Rechtsstaat und Menschenrechte zwischen den Fronten des Drogenkrieges

Mexiko

Die Spirale von Gewalt und unzureichender Strafverfolgung habe schwere Konsequenzen für den Rechtsstaat, resümierte James Cavallaro, Präsident der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) am 2. März 2016 anlässlich der Vorstellung der Untersuchungsergebnisse der Kommission zur Menschenrechtslage in Mexiko.[1] Noch im Januar 2017 sprach das dem mexikanischen Senat angegliederte Instituto Belisario Domínguez von einer „wahren Gewaltepidemie auf nationaler Ebene.“[2]

Der CIDH-Bericht wertet Ergebnisse der Kommission aus, deren Experten-Delegation 2015 eine Reihe von Exkursionen durch mehrere Bundesstaaten Mexikos durchgeführt hatte. Menschenrechtsverletzungen durch Entführungen, Hinrichtungen und Folter standen im Zentrum der Untersuchung, das Augenmerk der Kommission richtete sich aber auch auf die Situation der indigenen Bevölkerung, insbesondere indigener Frauen und Mädchen. Im Fokus standen überdies die Arbeitsmöglichkeiten von Journalisten und Menschenrechtsaktivist*innen sowie der Zugang für Opfer von Menschenrechtsverletzungen zum Justizsystem.

Polizei und Militär im Sold der Kartelle

Vor allem die systematische Nicht-Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen, die von Armee oder Polizei begangen worden waren, die Straflosigkeit der Täter, löste bei der Kommission in hohem Maße Besorgnis aus. Der Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto (PRI, Partido Revolucionario Institucional, Partei der institutionalisierten Revolution) stellte sie kein gutes Zeugnis aus: Die Menschenrechtslage in Mexiko sei weiterhin katastrophal. Die Gewalt sei im ganzen Land verbreitet, vor allem aber dort, wo Polizei und Militär auf organisiertes Verbrechen und Drogenkartelle treffen.[3]

Die Praxis des ‚Verschwindenlassens‘ missliebiger Personen ist nach wie vor weit verbreitet. Bis September 2015 wurden in Mexiko 26.798 Menschen vermisst. Die Behörden unternahmen kaum Anstrengungen zur Auffindung der Opfer, weshalb auch diese ‚Entführungen‘ in der Regel straflos bleiben. Eine im Oktober 2015 gebildete Sonderstaatsanwaltschaft (Fiscalía Especializada), die sich mit Fällen ‚verschwundener‘ Personen befassen soll, vermochte daran bislang wenig zu ändern.[4]

2011 standen circa 85.000 Armeeangehörige und Bundespolizisten etwa 300.000 mit modernsten Waffen ausgestatteten Paramilitärs der Drogenkartelle gegenüber, so das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK), das den Konflikt inzwischen als „innerstaatlichen Krieg“ bezeichnet. Die Tötung von Priestern, Richtern und Journalisten habe signifikant zugenommen.[5]

Da Militär, Bundespolizei und regionale Polizeieinheiten oftmals mit den Kartellen zusammenarbeiten, Korruption bei Strafverfolgungsbehörden und Justiz weit verbreitet ist und Verbrechen äußerst selten aufgeklärt werden, genießt die Staatsmacht bei der Bevölkerung keinerlei Vertrauen mehr. Laut CIDH-Bericht seien Angehörige von Bundespolizei und Streitkräften oftmals in die Verbrechen verwickelt oder duldeten sie zumindest. Angehörige von Verschwundenen würden vielfach bedroht, wenn sie selbst nach den Vermissten suchten: Die Mutter eines Verschwundenen habe angegeben, so der Bericht, ihr sei gedroht worden, dass ihr die Zunge herausgeschnitten und sie ihre anderen drei Söhne tot vor ihrer Türe finden würde, wenn sie die Suche nach dem verschwundenen Sohn nicht aufgebe.“[6]

Fälle wie dieser finden auf Grund ihrer Häufigkeit kaum noch überregionale mediale Aufmerksamkeit.

