen Regel in der Geschichte der Menschenrechte darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in Gesellschaften formuliert wurde, die sie systematisch missachteten und dem Großteil der Bevölkerung ein menschenwürdiges Dasein verwehrten. Welchen Sinn hätte es gehabt, eine Goldene Regel aufzustellen, wenn schon alle danach handeln?

An dieser Stelle wird ein eklatanter Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Ideal und Praxis, zwischen Recht und Wirklichkeit sichtbar, der die gesamte Menschheitsgeschichte bis ins 21. Jahrhundert hinein durchzieht. Dieser Widerspruch sorgt für „Unruhe“ [4] und provoziert Widerstand, der sich gegen menschenunwürdige Verhältnisse richtet. „Das Wesen des Rechts ist Widerstand gegen das Unrecht“, heißt es so treffend bei Arthur Kaufmann. [5]

Der Widerstand selbst, das Neinsagen zum Unrecht, kann wiederum in völlig unterschiedlichen Formen auftreten. [6] Zunächst als aktiver Widerstand der „leidenden Kreatur“ [7] oder als Nothilfe, wenn die Rechte anderer in Gefahr sind.

Der aktive Widerstand gipfelt im Tyrannenmord, der nicht nur vom Alten Testament, sondern auch vom bedeutendsten Nachfolger des Konfuzius ausdrücklich gebilligt wurde. So war Menzius (circa 370 – 290 v. u. Z.) der Überzeugung: „Ein Herrscher, der sich gegen die Kardinaltugenden von ren 仁 (Mitmenschlichkeit) und yi 義 (Rechtlichkeit) vergeht, hat die Stellung eines Herrschers verwirkt. Es ist daher erlaubt (…) ihn zu töten.“ [8]

In der griechischen Antike wurde der Tyrannenmord dann mit der Eidformel gegen die Tyrannis (circa 500 v. u. Z.) und dem Tyrannengesetz von Ilion (ca. 275 v. u. Z.) institutionell abgesichert. Freilich bleibt der Tyrannenmord [9] ein „Grenzfall“ des aktiven Widerstands, aber mit seiner Anerkennung, so Fritz Bauer, sind auch andere Formen des Widerstands legitim, die nicht auf die Tötung von Tyrannen zielen. Das entscheidende Kriterium für Bauer war jedoch, dass der Widerstand der Rechtsverletzung adäquat ist und dem Kampf um des Menschen Rechte dient. [10] Dabei ist es zunächst unerheblich, ob sich die Widerstandshandlung gegen einzelne Personen oder gegen einen verbrecherischen Staat richtet, der Unrecht duldet oder selbst begeht. Die Sklavenaufstände im Römischen Reich erfüllten seiner Auffassung nach dieses Kriterium und können als Beispiele aktiven Widerstandes angeführt werden.

Mithin sind die Worte des berühmten Gladiators und Rebellenführers Spartakus (gestorben 71 v. u. Z.) als lautstarke Rufe nach einem menschenwürdigen Dasein zu verstehen: „Man darf das Leben nicht für Schauspiele einsetzen, sondern nur für die Freiheit.“ [11]

Gewiss darf der Widerstand nicht auf den aktiven Widerstand, gar auf den Tyrannenmord, reduziert werden, da er auch passiv geleistet werden kann. Beispielhaft hierfür steht der griechische Philosoph Sokrates (469 – 399 v. u. Z.), der eines Tages ins Rathaus seiner Stadt berufen wurde, um gemeinsam mit vier anderen einen Mann ausfindig zu machen, der getötet werden sollte. In seiner berühmten Verteidigungsrede schilderte er, wie er auf den Auftrag reagierte: „(…) [M]ich konnte jene Regierung, so mächtig sie war, nicht derart einschüchtern, dass ich ein Unrecht begangen hätte, sondern als wir vom Rathaus herunterkamen, gingen die anderen vier nach Salamis und holten den Mann, ich aber ging nach Hause.“ [12] Sokrates ließ sich nicht in die dunklen Machenschaften der Tyrannis verstricken, weigerte sich, „mitzumachen“ und leistete passiven Widerstand. [13] Dabei orientierte er sich an einem „guten Recht“, dem er mehr Gewicht beimaß als den tatsächlichen Gesetzen der Herrschenden. [14] Die „Beihilfe zum Mord“ war mit diesem „übergesetzlichen Recht“ nicht in Einklang zu bringen und seine Gegenüberstellung von gutem Recht auf der einen und widerrechtlichem Regierungsauftrag auf der anderen Seite erzeugte einen Widerspruch, der widerständiges Handeln erforderlich machte. Daher rührt auch Fritz Bauers Revolutionsverständnis: Revolution meint die Beendigung von Unrecht beziehungsweise die Wiederherstellung von Recht. [15]

