Die erste Wahrheitskommission in El Salvador

„Vom Wahnsinn zur Hoffnung“

Die zentralamerikanischen Bürgerkriege des 20. Jahrhunderts, die Konflikte in Guatemala, El Salvador und Nicaragua, können hinsichtlich ihrer globalen Einbettung in den Ost-Westkonflikt nicht getrennt voneinander gesehen werden. Ebenso zeigen die internen konfliktauslösenden Faktoren ähnliche Struktur: Ausgangspunkt war jeweils eine sich zuspitzende prekäre ökonomisch-soziale Situation einer vorwiegend bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit, während einige wenige Familien annähernd das gesamte fruchtbare Land kontrollierten und autoritäre Regime stützten, die Reformbestrebungen bereits im Ansatz mit Repression und Gewalt begegneten und jedwede Bestrebung nach politischer Partizipation der Mehrheit der Bevölkerung im Keim zu ersticken suchten.

Durch wirtschaftliche und technische Modernisierung verschlechterten sich ab den 1930er Jahren die Arbeitsmöglichkeiten im landwirtschaftlichen Bereich, der Existenzgrundlage der Bevölkerungsmehrheit, weiter, ohne dass wirtschaftliche Alternativen für die Landbevölkerung entwickelt wurden. Die traditionellen Herrschaftseliten reagierten mit Verschärfung der Repressionspolitik.[1]

Während eine Verschränkung aus ökonomischer und politischer Polarisierung jeweils den Ausgangspunkt für die Bürgerkriege in Guatemala, El Salvador und Nicaragua bildete und diese Konflikte parallel im ‚Kalten Krieg‘ instrumentalisiert wurden, formten sich die jeweiligen Auseinandersetzungen in ihrem Verlauf sehr unterschiedlich aus.

Entwicklungslinien

Nachdem El Slavador 1821 seine Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialmacht erlangt hatte, setzte sich mit einer Ausweitung des Kaffeeanbaus die Tendenz fort, Großgrundbesitz in den Händen einiger weniger zu konzentrieren. 1882 wurde per Gesetz der Rest indigenen Gemeindeslandes enteignet, am Übergang zum 20. Jahrhundert befanden sich bereits 90 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen im Besitz von 0.01 Prozent der Gesamtbevölkerung.[2]

Die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre brachte auch die Ökonomie des kleinen Landes, die stets in starker Abhängigkeit der US-amerikanischen Wirtschaft stand und immer noch steht, in starke Turbulenzen. In dieser Phase der Instabilität erlangte General Maximiliano Hernández Martínez 1931 durch einen Staatsstreich die Macht und leitete eine bis 1979 ununterbrochene Serie von Militärdiktaturen ein.[3]

Eine Erhebung im Januar 1932, angeführt von Augustín Farabundo Martí, Anführer der unlängst gegründeten Kommunistischen Partei El Salvadors, wurde rasch niedergeschlagen. Mindestens 10 000 tatsächliche und vermeintliche Aufständische wurden in der Folge ermordet. Die brutale Unterdrückung des Aufstandes, als ‚matanza‘ (Gemetzel) in die nationale Erinnerung eingegangen, ging Hand in Hand mit einem Akt des Völkermordes: Die ‚matanza‘ markiert zugleich das Ende indigenen Lebens in El Salvador. Jedwede linksgerichtete oder sozialreformorientierte Bewegung wurde für über 40 Jahre marginalisiert.

Martínez, bekannt für sein Interesse an Okkultem und sein Bestreben, den faschistischen Diktatoren Europas nachzueifern, musste 1948 resignieren, als ein Generalstreik das Land lahmlegte. Eine grundlegende Änderung der Repressionspolitik unter den folgenden Militärdiktaturen stellte sich jedoch nicht ein.

In den 1970er Jahren formierten sich indes zunehmend Organisationen von Landarbeitern, sozialer Protest äußerte sich trotz anhaltender Unterdrückung und zunehmender Menschenrechtsverletzungen verstärkt in Streiks und Demonstrationen.

