Widerstand muss geübt werden

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09.11.2023

Rede zum 9. November 2023

Von Irmtrud Wojak

Wir erinnern an das Pogrom vom 9. November 1938. Es sollte den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern im Nazi-Deutschland vor 85 Jahren mit aller Härte und Brutalität zu verstehen geben, dass es für sie kein Überleben in Deutschland mehr gab. Ungefähr 400 Menschen wurden getötet oder in den Suizid getrieben.

Jetzt prägt sich der 7. Oktober 2023 in die Reihe dieser Tage mörderischer Gewalt und des Terrors in die Geschichte ein – erneut mit einem antisemitischen Pogrom. Dieses Mal durch den brutalen Angriff der Terrororganisation Hamas auf Männer, Frauen und Kinder in Israel – 1.400 Menschen wurden ermordet.

Es ist der furchtbarste und bitterste Tag in der 75jährigen Geschichte des Staates Israel. Des Staates, der nach seiner Gründung im Jahr 1948 für die Verfolgten eine Heimstatt werden sollte. Der Holocaust-Überlebende Saul Friedländer schreibt dazu in seinem aktuellen israelischen Tagebuch, in dem er mit der gefährlichen Politik der Regierung der letzten Jahre abrechnet und die Katastrophe quasi vorhersieht:

„Meine Eltern kamen nie an die Reihe, ein Flüchtlingszertifikat (für Palästina – I.W.) zu erhalten. Sie wurden in Auschwitz ermordet.“ „Welche sonstigen moralischen Rechtfertigungen es für den Zionismus auch immer geben mag“, fährt Friedländer bitter fort, „die einzige unbestreitbare, wenn auch posteriori auf der Einwanderung nach Palästina bis 1945 beruhende, ist die, dass diese Einwanderung, ohne dass dies irgendjemand hätte vorhersehen können, nicht nur für einige eine letzte Zuflucht war, sondern tatsächlich das Leben von einer halben Million europäischer Juden gerettet hat. Die Kinder dieser Einwanderer wurden in Palästina und später dann in Israel geboren; die Entwicklung danach war, wie sie war.“ (*)

Jetzt sind Kinder und Enkel der Überlebenden aus Deutschland und Europa, die den Nationalsozialisten nach dem Pogrom vom 9. November 1938 in letzter Minute entkommen und die sich in Israel ein neues Leben aufbauen konnten, ausgerechnet hier selber zu Überlebenden geworden.

Die Mitglieder der Terrororganisation Hamas haben sich nicht gescheut, ihren über Jahre geplanten Angriff zu filmen und die menschenunwürdigen Taten ins Internet zu stellen. Wie sie in die Kibbuzim an der Grenze zu Gaza einfallen, Männer, Frauen und Kinder regelrecht abschlachten und über 240 Geiseln in ihre Gewalt bringen, darunter viele alte Menschen, Kinder und dreißig Babys. Es ist schwer zu ertragen, dass andernorts die Bilder dieses Pogroms mit Jubel begrüßt und in den so genannten sozialen Medien geteilt werden.

Die Geiseln befinden sich jetzt in Tunneln unter der Erde im Gaza-Streifen, ein System, das die Hamas anlegte, um Israel angreifen zu können. Was die Menschen vielleicht einzig am Leben erhält, ist das Gedenken ihrer Familien und ihrer Freundinnen und Freunde.

„Solange eines Menschen gedacht wird, ist er nicht tot“, so erinnerte sich der Jurist und Holocaust-Überlebende Fritz Bauer 1963 in einer Gedenkrede an Anne Frank. (**) Die Nazis hatten das junge Mädchen erst nach Auschwitz deportiert und dann im Konzentrationslager Bergen Belsen umgebracht.

Das Jahr 1963 war auch das Jahr des Beginns des Auschwitz-Prozesses, den der Jurist Fritz Bauer initiierte. Anne Frank verkörperte für ihn das unschuldige Opfer. „Wir hier gedenken der Anne Frank“, betonte der Jurist und er fuhr fort: „Wieviele sonst? Solange eines Menschen gedacht wird, ist er nicht tot. Auch der lebendige Mensch bedarf des Gedenkens, sonst siecht er dahin und stirbt. Gedenken kann am Leben erhalten oder doch das Sterben oder Erschlagenwerden erleichtern.“

Fritz Bauer dachte an die Einsamkeit des Menschen. Er selbst überlebte KZ-Haft, Gefängnis und fast 13 Jahre als Flüchtling, während der NS-Besatzungszeit in Dänemark, wo die Gestapo ihn suchte, teilweise im Versteck. Im Mai 1949, kurz vor der Verabschiedung unseres Grundgesetzes, kehrte er nach Deutschland zurück. Sein Hauptanliegen war fortan, an diejenigen zu erinnern, die den Verfolgten halfen.