Abb. 2

Obgleich der konkrete Inhalt des „guten Rechts“ zum damaligen Zeitpunkt noch nicht ausbuchstabiert war, nahm es bei Cicero (106 – 43 v. u. Z.) schon einen universellen Charakter an: „Wer würde füglich denjenigen einen Menschen nennen, der zwischen sich und seinen Mitbürgern, ja, dem ganzen Menschengeschlecht keine Gemeinschaft des Rechts, kein Band der Menschlichkeit gelten lassen will.“ [16] Von dem Recht, auf das sich Sokrates bezog und das sich hinter den Zeilen Ciceros verbirgt, führte der Weg zur Magna Charta Libertatum und zum Sachsenspiegel, die am Beginn des 13. Jahrhunderts stehen und wichtige Meilensteine im Kampf um des Menschen Rechte darstellen. So heißt es im Sachsenspiegel: „Der Mann muß wohl auch seinem König, wenn dieser Unrecht tut, widerstehen und sogar helfen, ihm zu wehren in jeder Weise, selbst wenn jener sein Verwandter und Lehnsherr ist.“ [17]

„Wo viel Licht ist“, betonte Goethe, „ist auch starker Schatten.“ [18] Die Schattenseite des Sachsenspiegels bestand zweifellos darin, dass lediglich den Männern das Privileg zugestanden wurde, sich auf das Recht zu berufen. Frauen waren per se ausgenommen. Dementsprechend erklärte auch die Magna Charta: „Kein freier Mann soll ergriffen, gefangengenommen, aus seinem Besitz vertrieben, verbannt oder in irgendeiner Weise zugrunde gerichtet werden (…), es sei denn auf Grund eines gesetzlichen Urteils (…).“ [19] Hier liegt die Betonung auf „freier Mann“, womit nicht alle Männer, sondern ausschließlich die wohlhabenden gemeint waren, die dem Adelsstand angehörten. Die Magna Charta hat sonst niemandem genützt. [20] Der Großteil der Bevölkerung lebte weiterhin in Knechtschaft und war – wie zuvor – der willkürlichen Gewalt der Herrschenden ausgesetzt.

Bis die gleichen (formalen) Rechte für ausnahmslos alle Menschen erkämpft wurden, sollten noch Jahrhunderte vergehen. Die Bauernaufstände, die sich vom 14. Jahrhundert bis hinein ins 18. Jahrhundert erstreckten, stellten einen entscheidenden Schritt in diese Richtung dar. Im Kern richtete sich der aktive und passive Widerstand der Bauern gegen Adel und Klerus, die sich zu Lasten der Bauern bereicherten und einer menschenwürdigen Existenz im Wege standen. Für diesen Missstand fand der Bauernführer Thomas Müntzer (1489 – 1525 n. u. Z.), der als „Theologe der Revolution“ [21] bezeichnet wurde, klare Worte: „(…) die Grundsuppe des Wuchers, der Dieberei und Räuberei sind unsere Herrn und Fürsten; [sie] nehmen alle Kreatur zum Eigentum: die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden muss alles ihrer sein (Jes. 5) (…). Wenn ich das sage, muss ich aufrührerisch werden, wohlan!“ [22] Die Anklage von Thomas Müntzer verdeutlicht, dass der Kampf um des Menschen Rechte nicht „nur“ ein Kampf um politische Teilhaberechte, sondern auch ein Kampf um ökonomische (Überlebens-)Rechte war und ist. [23] Dies kommt auch in den Zwölf Artikeln der oberschwäbischen Bauern von 1525 zum Ausdruck, die unter anderem forderten, dass die Wiesen und Äcker, die sich die Herrschenden widerrechtlich angeeignet haben, wieder in Gemeineigentum übergehen müssen.