Die Nicht-Aufklärung des Falles der Studierenden von Iguala

Breite internationale Öffentlichkeit fand indes der Fall der 43 Studierenden der Landuniversität Ayotzinapa in Iguala im Bundesstaat Guerrero, die in der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 “verschwanden” und ermordet wurden. Wie eng organisiertes Verbrechen, Politik und Sicherheitskräfte zusammenarbeiten, musste die internationale Expertenkommission des CIDH erfahren, die von Angehörigen angerufen worden war, nachdem mexikanische Ermittlungsbehörden versucht hatten, den Tathergang zu verschleiern, zu einer lokalen Auseinandersetzung zwischen Drogenbanden herunterzuspielen und den Fall zu den Akten zu legen. Von einer “breit angelegten und perfekten Koordination” spricht hingegen die Kommission in ihrem Abschlussbericht: Die 43 Studierenden seien von Mitgliedern des lokalen Drogenkartells und örtlichen Polizeieinheiten gemeinsam angegriffen und verschleppt worden. Eine vor Ort stationierte Armeeeinheit habe die Vorgänge beobachtet ohne einzugreifen, ebenfalls anwesende Bundespolizisten seien den zum Teil verletzten Studierenden nicht zu Hilfe gekommen. Vielmehr hätten sie die mit den Verbrechern zusammenarbeitenden örtlichen Polizeikräfte unterstützt. Laut offiziellem Bericht der mexikanischen Behörden seien die Studierenden von der kommunalen Polizei festgenommen, einer kriminellen Bande übergeben und ihre Leichen schließlich auf einer Mülldeponie verbrannt worden.

Die CIDH-Experten lehnten diese Theorie als unhaltbar ab. Bei ihren Ermittlungen seien die Mitarbeiter der Expertenkommission von staatlichen und politischen Stellen, vor allem hinsichtlich der Befehlsverantwortung sowie der Aufklärung der Partizipation der Rolle von Bundespolizei und Armee massiv behindert worden. [7]

Der Fall Ayotzinapa sei ein Dorn im Auge der Regierung, die den Fall schnellst möglichst abschließen wolle. In diesem Zusammenhang prangerten sie zudem an, dass ihnen die Regierung wiederholt Geldzahlungen angeboten habe. Dies lehnen sie empört ab: “Wenn die Regierung etwas wiedergutmachen will, muss sie uns sagen, wo unsere Kinder sind und was mit ihnen passiert ist.”[8] Auf Grund weitreichender Kollaboration von Armee, Bundes- und Ortspolizei mit den Kartellen und kaum verschleierter Korruption werden Nachforschungen meist verhindert. Gegenüber Amnesty International (AI) berichteten Angehörige einer verschwundenen Person, Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft hätten sich geweigert, in bestimmten Gebieten des Bundesstaates zu ermitteln. Sie könnten dort nicht hin, sie hätten Angst.

“Die unablässige Welle von Fällen, in denen Menschen ‘verschwinden’, die Chihuahua überrollt, und das vollkommen fahrlässige Vorgehen bei der Untersuchung des Verschwindenlassens der 43 Studenten von Ayotzinapa zeugen von der vollkommenen Missachtung der Menschenrechte und der Menschenwürde durch die mexikanische Regierung”, so die AI-Expertin Erika Guevara-Rosas. “Tragischerweise”, so Guevara-Rosas weiter, ‘verschwinden’ in ganz Mexiko so viele Menschen, dass dies fast schon als Teil des Alltags betrachtet wird. In den wenigen Fällen, in denen tatsächlich Untersuchungen durchgeführt werden, handelt es sich meist um eine reine Formsache, mit der man den Schein wahren will […].”[9]

Straflosigkeit für schwerste Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen

Dennoch sah CIDH-Sprecher Cavallero auch positive Ansätze. Er würdigte einige Verfassungsänderungen seit 2011, so etwa die Etablierung einer eigenen Staatsanwaltschaft (Fiscalía Especializada) für die Suche nach “verschwundenen” Personen. Ebenso hob er eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes zur Begrenzung des Machtbereichs des Militärs hervor; die Gerichtsentscheidung schränkt den justiziellen Zuständigkeitsbereich der Armee in den Fällen ein, in denen die Streitkräfte selbst Menschenrechtsverletzungen begangen haben.

