Ein|Ausblicke 11/2023

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01.12.2023

Ein|Ausblicke 11/2023

„Die Wahrung der Menschenrechte lebendig halten, durch die Erinnerung an mutige Frauen und Männer“

Mit diesen Worten überschrieb Staatssekretärin Dr. Daniela Brückner gestern ihre Presseerklärung anlässlich einer Veranstaltung mit dem spanischen Juristen und Ankläger des Ex-Juntagenerals Pinochet, Dr. Juan Garcés, auf Einladung  des Fritz Bauer Forums, die im Bochumer Justizzentrum stattfand und zu der auch das Bochumer Bündnis „Solidarität und Erinnerung“ einlud (siehe dazu weiter unten).

Man kann dies auch als Motto über die gesamte Reihe der Lateinamerika-Veranstaltungen des Fritz Bauer Forums zusammen mit der Amnesty International Ko-Gruppe Bochum und dem Bündnis „Erinnerung und Solidarität“ setzen. Die Reihe der Veranstaltungen wurde im November fortgesetzt.

Workshop und Film: „Lebendige Vergangenheit und autoritärer Staatsapparat in Peru – Der Kampf der Menschenrechtsaktivist*innen für Klimagerechtigkeit und Freiheitsrechte“

Korruption, Militärs und Ultrarechte untergraben seit Jahren die demokratische Entwicklung und das Zusammenleben in Peru. Wie der Kampf um Menschenrechte und die Organisation von sozialem Protest in einem solchen Umfeld aussehen können, zeigten uns der peruanische Dokumentarfilmer, Ethnologe und Menschenrechtsaktivist Heeder Soto und die Managerin von Saywafilms Kerstin Kastenholz am 02. November.

Eingestiegen sind wir in den Workshop mit Hilfe von Fotos rund um Peru. Die Teilnehmenden suchten sich je zwei der Bilder aus und tauschten sich so über ihr Wissen und ihre Erfahrungen aus und stiegen in das Gespräch ein. Ebenso wurden die für den Übergang zum eigentlich Thema der Veranstaltung genutzt, indem sie die schönen touristischen Seiten Perus, der Kultur und Landschaft, zeigten. Zusammen mit kurzen Filmausschnitten aus seinem neusten Film (Vientos y Memorias), berichtete Heeder Soto von seinen Erfahrungen während des Bürgerkriegs in Peru, dem zwischen 1980 und 2000 um die 70.000 Menschen zum Opfer fielen. Davon waren circa 75% Teil der marginalisierten indigenen Bevölkerung Perus. Zu Grunde lag dem Konflikt ein rassistisches Motiv, von dem insbesondere die indigene Bevölkerung betroffen war und ist. Ein weiteres Thema war der Versuch der Aufarbeitung, den es seit den 2000er Jahren gibt. Zum einen wurde eine „Wahrheitskommission“ gebildet, die 2003 einen Bericht herausgab, der aber viele Probleme des Konflikts nicht aufgreift – sexuelle Übergriffe tauchen zum Beispiel kaum in dem Bericht dort auf. Ein weiterer Kritikpunkt ist der Mangel an Beweisdokumenten, der dazu führt, das Täter*innen nicht angeklagt werden. 2015 wurde in Lima ein „Ort der Erinnerung“ (Lugar de la Memoria) eröffnet, ebenso entstanden kleinere Gedenkorte in den peruanischen Anden. Dies sei ein guter Anfang der Auseinandersetzung mit der Geschichte und Gewalt, aber die Aufklärung in Schulen und ärmeren Teilen der Bevölkerung müsse noch weiter vorangetrieben werden.

Am Abend zeigten wir Heeder Sotos Film Titicaca entre oro y mercurio / Titicaca zwischen Gold und Quecksilber“.

Workshop und Film: „Aktives Erinnern in Uruguay“

Yannik Holsten, der aktuell in Hamburg Jura studiert, kam am 07. November 2023 nach Bochum, um über der Erinnerungskultur in Uruguay zu sprechen, wo er dieses Jahr ein von der BUXUS STIFTUNG mitfinanziertes halbjähriges Praktikum im Bertolt Brecht Haus (Casa Bertolt Brecht) absolvierte.

