Solidarität am Rande des Abgrunds

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22.12.2023

Die Chancen für eine Zwei-Staaten-Regelung in Israel

Von Hajo Funke

Vortrag und Gespräch in der Fritz Bauer Bibliothek in Bochum am 12. Dezember 2023 [1]

In meinen Vortrag „Solidarität am Abgrunds“ werde ich mich 1. auf die Solidarität mit Israel und Israelis beziehen, 2. aber auch auf die Bedeutung einer Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung, also einer Solidarität mit Israelis und Palästinensern gleichermaßen. [2] Nach meinem Verständnis von Solidarität ist dies ein Prinzip der Mitmenschlichkeit, das sich freiwillig konstituiert und sich gerade auch auf die bezieht, die benachteiligt oder gefährdet sind, und keineswegs nur auf die Nächsten; Solidarität folgt dem universalistischen Prinzip des Rechts, Rechte zu haben (Hannah Arendt) und der Menschenwürde. Es geht um die Anerkennung des anderen und darum, dass jeder verschieden leben kann, ohne Angst zu haben. (Adorno)

Prof. Dr. Hajo Funke in der Fritz Bauer Bibliothek, 12.12.2023 (c) FRITZ BAUER FORUM | BUXUS STIFTUNG

Ich halte diese doppelte Solidaritäts-Perspektive im dritten Monat eines außerordentlich brutal geführten Krieges um Gaza und einer so nicht gekannten hohen Zahl an Tötungen von Zivilisten für besonders dringlich. Denn ohne eine solche Perspektive ist das mir vorgegebene Thema „Chancen für eine Zwei-Staatenregelung“ auszuloten noch weniger realistisch als bisher schon.

Um diese Chancen gerade angesichts der Krise und des Kriegs mit einer realistischen Perspektive zu versehen, braucht es (2) einen fundamentalen Wechsel gegenüber der bisherigen Politik der Regierung Netanjahu, da diese offenkundig kein Interesse an einer Zwei-Staaten-Regelung hat. Ich skizzierte daher ausführlich die gegen Palästinenser gerichtete Ausrichtung der Politik Netanjahus bisher und nun erst recht im gegenwärtigen Krieg

Auch wenn die Bedingungen zu einer Wiedereröffnung einer Zwei-Staaten-Perspektive nach dem furchtbaren Angriff der Terrorgruppe Hamas und dem nun brutal geführten Krieg um Gaza sich immer mehr zu entfernen scheint, gibt es zur Abwehr weiterer Eskalation und weiterer Kriege (3) keine wirkliche Alternative zu einem Dialog darüber, wie dieser lange Jahre schwelende und regelmäßig in Kriegen explodierende Konflikt unter nun enorm erschwerten Bedingungen womöglich doch noch durch eine Zwei-Staaten-Regelung angegangen und eingedämmt werden kann.

1. Solidarität mit Israelis und Israel. Die infame Brutalität der Hamas Terroristen

Sie schreiben in ihrer Einladung zurecht: „Israel ist nach dem Pogrom der Hamas an über 1.200 unschuldigen Menschen aller Altersgruppen vom 7. Oktober 2023 und der tödlichen Gefährdung der verschleppten über 240 Geiseln zutiefst erschüttert.“ (Irmtrud Wojak) Selbstverständlich hat Israel nach den barbarischen Massakern vom 7. Oktober jedes Recht auf eine angemessene Selbstverteidigung. Wie barbarisch Hamas vorgegangen ist, wird mit jeder neuen freigelassenen Geisel noch verstörender. Ermordung vor den Augen der Familienangehörigen. Freigelassene junge Geiseln wie Schatten von Kindern. Ärzte berichten von Misshandlungen durch die Geiselnehmer, viele Kinder und Jugendliche seien stark unterernährt gewesen. Teilweise seien sie unter Drogen gesetzt worden. „Was diese Kinder durchgemacht haben, ist unvorstellbar“ (dpa/tas). NYT: „President Biden condemned the ‘unimaginable cruelty’ of Hamas attackers who raped and mutilated women in Israel on Oct. 7.“ (Ich bin darauf nach dem 7. Oktober vielfach auch öffentlich eingegangen, übrigens auch in meinem Blog hajofunke.wordpress.com bzw. „Hajo Funke/Politik und Zeitgeschehen“)

Solidarität mit Palästinensern

Wir brauchen indes vor dem Hintergrund des Todes von mehr als 10.000 Zivilisten in Gaza nach 66 Tagen Krieg wie selten zuvor unsere Solidarität auch mit den Palästinensern, für ein freies selbst geregeltes Palästina, ohne die diskriminierende und gegen internationales Völkerrecht gerichtete Besatzung.