Am 10. Dezember 2015 legte Präsident Enrique Peña Nieto dem Kongress ein Gesetz vor, mit dem angesichts der hohen und weiterhin steigenden Zahl der vermissten Personen gegen die Praxis des “Verschwindenlassens” vorgegangen werden soll. Wesentliche Punkte dieses Entwurfs, so Amnesty International, seien jedoch mit internationalen Standards unvereinbar. Die Menschrechtsorganisation fordert grundlegende Verbesserungen durch den mexikanischen Kongress, “damit das Gesetz ein wirksames Werkzeug zur Sicherstellung von Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer darstellt und Fälle des Verschwindenlassens in Zukunft verhindert werden können.”[10]

Eine von Amnesty International (AI) erstmals durchgeführte Untersuchung ergab, dass zunehmend Frauen im Drogenkrieg willkürlich inhaftiert werden. 72 Prozent der befragten repräsentativ ausgewählten Frauen gaben an, während ihrer Festnahme oder in den Stunden danach sexuell missbraucht worden zu sein. Sexueller Missbrauch werde nach Angaben von AI als Verhörmethode bei Frauen routinemäßig angewandt[11], allgemein seien Folter und anderen Misshandlungen durch Bundespolizei und lokale Ermittlungsbehörden üblich. Die Behörden leugneten das Ausmaß des Problems und es würden nur geringe Anstrengungen unternommen, dieser Praxis einen Riegel vorzuschieben. Zwar legte Präsident Nieto, nicht zuletzt in Reaktion auf den Fall der 43 Studenten, dem Kongress den Entwurf für ein Gesetz gegen Folter vor (Ley Generale de Tortura), eine Umsetzung steht jedoch bislang aus, Straflosigkeit bleibt bis auf weiteres auch hier die Regel.[12]

Der Fall von Miriam López beleuchtet exemplarisch die Verletzung elementarster Menschenrechte durch das mexikanische Militär und die Untätigkeit der Justiz. Im Februar 2011 wurde die Mutter von vier Kindern von Soldaten “entführt, vergewaltigt, gefoltert und eine Woche lang gefangen gehalten, um von ihr ein falsches Geständnis zu Verwicklungen in den Drogenhandel zu erpressen. Wie in den meisten Fällen kam es trotz Identifizierung der Täter zu keinem Gerichtsverfahren. Miriam López wurden lediglich Polizeischutz und eine psychotherapeutische Behandlung zugesprochen.”[13]

Der hochrangige UN-Vertreter und Sonderberichterstatter Michel Forst besuchte das Land im Januar 2017. Im Rahmen seiner achttägigen Reise durch mehrere Bundesstaaten, darunter auch die stark betroffenen Staaten Chihuahua, Guerrero und Oaxaca, traf Forst mit Behördenvertretern und rund 800 Aktivisten zusammen, davon knapp 60 Prozent Frauen. Zum Abschluss seiner Exkursion machte er darauf aufmerksam, dass in Mexiko Menschenrechtler und Journalisten systematisch von Gewalt bedroht seien. Dies gelte vor allem, wenn es sich um Frauen oder Mitglieder indigener Gemeinden handle.[14] Nach Abschluss seiner Reise resümierte der UN-Sonderberichterstatter, die Ziffer der Ermordeten und Verschwundenen sei nur”die Spitze des Eisbergs.”[15]

Soziale Kluft

Mexiko ist ein Vielvölkerstaat mit circa 120 Millionen Einwohnern. Mindestens 20 Millionen Menschen leben in der Metropolregion Mexiko-Stadt. Die Gruppe der Mestizen, Nachkommen von Europäer*innen und Angehörigen der indigenen Völker, stellt mit etwa 80 Prozent die Mehrheit der mexikanischen Gesamtbevölkerung. Ungefähr 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung Mexikos, je nach Definition der ethnischen Zugehörigkeit, gehören zur Minderheit der über 60 indigenen Ethnien mit unterschiedlichen Dialekten und Sprachen. Diese ethnische Vielfalt findet auch heute noch kulturellen und religiösen Ausdruck. Eine weiße ethnische Minderheit, vor allem spanischer Herkunft, macht etwa neun Prozent der Bevölkerung aus; der Anteil der Nachfahren afrikanischer Sklaven ist gering.