Bauer versetzte sich in die junge, den Tod fürchtende Anne, in ihren Traum von ihrer Freundin Lies, der Annes heißen Wunsch spiegelte, so Bauer, „die Welt, die Umwelt, nicht zuletzt die deutsche Umwelt“ möge handeln wie Lies in ihrem Traum. Die Mitwelt möge „der Erniedrigten und Beleidigten, der Mühseligen und Beladenen in Liebe und Mitgefühl gedenken und ihnen helfen.“

Die Rede Bauers war eine intellektuelle und emotionale Kraftanstrengung. Er wollte die in den 1950er und zu Beginn der 60er Jahre herrschende trübe Exkulpationsstimmung mit ihren Fragetabus durchbrechen, dem Recht und der Pflicht zum Widerstand zu neuer Geltung verhelfen. Immer wieder kam der Jurist auf die Frage zurück. „War es wirklich so schwer, der Trägheit des Herzens Widerstand zu leisten und sich wenigstens Gedanken zu machen?“

Für den Juristen ist das Mädchen Anne Symbol für die Millionen und Abermillionen Menschen gleich welcher Herkunft, Religion oder Nation, die als Opfer von Gewalt starben und sterben. Er sagt: „Anne Frank vertritt die Verfolgten, die Unglücklichen, wo immer sie lebten und leben, litten und leiden, starben und sterben, weil der Staat Unrecht tut oder duldet.“

Heute können wir sagen, Annes Widerstand bestand darin, dass sie durch ihr Tagebuch selbst Zeugnis ablegte von dem Unrecht, das ihr geschah. Sie hat ihre Geschichte vom Kampf ums Überleben eigenhändig aufgeschrieben. Auch die Geschichte der Menschen, die ihr und ihrer Familie halfen. Jetzt ist es an uns, diese Geschichte weiterzuerzählen.

Am heutigen 9. November 2023 ist es ebenso an uns, den Geiseln der Hamas in Gaza zu gedenken und uns mit einer wahrhaft tapferen israelischen Zivilgesellschaft zu solidarisieren, die sich auch in dieser bitteren Situation als stabil und widerständig erweist. Sie verdient unseren größten Respekt und jene Bruderschaft im Herzen, von der Fritz Bauer so sehr gehofft hat, dass sie aus der Erfahrung der Grausamkeiten und des Terrors der Jahre 1933 bis 1945 endlich entstehen würden.

Wir sind solidarisch mit den Opfern und Überlebenden des mörderischen Terrors der Hamas und fühlen mit ihnen. Ausgehend vom Vermächtnis Fritz Bauers als Stimme der Überlebenden und ihres Widerstands gegen den Nationalsozialismus sind wir an ihrer Seite.

Und lassen Sie mich dies an dieser Stelle ebenso betonen, ohne Fragezeichen und ohne Einschränkung: Wir sind ebenso solidarisch und fühlen mit den Männern, Frauen und Kindern des Gaza-Streifens, die die Hamas für ihre Zielsetzungen als Schutzschilde benutzt und die jetzt bei den israelischen Vergeltungsschlägen gegen die Hamas zu Tausenden zu unschuldigen Opfern und Leidtragenden werden.

„Widerstand muss geübt werden“ – diese Aufforderung Fritz Bauers nach seinem jahrelangen Kampf gegen das Nazi-Regime und gegen das Vergessen und Verdrängen nach 1945/49 begleitet mich seit vielen Jahren. Wir haben diese aufmunternde Aufforderung Bauers, die sich bei vor allem an die Jugend richtete, schon vor Monaten als Motiv für denheutigen Tag ausgewählt.

Ich möchte damit schließen, dass der brutale Terroranschlag der Hamas Fritz Bauers Forderung aktuell unendlich traurigen Nachdruck verliehen hat. Opposition und Wachsamkeit, offene Empörung und ziviler Ungehorsam tun not:

gegenüber wachsendem Autoritarismus und den erkennbaren Vereinfachungen von Medien, die keineswegs unparteiisch und objektiv sind,

gegenüber religiösem Extremismus und der Ausgrenzung von Minderheiten, speziell gegenüber dem Versuch, heimischen Antisemitismus als ein eingewandertes Migrationsproblem abzuschieben und für eine kurzfristige Verschärfung der Asylgesetzgebung zu benutzen,

und gegenüber einem selbstvergessenen Nationalismus, als dessen Kehrseite immer schon hasserfüllter Antisemitismus daherkam.

Vor allem, meine ich, müssen wir eines, nämlich den israelischen und den palästinensischen Stimmen viel mehr zuhören und mit ihnen viel mehr ins Gespräch kommen. Denn die Aufstellung von Geboten und Verboten, immer neuen Gesetzen, werden nichts verändern, genauso wenig wie Aufklärung allein genügt. Fritz Bauer, mit dem ich hier enden möchte, drückte dies so aus:

„Gebote und Verbote, die gehalten werden sollen, verlangen einen Urgrund des Fühlens, den zu schaffen allen staatlichen Gewalten, allen sozialen Gruppen, allen Fakultäten aufgegeben ist. (…) Es ist ein Klima der Toleranz und Anerkennung erforderlich, aus der die Solidarität mit allem Menschlichen erwächst.“ (***)

Rede auf Einladung des Forums “Demokratie-Respekt-Vielfalt” in Haltern. Der Titel ergab sich aus einem Gespräch über das Erinnern als Widerstand und bezieht sich auf Fritz Bauer, der sagte, dass der Widerstand in den Tagen des großen Unrechts den kleinen Widerstand im Alltag voraussetzt, Widerstand muss geübt werden.

(*) Saul Friedländer, Blick in den Abgrund. Ein israelisches Tagebuch. München: C. H. Beck, 2023, S. 75.
(**) Vgl. die folgenden Zitate in Fritz Bauer, “Lebendige Vergangenheit (1963)”, in: Ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Peres und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main: Campus, 1998, S. 157-165.
(***) Vgl. Fritz Bauer, “Nach den Wurzeln des Bösen fragen (1964)”, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Nr. 4, 28. Jg. (2025), S. 120-125, hier S. 124.

Autorin: Dr. Irmtrud Wojak
Kontakt: info@fritz-bauer-forum.de

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