In diese Zeit fällt auch der Widerstand des Dominikaner-Paters Bartolomé de las Casas (circa 1484 – 1566 n. u. Z.), der die Vernichtungsfeldzüge der spanischen Konquistadoren in Lateinamerika aufs Schärfste verurteilte und in einem Schreiben auf die “reglas de los derechos humanos” (auf die Prinzipien der Menschenrechte) verwies.

Der steinige Weg zu unseren modernen Menschenrechten

Abb. 3

Trotz des widerständigen Vordenkers Bartolomé de las Casas wird in der Folge nicht Spanien, sondern England zur Heimstätte des Widerstandsrechts. Die erkämpfte Magna Charta Libertatum hatte hierfür die Basis geschaffen und mit der Petition of Rights (1628) und dem Habeas Corpus Act (1679) wanderte die in Entstehung begriffene Konzeption der Menschen- und Bürgerrechte – deren Kontur bei den „Levellers“ [24] schon deutlich zu erkennen ist – allmählich nach Nordamerika. Dort führte die Amerikanische Revolution, die sich gegen die britische Kolonialherrschaft richtete, zur Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. Die Erklärung leitete eine „Rechtsrevolution“ [25] ein und zeugt von dem engen Zusammenhang von Menschenrechten und Widerstand. So heißt es gleich zu Beginn der Erklärung: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“ [26] Und:

„(…) wenn irgendeine Regierungsform sich für diese Zwecke als schädlich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen (…).“ [27]

Das Revolutionäre der Unabhängigkeitserklärung bestand also nicht zuletzt darin, dass sie ein Recht auf Revolution festschrieb. Kurze Zeit später begann die Französische Revolution, die die Feudalherrschaft hinwegfegte und in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte mündete. (Bild 13: Französische Revolution, Erstürmung der Bastille) In ihr findet sich die entscheidende Passage: „Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese sind das Recht auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Sicherheit und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung.“ [28]

Die großen Errungenschaften der beiden Erklärungen dürfen jedoch nicht über die Missstände und Versäumnisse hinwegtäuschen. So kritisierte die französische Frauenrechtlerin Olympe de Gouges (1748 – 1793 n. u. Z.) den patriarchalen Charakter der französischen Erklärung und formulierte aus Protest die Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin, in der sie unmissverständlich klarstellte: „Die Frau wird frei geboren und bleibt dem Mann an Rechten gleich.“ [29]

Auf einen weiteren Missstand machte Toussaint Louverture (1743 – 1803 n. u. Z.) aufmerksam, der in der Haitianischen Revolution eine entscheidende Rolle spielte und die (vermeintlich) universellen Menschenrechte auch für Sklaven und Menschen mit schwarzer Hautfarbe einklagte. Die zum Teil heftigen Reaktionen auf die Forderungen von Olympe de Gouges und Toussaint Louverture zeigen, dass mit der Gleichheit aller Menschen de facto nur die Gleichheit unter weißen, europäischen und als vernünftig geltenden Männern gemeint war; „(…) oder anders ausgedrückt, was gemeinhin ,Menschheit‘ genannt wurde, war auf die Interessen, Kategorien, Klassen, Volksstämme, Rassen, Zivilisationen und Kulturen, auf die es ankam, beschränkt.“ [30]