Die überwiegende Mehrheit der indigenen Bevölkerung lebt am Rande der mexikanischen Gesellschaft in teilweise extremer Armut. Das starke soziale Gefälle findet seinen Niederschlag in großen Einkommens- und Bildungsunterschieden sowie in der Gesundheitsvorsorge. Der landesweite Anteil von Analphabeten an der Gesamtbevölkerung liegt landesweit bei ungefähr 10 Prozent, während fast die Hälfte der indigenen Bevölkerung trotz allgemeiner Schulpflicht des Lesens und Schreibens nicht mächtig ist. Obwohl Bemühungen seitens der Regierung erkennbar sind, indigene Universitäten zu fördern, hat die indigene Minderheit an höherer Bildung nach wie vor nur geringen Anteil.

Die OECD bezeichnete Mexiko als eines der Länder mit den größten Einkommensunterschieden der Welt. Laut Informationen des mexikanischen Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMLEV) verdienen die oberen 10 Prozent der Einkommensempfänger 39 Prozent des Gesamteinkommens, während sich die unteren 10 Prozent der Gesellschaft mit knapp 1,4 Prozent des Gesamteinkommens begnügen müssen.

Die ethnische Zugehörigkeit steht in engem Zusammenhang mit der sozialen Stellung und der Einkommenssituation. So gehören 75 Prozent der in extremer Armut lebenden Mexikaner einer indigenen Gruppe an. Dieses soziale und ökonomische Gefälle spiegelt sich auch in den Gesundheits- und Bildungsindikatoren wider.[16]

Zehn Jahre Drogenkrieg hatten auch Auswirkungen auf das nationale Gesundheitssystem. Von einer anhaltenden medizinischen Unterversorgung waren vor allem Angehörige der unteren sozialen Schichten betroffen. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen leistete vor allem in den nördlichen Bundesstaaten nahe der Grenze zu den USA kostenlose medizinische Hilfe. In den Grenzregionen, in denen der Drogenkonflikt am stärksten eskaliert, stellte der Verein Personal, medizinische Ausrüstung sowie Medikamente zur Verfügung und betreute Opfer sexueller Gewalt, nachdem die Krankenversorgung auf Grund der anhaltenden Kämpfe zusammengebrochen war. Auch die Angehörigen der Studenten von Iguala wurden von Ärzten der Organisation psychologisch betreut.[17]

Entwicklungslinien I: Porfirio Díaz – Despotismus und Oligarchie

Er “war 46 Jahre alt, als er die Präsidentschaft übernahm, und 80 Jahre, als man sie ihm aus den Händen rang.”[18] Von 1876 bis 1880 und von 1884 bis 1911 dauerte die Präsidentschaft General Porfirio Díaz‘ (1830-1915), der sich bereits im mexikanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Konservativen hervorgetan hatte.[19] Der General etablierte eine von Despotismus geprägte konstitutionelle Diktatur – von den Mexikanern auch als das ‚Porfiriat‘ bezeichnet -, die unter den Leitbegriffen ordo y progreso (Ordnung und Fortschritt) eine mexikanische Variante der ‘industriellen Revolution’ einleitete. Eine naturwissenschaftlich-technische Ausrichtung und Europaorientierung begleiteten den rapiden Ausbau von Eisenbahn und Industrie, wesentliches Element waren hierbei die Zentralisierung der Staatsgewalt, die Überwindung der Zersplitterung des Landes nach Unabhängigkeits – und anschließendem Bürgerkrieg. Mit der Position, nur ein modernisiertes und geeintes Mexiko habe den Expansionsbestrebungen der USA etwas entgegen zu setzen, konnte er die Oberschicht für sein Regime gewinnen, das de jure an der Oberfläche zumindest den Schein einer Gewaltenteilung aufrecht hielt, de facto hinter der Fassade jedoch sämtliche Stränge der Legislative, Judikative und Exekutive in der Hand des Generals zusammenführte. Díaz‘ konservative, an monarchischen Elementen festhaltende Präsidialdiktatur konnte sich neben dem Militär auf die katholische Kirche stützen, obschon er weder die Säkularisierungen, die auch in Mexiko zu Beginn des Jahrhunderts durchgeführt worden waren, noch eine anti-kirchliche Gesetzgebung zurücknahm, die die Reformphase vor seiner Präsidentschaft mit gekennzeichnet hatte. Wesentliche antiklerikale Gesetze entschärfte er indes. Von außerordentlicher Bedeutung war aber, dass er zahlreiche caciques (indigene Anführer) für sich gewinnen und somit die Zentralisierung der Macht vorantreiben konnte.