Omri Böhm hat in seinem Interview vom 2. Dezember im Spiegel recht, wenn er die Erklärung Grundsätze der Solidarität von Jürgen Habermas, Rainer Forst und anderen kritisiert. Sie sei nicht hilfreich, so sehr er die beiden Denker respektiere. „Sie haben es verpasst, ihre Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung zu erklären und die Autorität des Völkerrechts zu erwähnen.“ Er kritisiert ebenso einen Teil der Linken in Israel, in dem ebenfalls ein Satz fehle, der besagt, dass zivile Leben in Gaza geschützt werden müssen und die israelische Armee das Völkerrecht achten müsse.

Wenn es um Solidarität geht, dann müssen wir die Opfer dieser kriegerischen Eskalation auf beiden Seiten in unsere Solidarität einbeziehen. Das umso mehr als Solidarität sich in unterschiedlicher Weise gegen die weitere Gefährdung der Sicherheit von Israelis, wie im Falle der Geiseln, aber auch der Angriffe auf Israel richtet und ebenso gegen die Gefährdung des Lebens von zehntausenden Palästinensern großenteils in Gaza, aber auch immer mehr in der Westbank. Es geht um Solidarität gegenüber Palästinensern und Israelis angesichts des Abgrunds dieses Krieges, dessen Ende bisher nicht hat durchgesetzt werden können, auch nicht von den Vereinigten Staaten. Es ist eine Solidarität am Rande des Abgrunds beider Völker.

Die eher einseitige Solidarität mit der einen oder anderen Seite verschärft dagegen Spaltungen und Polarisierungen weltweit und im eigenen Land, wie in Berlin vor zwei Tagen zu beobachten war, als jeweils nur wenige 1.000 zur Israel-Solidarität kamen und ebenso wenige getrennt sich für die Rechte der Palästinenser einsetzten. (Für Böhm resultiert aus der deutschen Verantwortung für Israel, diese Haltung nicht zu instrumentalisieren, um die einen gegen die anderen auszuspielen, das wäre ein Verrat an der Verantwortung. Wir sollten sie nicht benutzen, um ein Wir zu konstruieren, dass gegen einen anderen Teil der Bevölkerung steht.) Es wäre im Übrigen das Gegenteil von Solidarität erst recht in Zeiten des Krieges, am Rande des Abgrunds.

Antisemitisch wäre es indes, wenn man den Terror der Hamas und den Krieg Israels in Gaza gleichsetzen würde, wenn man aus den ungeheuren Fehlentwicklungen der israelischen Innen- und Außenpolitik das Existenzrecht Israels, ja die Existenz von Israelis und Juden weltweit infrage stellt oder sogar mit Gewalt gegen sie vorgeht. Das sollte gerade in der deutschen Diskussion 79 Jahren nach Ende des mörderischen Antisemitismus von Deutschland klar sein.

2. Ein zerstörerischer und selbstzerstörerischer Krieg Netanjahus als Antwort – ohne ein überprüfbares Ziel

Nach der Erklärung Netanjahus vom 10. Dezember 2023, dass es keine Feuerpause gebe, bis das militärische Ziel der Zerschlagung von Hamas erreicht ist, muss befürchtet werden, dass es sich um einen Krieg unbestimmter Dauer handelt. Emmanuel Macron spricht gar von zehn Jahren in diesem Zusammenhang. Vor allem muss befürchtet werden, dass damit ein mutmaßliches Ziel Netanjahus angestrebt wird: die Zerstörung der palästinensischen Existenz in Gaza – neben der sich ausweitenden Angriffe von Siedler-Milizen und Teilen der israelischen Armee auf die Lebensgrundlagen der Palästinenser in der Westbank. Das wäre die Zerstörung jeder Möglichkeit auf ein Überleben der Palästinenser nach diesem Krieg.