Während seines Aufenthalts in Uruguay konnte Yannik Holsten mehrere Zeitzeug*innen der zivil-militärischen Diktatur interviewen. Diese war nach dem Staatsstreich 1973 errichtet worden und dauerte bis 1985 an. Der Workshop begann mit einer Diskussion um den Begriff der ‚Erinnerungskultur‘ und es entspann sich ein Gespräch darüber, was die Teilnehmenden darunter verstehen. Schon bald wurde ein wesentlicher Unterschied der deutschen Erinnerungskultur zu der in Uruguay deutlich: In Uruguay wird der feststehende Begriff „Memoria, Justicia y Verdad“ oft als Forderung an staatliche Stellen gerichtet. Die Erinnerungskultur ist ganz wesentlich mit dem aktiv verstandenen Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit verbunden und sie ist politischer im Sinne von gegenwartsbezogener, als dies in Deutschland der Fall ist.

Im Anschluss lasen die Teilnehmenden einen Ausschnitt aus einem Interview von Y. Holsten mit dem Künstler und Aktivisten Elbio F., der sich 1970 der Guerrillagruppe der „MLN-Tupamaros“ angeschlossen hatte. Aufgrund dessen wurde er 1972 verhaftet und zwölf Jahre ins Gefängnis gesperrt, bis er 1985 aufgrund der zunehmenden Demokratisierung des Landes und eines Amnestiegesetzes entlassen wurde. Zur Einordnung des Interviews gab Yannik Holsten hilfreichen Kontext, beispielsweise zu den verschiedenen Phasen der Diktatur in Uruguay und den aktuelleren politischen Entwicklungen. Aus dem Interview wurde deutlich, dass der persönliche Einsatz von Elbio F. zur Erinnerung stets in politischen Aktivismus eingebettet war. So wurde er zum Beispiel Leiter eines Projekts, das den Aufbau eines „Museo de la Memoria“ („Museum des Erinnerns“) in Montevideo zum Ziel hatte. Dieses Museum verfolgt ein spannendes Konzept der Verquickung von Musealisierung und Aktivismus, denn es ist die Zivilgesellschaft, die über die Ausstellungsobjekte entscheidet. Besonders eindrücklich war ein Zitat von Elbio F. über die Erinnerungskultur („memoria“) in Uruguay: „Die memoria ist etwas, das nicht in der Vergangenheit liegt, sondern in der Gegenwart und wir sind dabei, ihr eine Form zu geben. […] Die memoria erhellt uns die Gefahren der Gegenwart.“ Sie sei aber gleichzeitig ein stets neuer Kampf.

Anhand eines weiteren Interviews mit der Zeitzeugin Lilian T. wurde die oft von Überlebenden empfundene Scham besprochen, überlebt zu haben, während Angehörige oder Freunde ermordet wurden, was das Bewusstsein der Verantwortung dafür bestärkt, die eigene Geschichte zu erzählen. Die beiden Interviews verdeutlichten, dass die Erinnerung an die Militärdiktatur in Uruguay in starkem Maße von Akteur*innen der Zivilgesellschaft ausgeht und welche wichtige Rolle sie dabei spielen.

Die Geschichten von Elbio F. und Lilian T. sowie eine Transkription der Interviews werden demnächst auch auf der Webseite der Überlebensgeschichten. Die interaktive Fritz Bauer Bibliothek nachzulesen sein.

Insgesamt konnte der Workshop auf spannende Weise einen Einblick in die Entstehung der Erinnerungskultur in Uruguay und ihre Besonderheiten bieten. Dank der Ausschnitte aus den beiden Interviews konnte deren Entstehung konkret diskutiert werden. Der anschließend gezeigte FilmCompañeros – La Noche de 12 Años / Die Zwölfjährige Nacht” handelte von der zwölf Jahre dauernden Inhaftierung des Schriftstellers Mauricio Rosencof, des späteren Verteidigungsministers Eleuterio Fernández Huidobro und des späteren Staatspräsidenten José Pepe Mujica. Der Film bot eine bildgewaltige Ergänzung dessen, was zuvor im Workshop gelernt und besprochen worden war. Im Kopf blieb vor allem der Widerstand und die Solidarität der Gefangenen trotz brutaler Folter und Isolationshaft. So verständigten sie sich beispielsweise mit Klopfzeichen untereinander und spielten auf diese Weise Schach oder tauschten wertvolle Informationen aus.

Panel-Diskussion: Die aktuelle Situation der Menschenrechte in Peru

Eine Woche nach dem Peru-Workshop mit Kerstin Kastenholz und Heeder Soto fand am 10. November eine Panel-Diskussion zur Lage von Menschenrechtsaktivist*innen und der aktuellen Entwicklung in Peru statt. Die Diskussion nahmen der Bochumer MdB Max Lucks (B90, die Grünen) teil, der als Obmann im Ausschuss für Menschenrechte des Deutschen Bundestages und Experte zum Thema der transnationalen rechten Bewegung sowie der Bedrohung der Rechte queerer Menschen und Frauen in Peru sprach, Sara Leman, die über die Arbeit von Amnesty International Bochum und als Mitglied der Ko-Gruppe Chile/Venezuela von Amnesty International/ Deutschland vor allem über die rassistische Gewalt durch Sicherheitskräfte und die Diskriminierung von Geflüchteten berichtete, sowie Vanessa Schaeffer Manrique, Rechtsanwältin, Bergbau- und Menschenrechte-Referentin in der Diözese Freiburg und Vertreterin von Red Muqui (Peru) in Deutschland. Das Gespräch moderierte Martin von Berswordt-Wallrabe.