Die rasche Modernisierung und Industrialisierung hatten ihren Preis. Von den Kloster- und Kirchenteignungen profitierte nicht die breite Bevölkerung im Sinne einer sozialen Landreform: Um die Wende zum 20. Jahrhundert teilten sich annähernd 11.000 Großgrundbesitzer die Hälfte des mexikanischen Territoriums. Einige Haziendas waren größer als mancher europäische Staat, während sich 70.000 Gemeinden mit etwa einem Prozent der anbaufähigen Nutzfläche bescheiden mussten.[20] Große Teile der Industrieanlagen waren alsbald Eigentum ausländischer, im Besonderen us-amerikanischer Investoren, in den Städten, allen voran Mexiko-Stadt, Guadalajara und Monterrey wuchs das Industrieproletariat ohne jegliche soziale Absicherung. Ein ähnlich menschenunwürdiges Dasein fristeten die peones, Landarbeiter*innen zumeist indigener Abstammung, denen zuvor Land abgenommen worden war. Zu niedrigsten Löhnen arbeiteten sie unter entwürdigenden Bedingungen auf den Haziendas, waren oftmals gezwungen, Lebensmittel zu stark überhöhten Preisen bei ihren Brotherren zu erwerben und gerieten somit nicht selten in Schuldknechtschaft, die überdies in der Regel vererbbar war. Es entstand ein System moderner Sklaverei, das seine schlimmste Ausprägung im Süden – in Yucatan und Chiapas – im Zuge der Gewinnung tropischer Edelhölzer und eindrucksvolle literarische Schilderung im “Mahagoni-Zyklus” des Schriftstellers Bruno Traven fand.[21]

Während des gesamten Porfiriats ereigneten sich Streiks, Aufstände und sozialen Protest der nahezu rechtlosen Industrie und vorwiegend indigenen Landarbeiter. Das spätporfirianische Mexiko war schließlich geprägt von einer sozialen Gärung, ohne der die Dynamik der zweiten großen Revolution des 20. Jahrhunderts neben der russischen nicht zu verstehen ist.

Entwicklungslinien II: Eine abgebrochene Revolution?

Ausgangspunkt war eine Wirtschaftskrise, die ab 1907 auch die USA erfasste, sich in Mexiko jedoch zu einer zur Staatskrise auswuchs, die die Herrschaftsgrundlage des Porfiriats ins Wanken und schließlich zum Einsturz brachte. Als Díaz sich 1910 – inzwischen 80jährig – im Amt bestätigen lassen wollte, verstärkten sich angesichts der allgemeinen Krise zunächst die Spannungen zwischen verschiedenen Interessenparteien der Agraroligarchen und der industriellen Elite. Angesichts der Schwächung der Zentralgewalt durch diesen Elitenkonflikt konnte sich dieser schnell zu einer Revolution ausweiten, die auf Grund der genannten sozialen Gärungsprozesse alsbald eine gewaltige Masse der Landlosen und des Industrieproletariats hinter sich vereinen konnte.