Die stetig dringender werdenden Aufforderungen der stärksten Verbündeten, also etwa der Vereinigten Staaten, eine für die humanitäre Versorgung angemessene Feuerpause zu wollen, werden offenkundig von der Regierung Netanjahu immer entschiedener ignoriert. Gleichzeitig wachsen Druck und Drohungen in der Region, von der Türkei bis zum Iran; vom türkischen Präsidenten kommt inzwischen die Drohung, militärisch zu intervenieren. Es besteht eine wachsende Gefahr, dass es zu einer für die israelische Sicherheit gefährlichen Ausweitung zu einem Drei-Fronten Krieg kommt: in Gaza selbst, auf der Westbank, durch die verstärkten Aktivitäten in Libanon und in Syrien und des Iran.

Blick in den Abgrund

Zu Recht hat Saul Friedländer in Blick in den Abgrund (C.H. Beck, 2023) im zeitlichen Vorfeld dieses Kriegs auf die Gefahr der Regierung Netanjahu als eine des Untergangs und des Ungeheuers und auf die Politik der Zerstörung Roms durch Nero verwiesen. (Vergleiche meine Blogeinträge in hajo.funke.wordpress.com seit Anfang Oktober 2023 zu Saul Friedländers Blick in den Abgrund). Seine dunkle Prophetie ist zugleich Ausdruck seiner tiefen Verzweiflung über sein Land, in das er fünfzehnjährig nach seinem Versteck in einem katholischen Internat in Frankreich und der Ermordung seiner Eltern in Auschwitz seine Hoffnung gesetzt, es mit aufgebaut hatte und Sekretär des einflussreichen jüdischen Weltkongresses unter Nachum Goldmann war. Ein Tagebuch, das in tiefer Verbundenheit mit Israel, in Empathie und Solidarität mit den Menschen in Israel geschrieben und von einer absoluten Beunruhigung über den Zustand seines Landes geprägt ist.

Ich brauchte einige Tage, schreibt Friedländer, der heute 91-jährige, auf der ersten Seite seines Tagebuchs, dass die politische Koalition, die Benjamin Netanjahu gebildet hatte, ein Ungeheuer mit Zähnen sei und das liberale und demokratische Land, wie wir es kannten, zu verschlingen drohte (eine Assoziation zu  einem der wichtigsten Bücher zur Charakterisierung des Nationalsozialismus durch einen der Urväter der deutschen Politikwissenschaft, Franz Neumann: Es trägt den Namen BehemothUngeheuer). „Es dauerte noch ein paar weitere Tage, bis mir klar wurde, dass jeder Israeli, in 1. Linie diejenigen, die im Land lebten, aber auch diejenigen, die anderswo lebten und mit dem Land verbunden waren, so wie ich, ihr Möglichstes dazu beitragen mussten, das Monster zu bändigen. Er schreibt über die Pläne der Regierung Netanjahu, die Demokratie zu stürzen und hofft auf den Sieg der Demokratie und fürchte, dass das pulsierende Land, in dem ich jahrzehntelang gelebt und gearbeitet habe, tot ist, dass etwas anderes, etwas Unannehmbares an seine Stelle getreten ist.“

Das Feuer des Fanatismus und der Teufelskreis der Gewalt

Für ihn ist das von Netanjahu und seinen Verbündeten in Israel errichtete Regime „ein typisch messianisches Regime, eine Mischung aus extremem Nationalismus und extremer Religiosität, zu der sich noch cliquenhafte und persönliche Interessen gesellen.“ (S. 68) Zwar habe es immer solche Fanatiker gegeben; nun aber werde das „Feuer des Fanatismus von Politikern“ wie Netanjahu für sein ganz persönliches politisches Überleben geschürt. Friedländer sieht indessen niemanden, der sie zum Nachgeben bringe und stellt die verzweifelte Frage, welcher externe Akteur sie aufhalten kann (ebda).