Die Lage spitzte sich zu, als im Oktober 1979 die ‚Junta Revolucionaria de Gobierno‘die Macht übernahm. War die Junta zu Beginn auch mit Zivilisten und gemäßigten Militärs besetzt, die eine Agrarreform befürworteten, wurde diese ‚Fraktion‘ alsbald zurückgedrängt. Die Junta, die sich nunmehr ausschließlich aus Kaffee-Oligarchie und Wirtschaftsführern nahestehenden Militärs zusammensetzte, beantwortete die sozialen Proteste mit Terror, während verschiedene Guerilla-Organisationen im Land aktiv zu werden begannen.[4] Bereits vor der Machtübernahme der Junta waren Todesschwadronen (escuadrones de la muerte) eingesetzt worden, um den Status quo der herrschenden Elite zu sichern, wodurch die Formierung bewaffneter Guerillagruppen befördert wurde. Unter der neuen Militärjunta gingen sie nun mit äußerster Brutalität gegen jede Form von Opposition und oftmals auch gegen Unbeteiligte vor. Es bedurfte nur noch eines Anlasses, über den die letzte Stufe in der Eskalationsspirale zum Bürgerkrieg überschritten werden sollte.

Bürgerkrieg (1980-1991)

Die Ermordung Óscar Romeros, des Erzbischofs von El Salvador war diese entscheidende Zäsur. Der international bekannte Befreiungstheologe, der sich in Opposition zur Militärdiktatur für soziale Gerechtigkeit und politische Reformen eingesetzt hatte[5], wurde am 24. März 1980 durch Todesschwadronen während eines von ihm zelebrierten Gottesdienstes erschossen. Die Ermordung des Erzbischofs, der 2015 von Papst Franziskus seliggesprochen wurde, ist exemplarisch für das Vorgehen der paramilitärischen Einheiten, Integrationsfiguren der Opposition auszuschalten, Stimmen, die die oligarchische Ordnung und die repressiven Maßnahmen zu ihrer Aufrechterhaltung kritisieren, zum Schweigen zu bringen. Romero hatte zunehmend das finanzielle und militärische Engagement der Reagan-Administration zu Gunsten der salvadorianischen Junta angeprangert, sich jedoch stets für eine friedliche Umgestaltung der sozialen und politischen Strukturen seiner Heimat eingesetzt.[6] Nicht zuletzt über Romero spielte der an befreiungstheologischer Christologie orientierte Teil der katholischen Kirche El Salvadors eine wesentlich bedeutendere Rolle im innerstaatlichen Konflikt als in den Nachbarstaaten. Der Erzbischof, wortgewaltiger Kritiker der herrschenden sozialen Verhältnisse und Ankläger der Führungsschicht des Landes, war nach einer politischen, theologischen und geistigen Kehrtwende innerhalb weniger Jahre zur Integrationsfigur der oppositionellen Bewegung geworden und hatte sich sehr zum Missfallen des Regimes große internationale Anerkennung erworben.

Der fast 12 Jahre dauernde Bürgerkrieg in El Salvador, einer der grausamsten in der Geschichte Lateinamerikas ist die Konsequenz aus zahlreichen gescheiterten Versuchen des salvadorianischen Volkes seit der Unabhängigkeit des Landes, sich gegen die politische und soziale Ausgrenzung durch eine dünne Schicht einer Land und Ressourcen besitzenden Oligarchie zu wehren. Die Bauernaufstände des zwanzigsten Jahrhunderts, die Bemühungen der Gewerkschaftsbewegung um Verbesserung der sozialen Verhältnisse, aber auch um politische Partizipation, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, waren stets mit Repression und in wachsendem Maße mit exzessiver Gewalt gegen jede Form von Opposition beantwortet worden. Vor allem der zunehmende Einsatz der Todesschwadronen forcierte schließlich die die Bewaffnung der oppositionellen Gruppierungen und förderte deren Zusammenschluss. Die Guerilla Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional (FMLN), benannt nach dem erwähnten ersten Führer der Kommunistischen Partei El Salvadors und somit auch mit Bezug auf das Massaker von 1932, setzte sich denn auch aus Christen, Gewerkschaftern und Kommunisten zusammen.

Mindestens 75 000 Menschen kamen im Verlauf des Krieges ums Leben, viele von ihnen durch extralegale Hinrichtungen, Massaker durch die Todesschwadronen, das ‚Verschwindenlassen‘ von Menschen, durch Entführung und Folter. Ca. 1,2 Millionen Menschen, vor allem aus dem ländlichen Raum, wurden zu Binnenflüchtlingen oder flohen ins Ausland.[7] Diese Zahlen sind vor dem Hintergrund zu betrachten, dass El Salvador, an Fläche etwa so groß wie Hessen, 1981 lediglich ca. 4,6 Millionen Einwohner hatte. Die Kriegsparteien betrachteten die Bevölkerung der von der jeweiligen Gegenseite kontrollierten Gebiete als Feinde, zumal die Zivilbevölkerung von beiden Seiten gezwungen worden war, Unterstützungsdienste zu leisten. Gemäß dem in den 1980er Jahren in El Salvador oftmals zu hörenden Prinzip ‚Wer nicht für uns ist, ist unser Feind‘ wurde Neutralität ignoriert, wurden Morde an (auch ausländischen) Journalisten und Priestern gerechtfertigt, Morde an Zivilsten als ‚normale‘ Kriegshandlungen gewertet. Die Morde der Todesschwadronen wurden seitens des Regimes der gleichen Kategorie zugeordnet.[8]