Dieser offenkundige Widerspruch lässt sich wohl am besten mit den Worten des Schriftstellers und Widerstandskämpfers George Orwell fassen: Alle sind gleich, aber manche sind gleicher. [31] So verwundert es nicht, dass die proklamierten Menschenrechte im Verlauf des „langen 19. Jahrhunderts“ [32] zunehmend unterlaufen, zweckentfremdet und instrumentalisiert wurden, bis sie hinter Kolonialismus, Nationalismus und Rassismus in der Bedeutungslosigkeit verschwanden. Selbst die erstarkte Arbeiter_innenbewegung, die es sich offiziell auf die Fahne geschrieben hatte, das Menschenrecht zu erkämpfen, konnte den Negativtrend nicht stoppen und die Schere zwischen Sein und Sollen, zwischen Wirklichkeit und gutem Recht, öffnete sich immer weiter. Die sich ergebenden Spielräume wussten die Nazis geschickt für ihre menschenverachtende Politik zu nutzen, die auf die Entmenschlichung all jener zielte, die nicht in ihr rassistisches Weltbild passten. Letzten Endes konnten die wenigen, die den Mut aufbrachten, Widerstand gegen die nationalsozialistische Barbarei zu leisten – wie der demokratische Sozialist Fritz Bauer, der sich in der Republikschutzorganisation Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold engagierte und nach KZ-Haft 1936 nach Dänemark emigrierte -, den quasiindustriell durchgeführten Massenmord von Millionen Menschen nicht verhindern.

Abb. 4

Nach der Befreiung vom nationalsozialistischen Unrechtsregime kamen die neugegründeten Vereinten Nationen zu der wegweisenden Erkenntnis, dass die Nichtanerkennung und die Verachtung der Menschenrechte als entscheidende Voraussetzung der Gräueltaten anzusehen sind. Die forcierte Suche nach dem Recht schlug sich schließlich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 nieder, die die angeborene Würde und die gleichen unveräußerlichen Rechte von allen Mitgliedern der Gemeinschaft bedingungslos anerkannte. In der Folge bildete sie die Grundlage für zahlreiche Menschenrechtsdeklarationen und verhalf der Menschenrechtsidee weltweit zum Durchbruch. Ebenso wie in der Amerikanischen und Französischen Erklärung findet sich auch in ihr der Widerstandsgedanke, wenn es heißt, dass die Menschenrechte durch die „Herrschaft des Rechts“ geschützt werden müssen, „damit der Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu greifen“. (Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte).

Die Suche nach dem Recht blitzt jedoch nicht nur in der Erarbeitung und Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf, sondern auch in den gleichzeitig stattfindenden Nürnberger Prozessen, in denen einige der Hauptverantwortlichen des Nazi-Regimes für ihre „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zur Verantwortung gezogen wurden. Zur Suche nach dem Recht gehört eben auch die Auseinandersetzung mit dem Unrecht. Im Bewusstsein dieses Zusammenhangs war es Generalstaatsanwalt Fritz Bauers Anliegen, einen Beitrag zur „Bewältigung der Vergangenheit“ zu leisten, was für ihn hieß: „Gerichtstag halten über uns selbst, Gerichtstag über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt alles, was hier inhuman war, woraus sich zugleich ein Bekenntnis zu wahrhaft menschlichen Werten in Vergangenheit und Gegenwart ergibt.“ [32] Genau dieser Aufgabe dienten die „Euthanasie“-Prozesse, die Auschwitz-Prozesse und der Remer-Prozess, mit dem es Fritz Bauer gelang, die „Männer des 20. Juli“, die ein Attentat auf Hitler geplant und durchgeführt hatten, zu rehabilitieren. [34]

Der Kampf um des Menschen Rechte ist immer noch notwendig

Mit der Auseinandersetzung des vergangenen Unrechts und der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte löste sich der Widerspruch zwischen Sein und Sollen freilich nicht auf: „Wer sich theoretisch oder praktisch mit Menschenrechten auseinandersetzt, wird häufig um eine enttäuschende Erkenntnis nicht umhin können: Menschenrechte werden in der Realität nicht umgesetzt oder massiv verletzt.“ [35]