In der Hand der Extremisten – und Förderer des amerikanischen Staatsstreichversuchs vom 6. Januar 2021

Hinzu kommt: Der von Netanjahu ernannte Extremist Smotrich ist nicht nur Finanzminister, sondern auch zuständig für die besetzt gehaltenen Gebiete; er fordert unverhohlen die Umsiedlung der Palästinenser in die benachbarten arabischen Länder, während sein Kompagnon Ben Gvir, ausgerechnet Polizeiminister, die Siedler zu immer mehr Gewalt treibt.[3] Die immer radikalere Haltung der Fanatiker in Israel aber folge, „so scheint es, Kohelet, einer ultrarechten libertären Organisation, die im Sinne eines extremen religiösen Nationalismus agiert. Kohelet werde offenbar von zwei amerikanisch-jüdischen Milliardären, Geoffrey Jass und Arthur Dantchik, finanziert, die unter anderem die Randalierer des Sturms aufs Kapitol am 6. Januar 2021 finanziell unterstützt haben. Nette Leute.“ (55) Selffulfilling Prophecy des großen Kriegs: „Das Land steuert möglicherweise auf einen größeren Krieg zu“.

Was indes dieses Tagebuch wirklich bedrückend macht, ist, wie sehr Friedländer die Regierung Netanjahu in diesen sieben Monaten des Tagebuchs bestrebt sieht, die Eskalation in einen möglichen Krieg als Rettung der Regierung Netanjahu zu wollen: Das einzige, was ja Netanjahus seltsames Verhalten erklären könnte, sei, dass er in naher Zukunft einen Angriff auf den Iran plant. Das würde den Protesten ein Ende machen, die nationale Einheit wiederherstellen und seine Haut retten (S. 118). Zwei Tage später, am 26. März 2023 notiert Friedländer: „Der Generalstabschef, der Leiter des Mossad und der Leiter des Schin Bet sprechen eine gemeinsame Warnung aus: Die Fortsetzung der Gesetzgebungskampagne (in Richtung eines autoritären Umbaus der Demokratie in Israel) stellt eine konkrete Gefahr für die Sicherheit des Landes dar. Israels Feinde wissen um die innere Spaltung und sind bereit sie auszunutzen. Deutlicher kann man es nicht sagen.“ (S. 121/22)

3. Brutaler Krieg. Bruch des humanitären Völkerrechts durch die großen Flächenbombardements der israelischen Armee in einer durch künstliche Intelligenz gestützten Zielliste [4]

Die Waffengewalt gegen den militärischen Gegner und die Zivilbevölkerung ist ein eklatanter Bruch des humanitären Völkerrechts. Ebenso sehr das Ausmaß der humanitären Katastrophe durch die Unterbrechung der Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln und medizinischer Hilfe. Nach der New York Times vom 7. Dezember 2023 wird das Verhalten der israelischen Armee auch angesichts des Ausmaßes getöteter Zivilisten mit den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg und im Vietnamkrieg verglichen. Es seien an die 10.000 getötete Zivilisten (es wird mit etwa weiteren 6000 Vermissten gerechnet); allenfalls 1/3 sind Hamas-Aktivisten, die getötet worden sind. [5]

Nach dem sogenannten „The Gospel“ – (eigentlich: Die frohe Botschaft) KI-System der israelischen Armee werden zehntausende von Angriffszielen zur Bombardierung im Gazastreifen vorgeschlagen. Nach den ersten 35 Tagen des Krieges sind bereits 15.000 Ziele angegriffen worden, verglichen mit dem letzten Gaza-Krieg im Jahr 2014, der 51 Tage dauerte, das dreifache. Mehr noch: im gegenwärtigen Krieg, der sogenannten Operation Iron Swords, sind die ausgeweiteten Ziele keineswegs nur militärisch, sondern private Häuser, öffentliche Gebäude, Infrastruktur und vor allem Hochhäuser (High Rise Blocks) als von der Armee so definierte „Macht-Ziele“: sogenannte „power targets“ (matarot otzem) ein. [6] Die Bombardierung dieser Gebäude ist auch darauf gerichtet, die palästinensische Zivilgesellschaft zu erschüttern und zu zerstören – in den Worten eines Geheimdienstlers, um einen Schock zu kreieren, der dazu führen soll, Zivilisten dazu zu bringen, Druck auf die Hamas zu erhöhen.