Militärhilfe im “Kalten Krieg”

Nach der sandinistischen Revolution in Nicaragua setzten die USA verstärkt auf eine Politik militärischer Eindämmung kommunistischer Kräfte in ihrem ‚Hinterhof‘. Präsident Carter war entschlossen, die Etablierung einer weiteren linksrevolutionären Regierung in Zentralamerika nicht zuzulassen. Zunächst setzte die US-Administration auf soziale Reformen unter Ausschluss kommunistischer Kräfte, was jedoch auf Grund des Einflusses, den diese inzwischen in El Salvador erlangt hatten sowie der mangelnden Reformbereitschaft und der zunehmenden Menschenrechtsverletzungen seitens der Junta scheiterte. Dennoch setzte Carter mit der Begründung, die linke salvadorianische Guerilla erhalte Waffenlieferungen aus der Sowjetunion und Kuba, Militärhilfe für das Regime gegen Widerstände innerhalb der Regierung auf Grund der anhaltenden prekären Menschenrechtslage in El Salvador durch.[9]

Massive Ausweitung erfuhr die Wirtschafts- und Militärhilfe durch die USA während der Präsidentschaft Ronald Reagans, dessen Administration von Anfang an auf eine militärische Zerschlagung der revolutionären Linken setzte.[10] Zwischen 1980 und 1984 stieg die Militärhilfe der USA von nominal 5,9 auf 196,6 Millionen US-$, also um mehr als das 30-fache, um in der Folge, vor allem nach Ende des Systemkonflikts, bis 1993 auf 11,3 Millionen US-$ zurückgeführt zu werden. Die USA weiteten in den 1980er Jahren auch die Wirtschaftshilfe für das Land massiv aus.[11] In den 1980er Jahren war El Salvador ökonomisch zeitweise gänzlich von Washington abhängig. Zwar konnte das Militär über diese Abhängigkeit zu einigen Zugeständnissen gedrängt werden, sich einer Zivilregierung zu unterstellen waren die Generäle indes nicht bereit und zu Humanitätsverbrechen kam es nach wie vor. Da die USA bis zum Ende der Ost-West-Polarisierung an ihrer Strategie, die Guerilla militärisch zu zerschlagen festhielten, blieb der Reformdruck auf das Regime weitgehend ohne Wirkung. Auf Grund der militärischen Zielsetzung der USA und der steigenden Militärhilfe mangelte es den Reformforderungen Washingtons zudem an Glaubwürdigkeit.

1989 begannen Friedensverhandlungen zwischen den Rebellen und der salvadorianischen Militärregierung, zumal abzusehen war, dass nach Beendigung der jeweiligen militärischen, logistischen und finanziellen Unterstützung keine der Konfliktparteien in der Lage sein würde, einen militärischen Sieg zu erringen. Das Regime und die FMLN unterzeichneten bis 1992 unter der Schirmherrschaft der UN sowie in Kooperation mit den Regierungen Spaniens, Mexikos, Venezuelas und Kolumbiens eine Reihe von Einzelabkommen zu einer Militär- und Polizeireform, zu Änderungen im Rechts- und Wahlsystem, aber auch über die Anerkennung der Menschenrechte. Gültigkeit erlangten die Teilvereinbarungen schließlich am 16. Januar 1992 mit der Unterzeichnung der “Acuerdos de Chapultepec” (Abkommen von Chapultepec) in Mexiko.[12]

“De la Locura a la Esperanza” – Wahrheitskommission

Die Aufarbeitung von Vergangenheit ist ein generationenübergreifender Prozess, der in Zentralamerika erst am Anfang steht. Die Einrichtung einer Wahrheitskommission ist ein wesentlicher Mosaikstein im vielschichtigen Prozess Richtung Frieden und nationaler Aussöhnung, sie ist die Entscheidung, durch Tatsachendokumentation durch eine offiziell legitimierte, von den Konfliktparteien anerkannte, unabhängige Instanz eine Grundlage für eine nachfolgende politische, gesellschaftliche und justizielle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu schaffen. Die recherchierten und dokumentierten, von keiner Seite mehr zu leugnenden Fakten stellen überdies eine Basis für eine offizielle Anerkennung der an den Opfern befangenen Verbrechen dar.[13] Dies ist eine grundlegende Ausgangsbasis für eine (Wieder-) Herstellung von Rechtsfrieden in einer Gesellschaft – sofern denn in der Folge eine Aburteilung der Taten durch eine (in rechtsstaatlichem Sinne reformierte) Justiz stattfindet. Letzteres ist in El Salvador allerdings bis heute nicht geschehen.