Traurige Beispiele hierfür sind der Genozid in Ruanda, das Massaker von Srebrenica und die Toten im Mittelmeer. Ganz zu schweigen von den Millionen Hungernden und Ausgebeuteten, denen eine menschenwürdige Existenz bis heute verwehrt wird. Vor dem Hintergrund des weltweiten Unrechts wird deutlich, dass Widerstand, der im Sinne von Fritz Bauer auf die Verwirklichung der eigenen und fremden Menschenrechte zielt, nach wie vor notwendig und geboten ist. Widerstand meint also nicht nur etwas, was frühereinmal war oder lediglich bei anderen aktuell ist, sondern etwas, was uns alle im Hier und Heute betrifft. [36]

„Wir können aus der Erde keinen Himmel machen, aber jeder von uns kann etwas tun, daß sie nicht zur Hölle wird.“ [36] Die Suche nach dem Recht ist noch lange nicht zu Ende und der Kampf um des Menschen Rechte muss weitergehen.

Abb.: Bild 1: Fritz Bauer, © Autor unbekannt, /Politisches Archiv, Friedrich Ebert Stiftung – Bild 2: Sachsenspiegel, © (Gemeinfrei)  – Bild 3: Declaration of Independence, © (Gemeinfrei) – Bild 4: Eleanor Rossevelt, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, © Autor unbekannt / Public domain.

 

Autor: Stefan Schuster (Pädagoge)
Kontakt: stefan.schuster@buxus-stiftung.de

 

Literaturverzeichnis  

Bauer, Fritz (1965): Widerstand gegen die Staatsgewalt. Dokumente der Jahrtausende. Frankfurt am Main & Hamburg: Fischer Verlag.

Bauer, Fritz (1965a): Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsgesellschaft.

Bauer, Fritz (1966): Auf der Suche nach dem Recht. Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung.

Bauer, Fritz (2018): “Im Kampf um des Menschen Rechte”. In: Foljanty, Lena & Johst, David (Hg.): Fritz Bauer. Kleine Schriften (1921-1961). Bd. 1. Frankfurt am Main & New York: Campus Verlag. S. 446-456.

Bauer, Fritz (2018a): “Wurzeln nazistischen Denkens und Handelns”. In: Foljanty, Lena & Johst, David (Hg.): Fritz Bauer. Kleine Schriften (1921-1961). Bd. 1. Frankfurt am Main & New York: Campus Verlag. S. 664-682.

Bauer, Fritz (2018b): “Das Widerstandrecht in unserer Geschichte”. In: Foljanty, Lena & Johst, David (Hg.): Fritz Bauer. Kleine Schriften (1962-1969). Bd. 2. Frankfurt am Main & New York: Campus Verlag. S. 1123-1139.

Bauer, Fritz (2018c): “Das Widerstandrecht des kleinen Mannes”. In: Foljanty, Lena & Johst, David (Hg.): Fritz Bauer. Kleine Schriften (1962-1969). Bd. 2. Frankfurt am Main & New York: Campus Verlag. S. 882-888.

Bauer, Fritz (2018d): “Widerstandsrecht und Widerstandspflicht des Staatsbürgers”. In: Foljanty, Lena & Johst, David (Hg.): Fritz Bauer. Kleine Schriften (1962-1969). Bd. 2. Frankfurt am Main & New York: Campus Verlag. S. 974-993.

Bauer, Fritz (2018e): “Die Widerstandsidee in Vergangenheit und Gegenwart”. In: Foljanty, Lena & Johst, David (Hg.): Fritz Bauer. Kleine Schriften (1962-1969). Bd. 2. Frankfurt am Main & New York: Campus Verlag. S. 1363-1371.

Bauer, Fritz (2018 f): “Im Mainzer Kultusministerium gibt es ein merkwürdiges Geschichtsbild. Des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer Entgegnung auf Vorwürfe des rheinland-pfälzischen Ministers Orth”. In: Foljanty, Lena & Johst, David (Hg.): Fritz Bauer. Kleine Schriften (1962-1969). Bd. 2. Frankfurt am Main & New York: Campus Verlag. S. 904-908.

