Menschliches Empfinden, Strafrecht und Demokratie

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06.03.2019

Menschliches Empfinden, Strafrecht und Demokratie

Die Empörung gegen Forderungen, das Strafrecht am „gesunden Volksempfinden“ zu orientieren, oder gegen die Kritik an Urteilen mit der Begründung, sie ließen sich nicht mit diesem „gesunden Volksempfinden“ vereinbaren, ist meist groß. Diese Empörung ist auch berechtigt, soweit sie vor einem gesetzgeberischen Rückfall in die Zeit des Nationalsozialismus warnt, in der § 2 Abs. 1 StGB noch gelautet hat: “Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient.” Unabhängig davon, welchen Inhalt die Nationalsozialisten in das „gesunde Volksempfinden“ hineininterpretiert hatten, und wie sie den Begriff im öffentlichen Diskurs ge- und missbraucht hatten, kann die Verwendung dieser Begriffe auch grundsätzlich schon hinsichtlich ihrer zu groben Verallgemeinerung bzw. Undifferenziertheit (was ist „gesund“ und wer ist das „Volk“?) und die damit verbundene Eignung, sie zu missbrauchen, abgelehnt werden. Die Empörung ist auch berechtigt, soweit sie davor warnt, härter zu bestrafen, um öffentlichen, medial geschürten Stimmungen zu entsprechen.

In einiger Hinsicht jedoch greift diese Empörung auch zu kurz. Sie greift zu kurz, wenn sie suggeriert, dass das Strafen auf irgendetwas anderem gründet als auf einem tatsächlichen oder mutmaßlichen Empfinden. Sie greift zu kurz, wenn sie suggeriert, dass die Strafjustiz die sinnvollsten Lösungen im Umgang mit Straftaten findet, so wie die Medizin die sinnvollsten Lösungen mit Krankheiten findet. Sie greift zu kurz, wenn sie suggeriert, dass die stärkere Einbindung der Mitglieder unserer Gesellschaft in den Umgang mit Strafen und Konflikten unvermeidbar ein härteres und inhumaneres Strafrecht zur Folge hätte.

Dass der Staat straft, was bestraft wird, wie bestraft wird, richtet sich im Grunde nicht danach, was nach der Einschätzung von Expert_innen als sinnvoll im Umgang und zur Vermeidung von Verletzungen, Schäden und Konflikten erachtet wird. Es richtet sich in einer Demokratie primär nach dem Willen des Volkes. Dieser Wille, und das ihm zugrundeliegende Empfinden, wiederum sind sehr stark abhängig von Informationen und Wissen. Zum Thema Kriminalität bekommen die meisten Menschen jedoch lediglich massenmedial die Interesse, Angst und Wut auslösende Information vermittelt, dass eine (schlimme) Straftat passiert ist. Als Lösung des Problems, die zugleich eine Befriedigung der Wut und eine Besänftigung der Angst anbietet, wird die Bestrafung des/der Täters/-in präsentiert, den/die man ins Gefängnis steckt. Damit wurde dem Opfer Gerechtigkeit zu Teil und dort wird er/sie in dieser Informationskette so behandelt, dass er/sie bei einer Entlassung nicht mehr gefährlich ist. Viel mehr kann der/die Bürger_in, der/die sich mit vielen anderen Dingen und Themen befassen muss und selbst keine Berührung mit Kriminalität hat, gar nicht wissen können. Insoweit entspricht unser Strafrecht größtenteils dem Empfinden der Mehrheit unserer Gesellschaft, mit Ausnahme von besonders aufsehenerregenden Straftaten, die für einige zu wenig hart bestraft worden sind, und mit Ausnahme von einigen destruktiven Menschen, für die ohnehin nicht hart genug bestraft werden kann.

Aber ist dieses grundsätzliche Empfinden auch „gesund“ im Sinne von natürlich, menschlich, unverfälscht? Das kann es doch, mangels persönlicher Betroffenheit, nur auf Basis aller verfügbaren Erkenntnisse und allen Wissens sein. Bezogen auf das Strafen hieße dies, dass die Öffentlichkeit erfahren müsste, inwieweit unser Strafrecht tatsächlich die Sicherheit erhöht, den Geschädigten hilft, die Straftäter resozialisiert, Schädigungen und Konflikte reduzieren und vermeiden hilft. Dazu bräuchte es Expert_innen, die all dies vermitteln und umsetzen. Zum Teil sind das, innerhalb der ihnen gegebenen Rahmenbedingungen, sicher die Vertreter_innen der Justiz. Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aber beschränkt sich die Justiz (auch wider besseren Wissens?) auf die bloße Behauptung, all das Sinnvolle und Positive zu erreichen. Und nachgeprüft werden kann diese Behauptung kaum.