El Salvador ist das erste zentralamerikanische Land, in dem eine Wahrheitskommission eingesetzt wurde. Anders als wenige Jahre später in Guatemala kamen wesentliche Impulse zu ihrer Etablierung nicht aus der Gesellschaft, von Menschenrechts- oder Opfergruppierungen, vielmehr gingen Friedensschluss und Einsetzung einer Wahrheitskommission auf äußere Faktoren zurück. Für beide Seiten war der Krieg nicht zu gewinnen, er war auch nicht mehr finanzierbar, nachdem der Konflikt mit Beendigung des ‚Kalten Krieges‘ für die USA an Relevanz verloren, die Großmacht ihre umfangreiche militärische und finanzielle Unterstützung zurückgefahren hatte und die Unterstützung für die Rebellen seitens Kubas und der Sowjetunion entfallen war.[14]

Die Einsetzung einer Wahrheitskommission wurde bereits im Rahmen mehrerer Teilabkommen beschlossen, den ,Acuerdos de México‘ (Abkommen von Mexiko), die am 27. April 1991 in Mexiko-Stadt von der Regierung El Salvadors und der FMLN unterzeichnet wurden. Diese Vereinbarung wurde schließlich in den Friedensvertrag (Acuerdo de Chapultepec) übernommen.[15]

Die Kommission stand unter der Schirmherrschaft der UN; die Vereinten Nationen hatten sowohl die Friedensverhandlungen begleitet sowie jedes Teilabkommen unterzeichnet und waren beauftragt, die Einhaltung des Friedensabkommens zu überwachen. Die Wahrheitskommission wurde mit internationalen Mitteln ausgestattet und arbeitete auch mit internationaler Besetzung. Wurde eine entsprechende Kommission in Guatemala knapp fünf Jahre später mit dem deutschen Völkerrechtler Christian Tomuschat und zwei allseits geachteten, angesehenen guatemaltekischen Mitbürgern besetzt, darunter Otilia Lux de Cotí, die als Frau und Maya gleichsam zwei Gruppierungen repräsentierte, die im Bürgerkrieg am stärksten gelitten hatten, bestand die Kommission El Salvadors aus drei vom UN-Generalsekretär designierten ausländischen Mitgliedern – die Konfliktsituation war so verfahren, dass die Besetzung der Kommission mit Bürgern El Salvadors unmöglich war.[16]

Anders als in Guatemala, wo die Kommission eine umfassende Untersuchung zum Kriegsgeschehen durchführte und eine Dokumentation des Gesamtzusammenhanges des Bürgerkrieges und zur institutionellen Verantwortung von Kriegsverbrechen erstellte, war das Mandat für die salvadorianische Wahrheitskommission enger fokussiert. Diese war gemäß den ‚Acuerdos de México‘ beauftragt, so die Kommission in ihrem Abschlussbericht „De la Locura a la Esperanza“, ihre Untersuchung auf „schwere Gewalttaten“ einzugrenzen, die nach 1980 begangen worden waren und solch gravierende Auswirkungen auf die Gesellschaft hatten, dass öffentliche Kenntnis der Wahrheit für einen nationalen Versöhnungsprozess unerlässlich sei.[17]

Diese vage gehaltene Formulierung bewog die Kommission dazu, internationales Recht zugrunde zu legen, obgleich der FMLN nicht der Status eines Staates zukam. Da die Guerilla aber Gebiete unter ihrer Kontrolle gehabt und über diese gleichsam Regierungsgewalt ausgeübt hatte, wurde die Einhaltung elementarer Menschenrechte in diesen Gebieten zum Maßstab erhoben. Der postulierten Fokussierung auf “schwere Gewalttaten” entsprach die Kommission durch eine Eingrenzung auf Verbrechen in Zusammenhang mit unantastbaren Rechten, insbesondere dem Recht auf Leben und körperliche Integrität.