Beard, John & L’ouverture, Toussaint (2007): Toussaint L’ouverture. A Biography and Autobiography. New York: Cosimo. 

Behringer, Wolfgang (2012): Kulturgeschichte des Sports. Vom antiken Olympia bis ins 21. Jahrhundert. München: C.H.Beck.

Bielefeldt, Heiner (2008): “Menschenrechtlicher Universalismus ohne eurozentristische Verkürzung”. In: Nooke, Günter; Lohmann, Georg & Wahlers, Gerhard (Hrsg.): Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen. Freiburg, Basel & Wien: Herder Verlag. S. 98-141.

Blättler, Sidonia (2012): “Olympe de Gouge”. In: Pollmann & Lohmann (Hrsg.): Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler. S. 63-67.

Bloch, Ernst (1972): “Widerstand und Friede (1968).” In: Kaufman, Arthur (Hrsg.): Widerstandsrecht. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. S. 548-559.

Bloch, Ernst (1975): Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Bloch, Ernst (1985): Thomas Münzer als Theologe der Revolution. Frankfurt am Main: Suhrkamp-Verlag.

Brunkhorst, Hauke (2012): “Die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Virginia Declaration of Rights von 1776”. In: Pollmann & Lohmann (Hrsg.): Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler. S. 91-98.

Brunkhorst, Hauke (2012a): “Die Französische Revolution und die Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789”. In: Pollmann & Lohmann (Hrsg.): Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler. S. 99-105.

Degener, Theresia (2009): “Menschenrechte und Behinderung”. In: Dederich, Markus; Jantzen Wolfgang (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Behinderung und Anerkennung. Stuttgart: Kohlhammer. S. 160-176.

Fröhlich, Claudia (2006): “Wider die Tabuisierung des Ungehorsams”. Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Frankfurt am Main & New York: Campus Verlag.

Goethe, Johann Wolfgang (1984): Götz von Berlichingen. Faust – der Tragödie erster Teil. Klagenfurt: Kaiser Verlag.

Hohnsbein, Hartwig (2010): “Thomas Müntzer & Martin Luther und der „Gemeine Mann“. Voraussetzungen, Ablauf und Nachwirkungen ihres Kampfes”. In: Erich-Mühsam-Gesellschaft e. V.: Herrschaftsfreie Gesellschaftsmodelle in Geschichte und Gegenwart und ihre Perspektiven für die Zukunft. Lübeck. S. 7-29.

Haratsch, Andreas (2012): “Die europäische Entwicklung bis 1776”. In: Pollmann & Lohmann (Hrsg.): Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler. S. 87-91.

Hobsbawm, Eric (1989): Das imperiale Zeitalter. 1875-1914. Frankfurt am Main: Fischer Verlag:

Hobsbawm, Eric (2017): Das lange 19. Jahrhundert: Europäische Revolution, Die Blütezeit des Kapital, Das Imperiale Zeitalter. Darmstadt: Theiss.

Hübner, Emi & Münch, Ursula (1999): Das politische System Großbritanniens. Eine Einführung. München: Verlag C.H.Beck.

Kaufmann, Arthur (1972): “Einleitung.” In: Kaufman, Arthur (Hrsg.): Widerstandsrecht. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. S. IX-XIV.

Kaufmann, Arthur (1991): Vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit. Aspekte des Widerstandsrechts von der antiken Tyrannis bis zum Unrechtsstaat unserer Zeit, vom leidenden Gehorsam bis zum zivilen Ungehorsam im modernen Rechtsstaat. Heidelberg: Decker & Müller.

Klingst, Martin (2018): Menschenrechte. 100 Seiten. Stuttgart: Reclam. 3. Aufl.

Linebaugh, Peter & Rediker, Marcus (2008): Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks. Berlin; Hamburg: Assoziation A.