Der Bericht von Yuval Abraham zeigt, dass es sich bei der so neuen Taktik der israelischen Armee tatsächlich um – wie er schreibt – „Massentötungen“ handelt, bei denen klar ist, dass sie zu großen Teilen Zivilisten treffen. Das sind durch die Entscheidungen der israelischen Armee in diesem Krieg mutmaßlich produzierte Kriegsverbrechen. Sie haben mit der Achtung des humanitären Völkerrechts nichts zu tun. Diese Massentötungen sind nach einer Unterbrechung von wenigen Tagen Anfang Dezember fortgesetzt worden. Das Ausmaß der Tötungen von Zivilisten erinnert an den Zweiten Weltkrieg und an Vietnam und erfüllt nicht das Ziel, das Netanjahu vorgegeben hat. US-Präsident Joe Biden spricht Anfang Dezember das erste Mal öffentlich kritisch von wahllosen Bombardierungen.

Völkermord?

„Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen Tiermenschen und handeln entsprechend“ (Verteidigungsminister Gallant) Ob es sich bei diesem Krieg, inzwischen im dritten Monat, um Genozid, also um Völkermord handelt, ist umstritten, sollte aber auch hier ernsthaft diskutiert werden. Der renommierte Völkerrechtler Norman Paech geht in „Schwerter aus Eisen“ – Ein Völkermord in Gaza. (3. November 2023 in Nachdenkseiten) davon aus. Das internationale Recht habe seine Kriterien für den Völkermord in Art. II der Völkermord-Konvention von 1948, Art. 6 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes von 1998 und § 6 des deutschen Völkerstrafgesetzbuches von 2002 formuliert. Danach ist „Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.

Zu diesen Handlungen gehören die „Tötung von Mitgliedern dieser Gruppe“, wobei die Anzahl nicht von Bedeutung ist. Sodann heißt es, die „Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe“ sowie „vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“.

Dass es daran leider keine Zweifel geben kann, so Paech, dafür gibt es zu viele eindeutige und radikale Bekenntnisse aus Politik, Armee und Presse. Ob Präsident Jitzchak Herzog am 14. Oktober auf einer Pressekonferenz: „Es ist ein ganzes Volk, das verantwortlich ist. Diese Rhetorik über Zivilisten, die angeblich nicht involviert wären, ist absolut unwahr […] und wir werden kämpfen, bis wir ihr Rückgrat brechen“, oder Premierminister Netanjahu am 8. Oktober: „Wir werden Gaza zu einer Insel aus Ruinen machen“, oder der Sprecher der israelischen Armee, Daniel Hagari, am 10. Oktober in Haaretz: „Wir werfen hunderte Tonnen von Bomben auf Gaza. Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Genauigkeit“ und Verteidigungsminister Yoav Gallant am 9. Oktober im Fernsehen: „Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen Tiermenschen und handeln entsprechend.“ Oder der Generalmajor der israelischen Armee, Ghassan Allan, bei einer Ansprache am 9. Oktober: „Tiermenschen werden entsprechend behandelt, ihr wolltet die Hölle und ihr kriegt die Hölle“ und ein Veteran der israelischen Armee, Ezra Yachin, am 13. Oktober bei einer Ansprache an Reservisten: „Löscht ihre Familien aus, ihre Mütter und Kinder. Diese Tiere dürfen nicht länger leben“, schließlich die Abgeordnete der Regierungspartei Tally Gotliv am 9. Oktober in der Knesseth: „Jericho-Rakete! Weltuntergangswaffe. Das ist meine Meinung. Mächtige Raketen sollen ohne Grenzen abgefeuert, Gaza zerschlagen und dem Erdboden gleichgemacht werden. Ohne Gnade.“

Wer könnte – so Paech – da noch an dem subjektiven Tatbestand, „die Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören“, zweifeln – fast schon geflügelte Worte des Völkermords.  „Raz Segal, israelischer Holocaust- und Genocidforscher an der Stockton University in New Jersey, USA, nennt diesen Krieg – ich zitiere Paech weiter – „einen Lehrbuch-Fall des Völkermords“.