Die Wahrheitskommission untersuchte in diesem Kontext extralegale Hinrichtungen, von Todesschwadronen begangene Massaker und Morde sowie das von beiden Bürgerkriegsparteien praktizierte ‚Verschwindenlassen‘ von Menschen. Aufgabe der Kommission war es überdies, Empfehlungen für die juristische, politische und administrative Ebene zur Stabilisierung des folgenden Friedensprozesses auszuarbeiten.[18]

Etwa 25 000 Fälle von Menschenrechtsverletzungen wurden zu Protokoll genommen. 96,5 Prozent der Humanitätsverbrechen wurden Angehörigen des Militärs, der Polizei oder den Todesschwadronen zugerechnet, 3,5 Prozent den Mitgliedern der FMLN – ein den guatemaltekischen Ergebnissen vergleichbares Verhältnis.

40 Fälle wurden zur Darstellung im Abschlussbericht exemplarisch ausgewählt, die repräsentativ für die Muster, die üblichen Vorgehensweisen bei der Begehung von Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen stehen können. Unter diesen Fällen finden neben der Ermordung Erzbischof Romeros unter anderem die außergerichtlichen Hinrichtungen von Oppositionsführern, US-Amerikanischer Kirchenaktivistinnen, holländischer Journalisten, die Hinrichtung einer Krankenschwester im Rahmen eines Angriffs auf ein Krankenhaus der FMLN Erwähnung. Des Weiteren werden vier von Seiten der Junta begangene Massaker, einige Morde der Todesschwadronen, sieben Hinrichtungen von Bürgermeistern sowie zwei Entführungen durch die FMLN exemplarisch dokumentiert.[19] Eine profunde Analyse der Gesamtzusammenhänge des Krieges, wie sie in durch die Wahrheitskommission in Guatemala durchgeführt werden sollte, erstellten die salvadorianische Kommission nicht. Eine solche Analyse war nicht Gegenstand ihres Mandats.

Vielmehr nennt der Bericht einige Prinzipien, die die Grundlage für seine konkreten Empfehlungen bilden:

Unabdingbar, so die Kommission, sei(en)

– eine Rückkehr zu demokratischen Strukturen, die fundamentalen Entscheidungen über Richtung und Zukunft der Gesellschaft müssen in der Hand des Volkes liegen, Dialog und Verhandlung die zentralen Instrumente politischen Handelns sein;

– eine gesellschaftliche und politische Partizipation der Minderheiten auf der Basis des Respekts vor Individualität, aber auch vor verschiedenen Formen menschlichen Zusammenlebens; Es komme hierbei darauf an, Solidarität und Respekt unter den Menschen zu fördern;

– zudem rechtsstaatliche Strukturen, innerhalb derer Rechtssicherheit und Respekt vor den Gesetzen die kulturelle Basis und die Garantie bilden für Freiheit, Gleichheit und die Ächtung von Willkür.

Des Weiteren fordert die Kommission die unbedingte Einhaltung der Menschenrechte als wesentliche Grundlage der Empfehlungen.

Nach Jahren der Herrschaft der Militärregime sei es für eine Konsolidierung der Prärogative zivilgesellschaftlicher Macht unabdingbar, das Militär demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen unterzuordnen und an die übergeordnete Gültigkeit der Menschenrechte und den unbedingten Respekt vor diesen zu binden.[20] Die Kommission fordert hier ein einheitliches System zum Schutz der Menschenrechte und eine starke, effiziente unabhängige Judikative. Das Fehlen einer solchen während der Militärdiktaturen habe die systematischen schweren Menschenrechtsverletzungen erst ermöglicht. Im Besonderen kritisiert der Bericht die starke Konzentration der Kompetenzen beim Obersten Gerichtshof des Landes und dem Präsidenten als weisungsgebender Instanz des Gerichts. Diese Konzentration unterminiere die Unabhängigkeit untergeordneter Gerichte und des gesamten Justizsystems. Dies sei auf Verfassungsebene zu ändern. Überdies solle der Oberste Gerichtshof nicht länger für Ernennung und Entlassung von Richtern zuständig sein, dies solle künftig einer nationalen Versammlung der Judikative vorbehalten sein. Allein dieser Versammlung gegenüber solle jeder Richter künftig verantwortlich sein. Die Kommission fordert weiterhin eine Überprüfung aller Richter bezüglich ihrer Rolle während des Bürgerkrieges und gegebenenfalls ihre Entlassung vor. Die Kommission bittet um Hilfe der Europäischen Union für den Umbau der Judikative – eine juristische Aufarbeitung durch den zur Zeit der Abfassung des Berichts bestehenden Justizapparat empfiehlt die Kommission nicht.[21]