Nguéma, Isaac (1990): “Perspektiven der Menschenrechte in Afrika. Die Wurzeln einer ständigen Herausforderung”. In: EUGRZ, 17. Jg. Heft 13/14. S. 301-305.

Müller, Gotelind (2001): China, Kropotkin und der Anarchismus. Eine Kulturbewegung im China des frühen 20. Jahrhunderts unter dem Einfluss des Westens und japanischer Vorbilder. Wiesbaden: Harrassowitz-Verlag.

National Archives (o. J.): Declaration of Independence: A Transcription. [Abruf am 30.04.2019 unter: www.archives.gov/founding-docs/declaration-transcript].

Orwell, George (2013): Animal Farm. London: Penguin Books.

Ottmann, Henning (2006): Geschichte des politischen Denkens. Die Neuzeit von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen. Stuttgart; Weimar: Verlag J. B. Metzler.

Radbruch, Gustav (1972): “Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946)”. In: Kaufman, Arthur (Hrsg.): Widerstandsrecht. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. S. 349-361.

Stadtarchiv Memmingen (o. J.): Zwölf Bauernartikel 1525. [Abruf am 24.04.2019: https://stadtarchiv.memmingen.de/quellen/vor-180203/zwoelf-bauernartikel-1525.html].

UNESCO (o. J.): Who was Toussaint-Louverture? [Abruf am 25.04.2019 unter: http://www.unesco.org/new/en/social-and-human-sciences/themes/slave-route/resistances-and-abolitions/toussaint-louverture/].

Walter, Tasia Tamara (2019): Der Staat als Sicherheitsgarant? Sicherheitsverständnisse, Sicherheitserwartungen und Sicherheitsverheißungen des Staates im Umgang mit neuen terroristischen Bedrohungslagen des 21. Jahrhunderts. Baden-Baden: Tectum Verlag.

Wojak, Irmtrud (2019): Fritz Bauer. 1903-1968. Eine Biographie. 2. Neuaufl., München: BUXUS EDITION.


Anmerkungen

[1]     Vgl. Bauer 1966, S. 11 und 14.

[2]     Bauer 2018, S. 446.

[3]     Vgl. Nguéma 1990, S. 301.

[4]     Vgl. Bauer 1965, S. 300.

[5]    Kaufmann 1991, S. 6.

[6]     „Widerstand umfasst alle Formen des gewalttätigen und nicht gewalttätigen, des aktiven und passiven Verhaltens oder wie man immer einzelne Formen bezeichnen will“ (Bauer 2018d, S. 985) .Zudem unterschied Fritz Bauer zwischen einem „totalen Widerstandsrecht“ gegenüber einem Staat, der die Menschenrechte aufgehoben hat, und einem „partiellen Widerstandsrecht“ gegenüber einem Staat, der die Menschenrechte „lediglich“ einschränkt oder verletzt (vgl. Fröhlich 2006, S. 373).

[7]     Bauer 1965, S. 301.

[8]     Zit. n. Müller 2001, S. 128.

[9]     Bei Bauer (2018e) heißt es: „Zu aktivem Widerstand gegenüber Verbrechen, also etwa zum Tyrannenmord, ist jeder berechtigt, freilich nicht verpflichtet“ (S. 1369). Dementsprechend schrieb er im Hinblick auf den nationalsozialistischen Unrechtsstaat:„Durch Notwehr und Nothilfe zugunsten der bedrohten Juden (…) usw. war jeder legitimiert, Hitler, Himmler Heydrich, Kaltenbrunner, Müller, Eichmann und die in der Hierarchie niederen Werkzeuge z. B. der ›Endlösung der Judenfrage‹ zu töten“ (Bauer 2018c, S. 885).

[10]     Vgl. Bauer 2018d, S. 985.

[11]   Zit. n. Behringer 2012, S. 64.

[12]   Zit. n. Bauer 2018e, S. 1364f.

[13]    Im Gegensatz zum aktiven Widerstand betrachtete Bauer (2018e) den passiven Widerstand gegenüber verbrecherischen Gesetzen, Befehlen und Handlungen eines Staates als die Pflicht eines jeden (vgl. S. 1369).