Die Komponenten dieses Kriegs sind in der Tat auch im Vergleich zur Kette der Gaza-Kriege besondere: 1. ihre ideologische Ausrichtung, wie sie in den Zitaten der Verantwortlichen zum Ausdruck kommt; 2. die radikalisierte Taktik der israelischen Armee, bewusst insbesondere große Gebäude, in denen keine Hamas Täter vermutet werden, zu bombardieren und damit hunderte von Zivilisten zu töten. Hinzu kommt 3. die schiere Tatsache der damit verbundenen Tötungen von insgesamt weit über 17.000 sowie 4. die Haltung des nach wie vor entscheidenden Regierungschefs Netanjahu, ein Recht der Palästinenser auf eine eigene Existenz zu verhindern oder sogar zu leugnen. Es ist weiter empirisch zu prüfen, ob die Welt sich mit einem Völkermord in Gaza konfrontiert sieht.

Wie besorgt die Vereinigten Staaten sind, zeigt auch die am 14. Dezember wiederholte Aufforderung an die israelische Kriegführung, den Bodenkrieg in Gaza einzudämmen und Waffenstillstände durchzusetzen.

4. Perspektiven. Dialog? Chance für eine Zwei-Staaten-Regelung?

Saul Friedländer hatte schon im Frühjahr dieses Jahres verzweifelt danach gefragt, wer Netanjahu als externer Akteur in den Arm fallen kann. Dies gilt heute erst recht. Dazu braucht es eine andere Haltung der wichtigsten Verbündeten, der Vereinigten Staaten, der westeuropäischen Staaten und nicht zuletzt der Bundesregierung, die von der Staatsräson spricht, an der Seite Israels zu sein, während Israel selbst seine Staatsräson, die Bewohner sicher zu schützen, verletzt hat, als es in der Abwehr von Hamas am 7. Oktober versagt hat. Der radikalisierte Krieg ist, wenn er so weitergeführt wird und ein Ende nicht absehbar ist, selbst eine weitere Gefährdung der Sicherheit Israels. Daraus ergibt sich, dass es längst an der Zeit ist, als Bundesregierung einen politischen und finanziellen Druck auszuüben, um möglichst die Kampfhandlungen durch einen Waffenstillstand sofort zu beenden. [6]

 „Wenn wir – so der israelisch deutsche Philosoph und Publizist Omri Böhm – weiterhin die Palästinenser ignorieren, endet das in einer Katastrophe.“ Es ist eine Katastrophe für die Palästinenser und Israel. Und selbst Böhm, der sich vehement gegen eine Zwei-Staaten-Regelung gewandt hatte, findet es nun wichtig, mit dem öffentlichen Druck der Vereinigten Staaten auf Israel die Zwei-Staaten-Regelung am Leben zu halten und damit Palästinenser als Rechtssubjekte in der Debatte anzuerkennen und eine politische Lösung herbeizuführen und keine militärische. Er ist erneut darüber irritiert, dass man aus deutscher Sicht nur ein Lippenbekenntnis für eine Zwei-Staaten-Regelung hört und sonst kaum etwas. Gegenwärtig aber sei es so: Wer jetzt die Zwei-Staaten-Regelung fordert, verhindert, dass die Palästinenser weiter ignoriert werden (vgl. Böhm in: Spiegel, 2.12.23).

Um diesen Krieg einzudämmen und mehr noch überhaupt eine Perspektive für ein eigenes Leben der Palästinenserinnen und Palästinenser zu entwickeln – dazu finden sich auch ganz pragmatische erste Schritte, die für Gaza und Westbank empfohlen werden. Der hoch informierte Nahostexperte Daniel Gerlach beschreibt nun immerhin ein Szenario zur gegenwärtigen Konfliktminderung in Gaza ohne die Präsenz des israelischen Militärs. Sondern stattdessen eine temporäre arabische Verantwortung in Gaza. Das setzt voraus, dass Israel sich zunächst zu einer mehrwöchigen Feuerpause bereit erklärt und die flächendeckende Zerstörung stoppt, sodass überhaupt irgendeine Macht sich bereit erklären könnte, Verantwortung zu übernehmen. In einem nächsten Schritt schlägt Gerlach eine Gaza-Konferenz vor (bestehend aus Israel, den USA, der Europäischen Union und den Vereinten Nationen und den Mächten des Sicherheitsrats sowie der palästinensischen Autonomiebehörde und Ägypten, Jordanien, Katar, Marokko und Saudi-Arabien), welche eine Polizei- und Militärmacht unter einer integren arabischen Persönlichkeit zusammenstellt. Parallel sollte eine Versammlung von Experten, Notabeln und respektierten Familien aus dem Gazastreifen einberufen werden, die den Chef einer provisorischen Zivilverwaltung benennt – während Israel ein sofortiges Moratorium für den Bau und die Erweiterung von Siedlungen im Westjordanland, zu jedweden Enteignungen von palästinensischem Besitz sei es in Jerusalem oder auf der Westbank sowie die Entwaffnung von Siedler-Milizen durch die israelischen Streitkräfte durchführt.