Benjamin Cuellar, Direktor des Menschenrechtsinstituts der Zentralamerikanischen Universität und Mitglied einer der Organisationen, die von den Vereinten Nationen im Zuge der Abfassung des Berichts konsultiert wurden, beurteilt diesen positiv:

„Wir hatten große Erwartungen und es war ein guter Bericht. Trotz der Tatsache, dass er, aufgrund von logistischen Problemen, nicht alle Fälle enthielt, dokumentierte der Bericht das, was passiert war, die Verschwundenen, die außergerichtlichen Hinrichtungen, Massaker und Folter,“ sagte er. „Aber die wichtigsten Empfehlungen in Bezug auf die nationale Versöhnung und die Anerkennung der materiellen und moralischen Entschädigung wurden nie erfüllt. Es gab allgemeine Entschuldigungen, aber sonst nichts. […] “ Es gebe, so Cuellar, in „El Salvador keine Gerechtigkeit, weil der politische Wille fehlt […].“ El Salvador sei ein Denkmal „der Straflosigkeit.“[22]

Denn im März 1993, fünf Tage nach Veröffentlichung des Kommissionsberichts, erließ die salvadorianische Regierung eine Generalamnestie für alle im Verlauf des Bürgerkriegs begangene Verbrechen. Da knapp 96 Prozent der Humanitätsverbrechen von Armeeangehörigen oder Todesschwadronen verübt worden waren, waren diese auch die Hauptbegünstigten des Gesetzes, das erst mehr als 30 Jahre später, am 13.07.2016, durch die Verfassungskammer des Obersten Gerichts El Salvadors für verfassungswidrig erklärt wurde.[23]

Der belastete Frieden

Die zentralen Konfliktpotenziale wurden durch den Friedensvertrag nicht gelöst. Zwar war es keiner Konfliktpartei gelungen, einen militärischen Sieg zu erringen; im Umkehrschluss bedeutete dies freilich, dass beide Seiten sich nun darauf beriefen, den Krieg nicht verloren zu haben. Sowohl die rechts-konservative, nationalistische, den traditionellen Eliten verbundene Partei ARENA, die 1981 als politischer Aktionsausschuss des Regimes gegründet worden war[24], als auch die FMLN, führten den in Mexiko gefundenen Konsens nun auf ihre jeweilige Kompromissbereitschaft zurück, zogen sich auf ihre unvereinbaren Positionen zurück und versuchten, von diesen zu retten, was zu retten war.

Etwa neunzig Prozent der 174 Einzelpunkte des Friedensvertrages von Chapultepec betreffen die Armee. Nach Jahrzehnten der Militärdiktatur ist entscheidend, dass die Armee keine über dem Staat stehende „Suprainstitution“ war, sondern der Zivilherrschaft unterstellt wurde. Sie war von nun an nur noch für die Landesverteidigung zuständig. Äußere und innere Sicherheit wurden erstmals getrennt.

Die Armee hatte sich entgegen den Vorstellungen des FMLN, der sie ganz abschaffen wollte, durchgesetzt und sich als permanente Institution im Staat behauptet, musste aber Federn lassen: Die Truppenstärke wurde nahezu halbiert, die Zahl der Militärangehörigen wurde von einstmals über 63 000 auf 31 500 reduziert, Spezialeinheiten aufgelöst.[25] Nach einer Umstrukturierung wurden 87 hohe Offiziere, die sich der Humanitätsverbrechen schuldig gemacht hatten, teils nach erheblichem internationalen und vor allem US-amerikanischem Druck, entlassen. Auf Grund der Generalamnestie blieben sie indes von Strafverfolgung verschont.[26] Im Gegenzug übergab der FMLN einen Großteil der Waffen und löste seine militärischen Strukturen auf, wohl wissend, dass er in einer äußerst fragilen Situation seine Verhandlungsposition entscheidend schwächte. Gerade die Beseitigung oder Abschwächung der Verteilungsungleichheit, die Durchsetzung einer Agrarreform waren zentrale Anliegen und Beweggründe für die Auseinandersetzung mit der Oligarchie und dem Militär gewesen und waren, obwohl von breiten Bevölkerungskreisen nun erwartet, nun umso schwerer zu realisieren, zumal diese kritischen Punkte in den Friedensverhandlungen vorsorglich ausgeklammert und im Vertrag von Chapultepec nicht erwähnt worden waren. Nachkriegsregierung und -gesellschaft befanden sich in dem Spannungsfeld zwischen oligarchischer Elite in Verbindung mit dem Militär, die sich einer Demilitarisierung nach Kräften widersetzten und dem FMLN, der auf sozialstrukturelle Veränderungen drängte und als nunmehr politischer Aktionsausschuss seiner Klientel auch nicht zum status quo ante zurückkehren konnte.