[14]    Diese Rechtsauffassung, die auch Fritz Bauer teilte, widerspricht dem rechtspositivistischen Imperativ „Gesetz ist Gesetz“ diametral. Siehe dazu auch die Ausführungen von Radbruch 1972 in seinem Artikel: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht.

[15]    Präzisierend heißt es bei Bauer (2018d): „Da aber Menschenrechte keinen statistischen Inhalt ein für allemal haben, umfaßt Kampf für sie nicht nur Wiederherstellung eines früheren, verlorengegangenen Status, er kann auch einem Neuland gelten, das zu erobern ist“ (S. 982).

[16]    Zit. Bauer 2018d, S. 977.

[17]    Zit. n. Bauer 2018a, S. 671.

[18]    Goethe 1984, S. 24.

[19]    Zit. n. Hübner & Münch 1999, S. 9.

[20]    Vgl. Nguéma 1990, S. 301.

[21]    Bloch 1985.

[22]    Müntzer zit. n. Hohnsbein 2010, S. 24.

[23]    Der Philosoph Ernst Bloch (1972) trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er schreibt: „Keine wirkliche Installierung der Menschenrechte ohne Ende der Ausbeutung, kein wirkliches Ende der Ausbeutung ohne Installierung der Menschenrechte“ (S. 13).

[24]   Bei Ottmann (2006) heißt es: „Die Levellers fordern eine Ausdehnung des Wahlrechts, und sie sind nach den Spanischen Spätscholastikern die ersten, die Theorien der Grund- und Menschenrechte entwickeln“ (S. 324). Die Argumente von Thomas Rainborough bei den berühmten Putney-Debatten (1647 n. u. Z.) stehen beispielhaft für die Positionen der Levellers. Dieser sprach sich gegen Sklaverei und Einhegung aus und setzte sich entschieden für die Rechte der Ärmsten ein (vgl. Linebaugh & Rediker 2008, S. 116ff.).

[25]   Mit Verweis auf Berman spricht Brunkhorst (2012a) davon, dass alle großen Revolutionen „Rechtsrevolutionen“ sind (vgl. S. 99).

[26]   Zit. n. Bauer 1965, S. 148.

[27]   Ebd.

[28]   Zit. n. Walter 2019, S. 72.

[29]   Zit. n. Blättler 2012, S. 67.

[30]   Vgl. Nguéma 1990, S. 301.

[31]   Vgl. Orwell 2013, S. 97.

[32]   Hobsbawm 2017.

[33]   Bauer 2018 f, S. 905.

[34]   Vgl. Wojak 2016, S. 230ff., 298ff. & 342ff.

[35]   Degener 2009, S. 161.

[36]   Vgl. Kaufmann 1972, S. X.

[37]   Bauer 2018, S. 456.

Zitat: Stefan Schuster, “Geschichte der Menschenrechte. Die Suche nach dem Recht”, URL: https://www.fritz-bauer-forum.de/menschenrecht/geschichte-der-menschenrechte/

Cookie-Einstellungen
Auf dieser Website werden Cookie verwendet. Diese werden für den Betrieb der Website benötigt oder helfen uns dabei, die Website zu verbessern.
Alle Cookies zulassen
Auswahl speichern
Individuelle Einstellungen
Individuelle Einstellungen
Dies ist eine Übersicht aller Cookies, die auf der Website verwendet werden. Sie haben die Möglichkeit, individuelle Cookie-Einstellungen vorzunehmen. Geben Sie einzelnen Cookies oder ganzen Gruppen Ihre Einwilligung. Essentielle Cookies lassen sich nicht deaktivieren.
Speichern
Abbrechen
Essenziell (1)
Essenzielle Cookies werden für die grundlegende Funktionalität der Website benötigt.
Cookies anzeigen
Statistik (1)
Statistik Cookies tracken den Nutzer und das dazugehörige Surfverhalten um die Nutzererfahrung zu verbessern.
Cookies anzeigen