Eine friedliche Koexistenz ist womöglich noch immer auf der palästinensischen Seite nicht ausgeschlossen, insbesondere unter jenen, die sich mit israelischen Juden dafür einsetzen, dass palästinensisches Leben in Gaza verteidigt wird – eine Brücke, die alsbald einstürzen kann, so dezidiert Böhm, wenn weiter wie gegenwärtig an einer militärischen Lösung festgehalten wird.

Ich schließe mit einem Bericht der Wochen-taz vom 9. bis 15. Dezember, nach dem Juden und Palästinenser wie Alon Lee Greene und Rula Daood von der Bewegung standing together (im Diktierten steht: to Gaza – ich bin beeindruckt von den freudschen Fehlleistungen meines Computers) gemeinsam für eine friedliche Koexistenz eintreten und vor der Aufgabe ihres Lebens stehen: wir müssen zeigen, dass Frieden möglich und nötig ist.

Anmerkungen

[1] Am 14.12.2023 unwesentlich überarbeiteter Vortrag. Ich bin beeindruckt von der mehr als 2-stündigen Veranstaltung unter der Leitung von Dr. Irmtrud Wojak und einer außerordentlich konstruktiven, die Meinung der anderen achtenden Diskussionsatmosphäre in der Fritz Bauer Bibliothek Bochum.

[2] Vgl. zu Solidarität u. a.: „Nur eine solidarische Welt kann eine gerechte und friedvolle Welt sein.“ (Richard von Weizsäcker, Verantwortung für sozialen Fortschritt und Menschenrechte. 1986)

[3] Haaretz, 14.12.23: „Ben-Gvir’s Ministry Runs ‘Like a Crime Organization Has Taken Over’, The security minister casts fear over his employees and interferes incessantly with their work to promote his political interests, sources say. He surrounds himself with senior police officers to bolster his public image and is ‘obsessed with the media’, another source describes. At the end of the month, Itamar Ben-Gvir will conclude a year in the National Security Ministry – with the entire brass of the ministry gone. The esteemed director-general he brought in as a professional left after incessant intervention by the minister. A replacement Ben-Gvir dropped in, contrary to the position of the Civil Service Commission, was made to leave, having been found to fall short of the most basic criteria for the position.“

[4] Yuval Abraham in „+972“

[5] Haaretz, 9.12.23: „The Israeli Army Has Dropped the Restraint in Gaza, and the Data Shows Unprecedented Killing
The IDF chief of staff recently boasted of the army’s precise munitions and its ability to reduce harm to noncombatants. But the data shows that in the war on Hamas that principle has been abandoned.”

[6] Aus einer Mischung von Verzweiflung und Ohnmacht habe ich dieser Tage in einem Brief den Bundeskanzler gebeten, sich jetzt gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und Präsident Biden für einen sofortigen Waffenstillstand einzusetzen. Es geht m. E. längst nicht mehr nur um das Recht auf Selbstverteidigung, sondern darum, den Konflikt für alle Seiten zu begrenzen und seine Ausweitung auf die gesamte Region mit unabsehbaren Folgen auch für Israel zu verhindern. Es ist in anderen Worten ein Versagen der Bundesregierung und des Bundespräsidenten, und zwar an der deutschen Staatsräson, wenn sie nicht jetzt alles ihnen zur Verfügung Stehende tun, um zu einem Waffenstillstand zu kommen.

Autor: Prof. Dr. Hajo Funke, Politikwissenschaftler (Otto-Suhr-Institut, FU Berlin, em.), Blog: https://hajofunke.wordpress.com/
Header: Robert Bye (Unsplash)
Kontakt: info@fritz-bauer-blog.de

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