Wenn es gelang, politische und gesellschaftliche Prozesse sukzessive zu demokratisieren, die Mannschaftsstärke des Militärs nahezu zu halbieren, die Armee nach Dekaden der Militärdiktatur ziviler Kontrolle zu unterstellen sowie als Machtfaktor hinsichtlich der inneren Sicherheit zurückzudrängen und zeitgleich den entwaffneten FMLN als politische Partei im Nachkriegssystem zu verankern, so ist dies neben internationalem Monitoring und der Kontrolle durch die UN auch auf die Versorgung der „Eliten“ der ehemaligen Bürgerkriegsparteien und ihre Integration in Ämter und Institutionen zurückzuführen.[27] Für konsequente Strafverfolgung waren die zivile Nachkriegsgesellschaft und die Justiz nicht stabil genug. Auch der FMLN war an einer justiziellen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf Grund von Menschenrechtsverletzungen durch eigene Funktionsträger nicht interessiert. Die Empfehlungen der Wahrheitskommission verschwanden alsbald von der politischen Agenda.[28] Als greifbares Ergebnis der Kommissionsarbeit bleibt schließlich die Verkleinerung des Militärs und seine Unterstellung unter zivile Kontrolle.

Die großen sozialen Unterschiede in der salvadorianischen Gesellschaft bestehen fort. Zwar konnten Kindersterblichkeit und das Ausmaß der Armut seit Beginn der 1990er Jahre reduziert werden, dennoch mangelt es vor allem im ländlichen Raum weiten Teilen der Bevölkerung an medizinischer Versorgung sowie Zugang zu sauberem Trinkwasser. Auch das Problem der ungleichen Landverteilung zugunsten weniger Großgrundbesitzer ist nach wie vor ebenso wenig nicht gelöst wie das der steigenden Gewaltkriminalität.[29]

Nachdem 2016 das Amnestiegesetz von 1993 für verfassungswidrig erklärt worden war, besteht ein Funke Hoffnung auf späte Gerechtigkeit.

Anmerkungen

[1] Ausführlich Sabine Kurtenbach, „Ende gut, alles gut? Vom Krieg zum Frieden in Zentralamerika“, in: Dies. u. a. (Hrsg.), Zentralamerika heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt/M. 2008, S. 253-278, hier S. 255.

[2] Vgl. Goruma, nformationen zu den Themen “Länder, Städte, Reisen, Kultur, Religionen, Bildung, Wissenschaft und Lehre”, Beitrag über El Salvador, (zuletzt abgefragt am 04.10.2018).

[3] Vgl. “El Salvador – Military Dictatorships”, in: Britannica ( zuletzt abgefragt am 04.10.2018).

[4] So wurden 1975 mindestens 12 Studenten bei einem friedlichen Protest erschossen. https://www.britannica.com/place/El-Salvador/Military-dictatorships#ref468011.

[5] Vgl. James R. Brockman, Oscar Romero, Anwalt der Armen. Eine Biografie. Kevelaer 2015; Martin Maier, Oscar Romero, Prophet einer Kirche der Armen. Freiburg/Br. 2015 mit weiterführender Literatur zu Befreiungstheologie und Romero.

[6] Vgl. hierzu Jesús Delgado (Hrsg.), Oscar A. Romero. Nicht schweigen: Vom Handlanger der Macht zum Anwalt der Armen. Stuttgart 2015.

[7] Vgl. auch Katya Salazar, „Die Wahrheitskommissionen in Argentinien, El Salvador und Guatemala“, S. 10. Andere Schätzungen (siehe Amerika 21, 2016) gehen von bis zu 83.000 Toten aus (zuletzt abgefragt am 04.10.2018).

[8] So der Abschlussbericht der Kommission De la locura a la esperanza, hier zusammengefasst nach der englischen Übersetzung des United States Institute of Peace (zuletzt abgefragt am 04.20.2018).

[9] Michael Krennerich, Wahlen und Antiregimekriege in Zentralamerika. Wiesbaden 1996, S. 294.

[10] Ebd. S. 295.

[11] Statistical Abstracts of Latin America, vol 28, 1990, zit. n. ebd., S. 296. Die Wirtschaftshilfe stieg zwischen 1980 und 1985 ebenso von 58,4 Mio. auf 433,9 Mio. US-$ an sank bis 1993 wiederum auf 214,1 Mio. US-$ ab. Zit. n. Krennerich, Wahlen und Antiregimekriege, ebd.