Die Geschichtswissenschaft unterteilt den nun folgenden revolutionären Prozess in der Regel in zwei Phasen. Die erste umfasst die militärische Auseinandersetzung in der Dekade zwischen 1910 und 1920, in der unterschiedliche Gruppierungen mit zum Teil stark divergierenden Interessen gegen die Zentralgewalt kämpften. Entscheidend für die weitere Entwicklung waren jedoch einerseits die Verfechter einer grundlegenden Sozial- und Landreform um Emiliano Zapata und Francisco (Pancho) Villa, andererseits eine Bewegung, die vor allem eine Demokratisierung von Gesellschaft und Wirtschaft anstrebte und sich schließlich in der 1917 geschaffenen, im Wesentlichen bis heute gültigen Verfassung einer föderalen Präsidialdemokratie durchsetzen konnte.[22]

Eine zweite Phase bis 1940 ist geprägt von politischer und wirtschaftlicher Umgestaltung. Die agrarrevolutionäre Dynamik wurde ausgebremst und kanalisiert: Eine umfassende Landreform blieb aus und wurde bis heute nicht umgesetzt, die indigene Bevölkerungsmehrheit bleibt auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Ebene marginalisiert.

Die mexikanische Revolution wird in der historischen Forschung unterschiedlich beurteilt. Eine Perspektive, aus der die Revolution lediglich als Konflikt zwischen den Fraktionen der oligarchischen Eliten am Ende der porfirischen Diktatur erscheint, übersieht, dass die Dynamik der Revolution ihre Wurzeln stets in der sozialen und wirtschaftlichen Ausgrenzung der bäuerlichen und proletarischen Bevölkerungsschichten hatte. War sie eine bürgerliche Revolution zur Beendigung der Diktatur und zur Etablierung einer präsidialen Demokratie? Den Blutzoll leisteten allemal jene land- und weitgehend rechtlosen Gruppierungen, deren Hoffnungen die Revolution bis heute unerfüllt ließ. Aus der Perspektive der sozialen Bewegungen kann man dem mexikanischen Historiker Adolfo Gilly folgen, der von einer revolución interrumpida, einer abgebrochenen Revolution, spricht: Für die Gruppierungen, die die Auseinandersetzungen auszutragen hatten, stelle sich die Revolution „wie ein Kuchen ohne Zucker dar.“[23]

Reformen stießen in Mexiko lange Zeit auf eine Reihe von Schwierigkeiten. Die Partei der institutionalisierten Revolution (PRI) stellte 71 Jahre lang, von ihrer Gründung 1929 bis 2000, sämtliche Staatspräsidenten, bis 1989 alle Gouverneure und bis 1997 die Mehrheit der Kongressabgeordneten. Seit 2012 hat mit Peña Nieto wiederum ein Vertreter der PRI das Präsidentenamt inne.

Definiert bereits die Verfassung von 1917 eine relativ starke Stellung des Präsidenten, ergaben sich aus der mehr als 70 Jahre währenden beherrschenden Stellung einer Partei Formen eines überkonstitutionellen Zusammenspiels zwischen hegemonialem Parteien- und präsidialem Regierungssystem, das die in der Verfassung verankerte Gewaltenteilung partiell außer Kraft setzte. Vor allem die Exekutive konnte in dieser Konstellation über Jahrzehnte eine äußerst starke Stellung etablieren. Die sozialrevolutionär relevanten Bevölkerungsgruppen waren in regierungsnahen Verbänden organisiert. Die PRI, durchaus mit autoritären Tendenzen, stilisierte sich im offiziellen Diskurs gerne als Dach, unter dem die unterschiedlichen Akteure als ‚revolutionäre Familie‘ zusammenlebten. Der Mythos der Revolution hatte in der Tat lange Zeit integrative Wirkung in der multiethischen mexikanischen Gesellschaft, als identitätsstiftende Kraft reicht dieser Mythos bis in die Gegenwart,[24] wenngleich neuere Forschungsarbeiten zur Geschichte der mexikanischen Revolution Wege zu einer äußerst ambivalenten Betrachtungsweise aufzeigen.[25]

In der Tat Im Zuge eines in den 1990er Jahren einsetzenden Demokratisierungsprozesses werden die überkonstitutionellen Verschränkungen zwischen PRI und Präsidialregierung sukzessive zurückgedrängt. Dies bedeutet auch, dass die Exekutive schrittweise judikativer und parlamentarischer Kontrolle unterworfen wird, obgleich insgesamt nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Drogenkrieges Verfassung und Verfassungsrealität noch weit auseinanderliegen und wesentliche Schritte zu einer Entflechtung der informellen, überkonstitutionellen Machtstrukturen der Hegemonialpartei PRI noch zu gehen sind.