Die Strafjustiz darf jedoch keine Welt in sich sein. Eine Welt hinter Roben, in einem für Unkundige undurchdringbaren Dickicht von Gesetzen, in dem, hinter Stacheldraht und Mauern, das Gefängnis angeblich Gerechtigkeit und Frieden schafft. Die Wissenschaft des Strafrechts darf nicht vorrangig und unreflektiert sich selbst oder den politischen Vorgaben dienen und damit die falschen Vorstellungen der Menschen über das mit dem Strafrecht Erreichte und Erreichbare oft noch schüren. Sie muss vielmehr primär dem Menschen in seinen sozialen Bezügen dienen.

Je aufgeklärter die Menschen sind, desto unverfälschter und „gesünder“ ist auch ihr Empfinden, und desto weniger berechtigt ist die Sorge vor diesem Empfinden.

Zum einen also ist es dringend notwendig, dass die Vertreter_innen der Justiz sich nicht als Akteur_innen eines Unternehmens begreifen, dessen Interessen sie vorrangig zu berücksichtigen haben. Sie haben vielmehr die Interessen des Menschen an sich zu berücksichtigen. Dazu muss Wissen erworben und offen kommuniziert werden. Der symbolische Kampf um Macht und Sieg sollte dem Fußballsport und ähnlichem vorbehalten bleiben. Die transzendentale letzte Begründung von Gerechtigkeit ist Sache der Religion. Wo es jedoch um wirkliche Schäden, Verletzungen und Konflikte, wo es um tatsächliches menschliches Leid und dessen Verhinderung und Linderung geht, da muss die Vernunft zunehmend an die Stelle des Glaubens treten.

Zum anderen muss „die Allgemeinheit“ nicht nur besser informiert werden, sondern auch stärker in den Umgang mit Straffälligkeit eingebunden werden (transformative justice). Konkret könnte das etwa bedeuten, dass wie bisher in einem öffentlichen Verfahren darüber geurteilt wird, wie groß das Unrecht ist, das der eine begangen und der andere erlitten hat. Dann eröffnet sich ein sehr breiter Rahmen zum Umgang mit diesem Unrecht. Dieser Rahmen sollte dann nicht mehr primär von Juristen ausgefüllt werden, sondern von einem Gremium, in dem zum Beispiel Sozialarbeiter_innen und Psycholog_innen, aber auch Geschädigte, Täter_innen, und Gemeindemitglieder vertreten sind. Dort sollte dann nach Lösungen gesucht werden, inwieweit der Schaden wiedergutgemacht werden kann (restorative justice), wie dem Geschädigten (auch im Umgang mit einem eventuellen Rachebedürfnis) geholfen werden kann, was getan werden sollte, um die künftige Straffälligkeit des/der Täters/Täterin zu reduzieren und die Allgemeinheit zu schützen. Dieses Gremium würde individuellere, sinnvollere und demokratischere Lösungen finden, als es unser derzeitiges Strafrecht kann. Über die Beteiligung der Gemeinde werden auch die sozialen Ursachen, die neben der individuellen Verantwortung bei jeder Straftat eine Rolle spielen, sozial sicht- und spürbar. Auch die Gemeinde wird so ihre Verantwortung stärker empfinden und kann sie nicht hinter Gitter abschieben. Der Staat und die Justiz sollten sich auf eine Rolle als Rahmengeber_in, Unterstützer_in und Ordner_in dieses Prozesses beschränken.

Urteile werden im Namen des Volkes gesprochen. Wir müssen nicht nur daran glauben, dass eine aufgeklärte und selbstverantwortlich handelnde Gesellschaft gerechte und humane Wege findet, mit diesen Urteilen umzugehen, um den Schaden, den Menschen sich gegenseitig zufügen, möglichst zu lindern. Denn das Gute im Menschen und die Vernunft existieren tatsächlich.

Daher: Vertrauen wir im Bereich des Strafens ruhig stärker auf das gesunde menschliche Empfinden, anstatt es zur Begründung der eigenen Interessen zu missbrauchen oder zu schwächen.

Kontaktinfo@fritz-bauer-blog.de

Foto im Header: ©Andrew Buchanan

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