[12] Der Text: „Acuerdo de Paz (firmado en Chapultepc)“, in: Naciones Unidas (Hrsg.), Acuerdos de El Salvador. En el camino de Paz. New York 1992.

[13] Ein „Recht auf Wahrheit“ postuliert Frank La Rue, „The Right to truth in Central America“, in: Rafael Sieder (Hrsg.), Impunity in Latin America. London 1995, S. 71, das in Abgrenzung zum Recht auf Gerechtigkeit eng mit Rede-, Gedanken- und Pressefreiheit verknüpft sei. Die Kenntnis der ‚Wahrheit‘ sei zudem notwendig zur psychologischen Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen – sowohl bei Tätern, als auch bei Opfern.

[14] Logistische, ideologische, aber auch finanzielle und militärische Hilfe seitens der Sowjetunion und Kubas über Nicaragua fand statt, aber wohl in geringerem Umfang, als von der US-Administration angenommen bzw. behauptet. Vgl. Krennerich, Wahlen und Antiregimekriege, S. 295f.

[15] Ausführlich hierzu Salazar, „Wahrheitskommissionen“, S. 10.

[16] Ebd., S.11. Die Zusammensetzung der salvadorianischen Kommission: Belisario Betancur (ehem. Präsident Kolumbiens), Thomas Buergenthal (ehem. Präsident d. Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs), Reinaldo Figueredo (ehem. Außenminister Venezuelas); vgl. Anika Oettler, „Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Vergangenheitspolitik in Zentralamerika“, in: Sabine Kurtenbach u. a. (Hrsg.), Zentralamerika heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt/M. 2008, S. 279-298, hier S. 293 ff.

[17] (…) „tendrá a su cargo la investigación de graves hechos de violencia ocuridos desde 1980, cuyo impacto sobre la sociedad reclama con mayor urgencia el conocimiento público de la verdad.” De la Locura a la Esperanza. La guerra de 12 años en El Salvador. Informe de la comisión de la verdad para El Salvador (Bericht der Wahrheitskommission) – (engl. Übersetzung des Berichts auf der Basis von: UN Security Council, Annex, From Madness to Hope: the 12-year war in El Salvador: Report of the Commission on the Truth for El Salvador, S/25500, 1993, 5-8.) ( zuletzt abgefragt am 04.10.2018).

[18] De la Locura, ebd.

[19] Eine Auflistung der Fälle ebd., S. 41 ff.

[20] Vgl. Bericht der Wahrheitskommission, S. 187. Die nachfolgende Zusammenfassung ebd.

[21] Vgl. die engl. Übersetzung des Berichts der Wahrheitskommission, S. 170 ff.

[22] Wahrheitskommission El Salvador – (zuletzt abgefragt am 30.07.2017); vgl. auch die Webseite von Amerika21 über den Bürgerkrieg in El Salvardor.

[23] Vgl. auf der Webseite von amerika21.de/blog/2016/07/157089/menschenrechtsdiskurs (zuletzt abgefragt am 04.10.2018).

[24] Die Alianza Republicana Nacionalista (ARENA) wurde am 1981 von Roberto D’Aubuisson Arrieta gegründet, der enge Verbindungen zu den Todesschwadronen unterhielt und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit maßgebend in die Ermordung Erzbischof Romeros verwickelt war. Zynischerweise wählte man als Gründungsort Izalco, den Ort in dem das Regime 1932 das Massaker, die „mantanza“ begangen hatte. Für einen ersten Überblick der Beitrag der Bundeszentrale für politische Bildung ( zuletzt abgefragt am  04.10.2018).

[25] Vgl. Kurtenbach, Ende gut, alles gut?, S. 263 ff.

[26] Vgl. Margaret Popkin, Peace without Justice. Obstacles to Building the Rule of Law in El Salvador. Pennsylvania State Univ. Press, S. 151.

[27] Auf das prinzipielle Problem der „Elitenlastigkeit“ bei allen zentralamerikanischen Friedensabkommen hat bereits hingewiesen Kurtenbach, Ende gut, alles gut?, S. 261.

[28] Hierzu Oettler, „Zwischen Vergangenheit und Zukunft“, S. 284. Vgl. auch Heidrun Zinecker, El Salvador nach dem Bürgerkrieg: Ambivalenzen eines schwierigen Friedens. Frankfurt/M. u. a. 2004.

[29] Hierzu Sonja Wolf, Mano Dura, The Politics of Gang Control in El Salvador. Univ. of Texas-Press, 2017.

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