Zusammenfassung

Es ist festzuhalten, dass die Maßnahmen, die die Regierung bislang in die Wege leitete, zu keiner nennenswerten Verbesserung der Menschenrechtslage geführt haben. Dies ist zum Teil auf mangelnde Finanz- und Personalausstattung, der zuständigen Institutionen, aber auch auf die weitverbreitete Korruption, eine oftmals weitreichende Verstrickung staatlicher Stellen in Menschenrechtsverletzungen sowie ein hohes Maß an Indolenz und Untätigkeit zurückzuführen. Auch auf höchster Ebene fehlt es offensichtlich an politischem Willen, die Menschenrechtssituation nachhaltig zu verbessern. Anders ist eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von Mai 2015[26], das Land sei nicht an Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden, nicht zu verstehen. Diese Entscheidung steht im Widerspruch zu internationalem Recht.

Der 2006 unter Präsident Felipe Calderón begonnene und seit 2012 von Präsident Enrique Peña Nieto fortgesetzte Drogenkrieg ist gescheitert. Die Kartelle existieren im elften Jahr des Krieges nach wie vor, die Ermordeten und Verschleppten kommen vor allem aus der gesellschaftlichen Unterschicht, ein Großteil von ihnen ist indigener Abstammung. Nach zehn Jahren Krieg gegen die Drogenmafia befindet sich das Land in einem Teufelskreis aus Korruption, Geldwäsche, organisierter Kriminalität und Straflosigkeit selbst für schwerste Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Die Spirale der Gewalt beschleunigt sich, die sozialen Unterschiede in der mexikanischen Gesellschaft werden größer, der Rechtsstaat ist ausgehebelt. Der 2006 unter Präsident Felipe Calderón begonnene und seit 2012 von Präsident Enrique Peña Nieto fortgesetzte Drogenkrieg ist gescheitert, das Ergebnis der nunmehr über ein Jahrzehnt dauernden Auseinandersetzung ist eine umfassende Unterhöhlung des Rechtsstaats im Zuge einer sich beschleunigenden Spirale der Gewalt, während fundamentale Menschenrechte ihre Gültigkeit verlieren bzw. nicht mehr einklagbar sind.

Autor: Dr. Christian Ritz
Kontakt: info@fritz-bauer-forum.de

 

Anmerkungen

[1] Doc. 44/15 31 diciembre 2015, abgerufen am 17.03.2017 auf http://www.oas.org/es/cidh/informes/pdfs/Mexico2016-es.pdf; die Interamerikanische Menschenrechtskommission (spanische Abkürzung: CIDH) wurde 1959 gegründet. Sie beobachtet die Menschenrechtssituation in den Mitgliedsstaaten und berichtet darüber in länderspezifischen Reporten.

[2] „[…] una verdadera epidemia de violencia a nivel nacional […]“, Instituto Belisario Domínguez (Senado de la República), Dirección General de Investigación Estratégica, Temas estratégicos 39, Januar 2017, auf: http://www.bibliodigitalibd.senado.gob.mx/bitstream/handle/123456789/3344/Reporte39_SeguridadInterior_DistDigital.pdf?sequence=1&isAllowed=y, abgefragt am 17.03.2017.

[3] CIDH-Bericht, ebd.

[4] Amnesty International (AI), Sektion der Bundesrepublik Deutschland, Amnesty-Report 2016: Mexiko; auf: https://www.amnesty.de/jahresbericht/2016/mexiko, abgerufen am 17.03.2017.

[5] HIIK, Conflict Barometer 2016. Heidelberg 2017, S. 12.

[6] Laut CIDH-Bericht seien Angehörige von Bundespolizei und Streitkräften oftmals in die Verbrechen verwickelt oder duldeten sie zumindest. CIDH-Bericht wie Anm. 1, das Zitat ebd.

[7] Bericht Amnesty International v. 14.01.2016: https://www.amnesty.de/2016/1/14/mexiko-tausende-menschen-verschwunden, abgefragt am 17.03.2017.

[8] Pool des Nuevas Agencias de América Latina v. 11.04.2016, deutsche Version: Bruch zwischen CIDH-Expert*innenkommission und mexikanischer Regierung, zit. n.: https://www.npla.de/poonal/bruch-zwischen-cidh-expertinnenkommission-und-mexikanischer-regierung/, abgerufen am 18.03.2017; vgl. auch: amerika21: Nachrichten und Analsyen aus Lateinamerika , 01.04.2016: https://amerika21.de/2016/03/149077/giei-ermittlungen-beenden: „Die Eltern haben am Mittwoch gemeinsam mit Menschenrechtsorganisationen die Verlängerung des Mandates der Expertenkommission bei der CIDH beantragt. Es sei deren Aufgabe, nicht die der mexikanischen Regierung, dies zu überprüfen”; abgefragt am 18.03.2017. AI hat zahlreiche weitere, ähnlich gelagerte Fälle dokumentiert. Vgl. AI-Bericht v. 14.01.2016, wie Anm. 9.

[9] Ebd.

[10] https://www.amnesty.de/2016/1/14/mexiko-tausende-menschen-verschwunden, abgefragt am 20.03.2017.

[11] AI-Bericht vom 28. Juni 2016: Mexico: “Sexual violence routinely used as torture to secure ‘confessions’ from women”, auf: https://www.amnesty.org/en/latest/news/2016/06/mexico-sexual-violence-routinely-used-as-torture-to-secure-confessions-from-women/, abgefragt am 17.03.2017.

[12] AI, Sektion der Bundesrepublik Deutschland, Amnesty-Report 2016: Mexiko: „Die Regierung war nicht in der Lage, Auskunft über entsprechende Anklagen oder Urteile auf Bundesebene zu geben.“

[13] https://www.amnesty.de/2013/3/5/mexiko-keine-verbesserung-der-menschenrechtslage.

[14] https://amerika21.de/2017/01/168848/un-menschenrechte-mexiko.

[15] https://amerika21.de/2017/01/168848/un-menschenrechte-mexiko, abgefragt am 26.03.2017.

[16] Die obenstehenden Daten: https://data.oecd.org/mexico.htm; vgl. auch: https://amerika21.de/2015/07/124028/extreme-ungleichheit-mexiko; https://amerika21.de/2015/04/119263/kinderarmut-mexiko, abgefragt am 30.03.2017.

[17] https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/unsere-arbeit/einsatzlaender/mexiko, abgefragt am 08.04.2017.

[18] Klaus-Jörg Ruhl, Laura Ibarra García, Kleine Geschichte Mexikos. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart. 2. Aufl. München 2007, S. 257. (Erstausg. München 2000).

[19] Zu Porfirio Díaz s. Ramiro Reyna Hinojosa, El hombre, el militar, el presidente. 2 Bde. Nueva Léon 2009, Paul H. Garner, Porfirio Díaz, Harlow 2001.

[20] Die Zahlen bei Ruhl, García, Kleine Geschichte, zum Kontext vgl. ebd., vor allem S. 161ff.

[21] Bruno Traven, der Caoba-Zyklus.

[22] Ein erster Überblick bei Ruhl, García, Kleine Geschichte, vor allem S. 167ff., weiterführend (Auswahl): John Womack, Zapata and the Mexican Revolution. New York 1969; Hans-Werner Tobler, Die Mexikanische Revolution: Gesellschaftlicher Wandel und politischer Umbruch; 1876-1940. Frankfurt/M. 1984; Ders., „Mexiko auf dem Weg ins 20. Jahrhundert. Die Revolution und die Folgen“, in: Dietrich Briesenmeister, Klaus Zimmermann (Hrsg.), Mexiko heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt/M. 1996.

[23] Adolfo Gilly, La revolución interrumpida. Mexico D.F. 1994.

[24] Raina Zimmering (Hrsg.), Der Revolutionsmythos in Mexiko. Würzburg 2005.

[25] Vgl. etwa die Beiträge in: Barbara Schröter (Hrsg.), Das politische System Mexikos. Wiesbaden 2015.

[26] Vgl. https://www.amnesty.de/jahresbericht/2016/mexiko#amnestyinternationalbericht.

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