Ausgangslage der Diskussion waren vor allem die Ereignisse um die Amtsenthebung des linksgerichteten Präsidenten Pedro Castillo im Dezember 2022 und die daraus resultierenden Proteste und Demonstrationen, bei denen es zahlreiche Verletzungen und auch Tote gab. Amnesty International machte vor allem die Beobachtung, dass ein großer Teil der Verletzten und Toten Minderheiten betraf und untermauerte die Beobachtung der rassistisch motivierten Gewalt von polizeilichen Sicherheitskräften.

Allerdings lässt sich auch beobachten, dass, in großen Städten wie Lima, Aktivist*innen und NGOs trotzdem relativ frei agieren können. Es lässt sich auch ein Shift in Peru feststellen, die soziale Bewegung ist stark, und das lässt Hoffnung schöpfen.

Alle drei Panel-Teilnehmer*innen waren sich einig: Die gewaltsame Entwicklung war vorher schon absehbar, es gab einige Vorboten, sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft, die aber als solche nicht ernst genommen wurden. Wobei es Unterschiede in der Lage in den ländlichen und städtischen Regionen gibt, ebenso ist die wirtschaftliche Entwicklung durch das konservative Parlament für einige von Vorteil ist, weswegen weniger Stimmen des Protest laut wurden.

Viel wurde auch über die Frage diskutiert: Was können wir in Deutschland respektive in Bochum tun? Die Politik darf den rechts orientierten, nationalistischen politischen Machthabern nicht mehr „den roten Teppich ausrollen“, betont dazuMax Lucks, sie müssen für ihr Fehlverhalten offen kritisiert werden.

Die Zivilgesellschaft kann vor allem Organisationen in Peru selbst unterstützen, die sich für die Menschenrechte vor Ort stark machen, wie NGOs oder andere Gruppen, sie kann ebenso hier in Deutschland die Aufklärungsarbeit über Menschenrechte in Peru unterstützen.

Buchvorstellung in Madrid: Fritz Bauer. Biografía 1903-1968

(c) Jorge Rosenvinge

„Dass Fritz Bauer trotz aller Widrigkeiten all das tun konnte, was er tat, erscheint uns unglaublich.“ So beschreibt der wohl bekannteste spanische Schriftsteller Antonio Muñoz Molina das Leben und Wirken unseres Namensgebers Fritz Bauer.

Dessen Biografie, verfasst von Forums-Gründerin Irmtrud Wojak, ist jetzt in spanischer Übersetzung vom BERG INSTITUTE (Madrid) in seiner renommierten Reihe Literatura y Derechos Humanos publiziert worden. Zusammen mit der Deutschen Botschafterin Maria Margarete Gosse und dem Vizepräsidenten der Universidad Complutense de Madrid stellte das Institut, mit dem die BUXUS STIFTUNG seit mehreren Jahren kooperiert, am 15. November im vollen Saal der Fundación Giner de los Ríos vor.

Die Biografin von Fritz Bauer spielte in ihrer Rede aus aktuellem Anlass auf die Worte an, die Fritz Bauer 1963 zu Beginn des Auschwitz-Prozesses gehalten hat. In seiner sehr persönlichen Rede erinnerte der Jurist an Anne Frank als stellvertretendes Symbol für alle, die vom NS-Regime in den Konzentrationslagern unterdrückt und ermordet wurden. Fritz Bauer reflektierte über die Einsamkeit des Menschen als Überlebender des Holocaust, er betonte die Aufgabe, derer zu gedenken, die den Verfolgten geholfen haben, und stellte die Frage nach den Möglichkeiten, sich der Unterdrückung zu widersetzen. Bauer sah Anne Frank, wie die Historikerin betont, stellvertretend für alle Verfolgten, Unglücklichen und für alle, die als Opfer ungerechter staatlicher Gewalt starben und sterben.

Die Rede ist hier in deutscher und spanischer Sprache nachzulesen und auf You Tube vom Berg Institute und der Universidad Complutense de Madrid dokumentiert.

Workshop und Film: „Mexiko: Zwei Welten“

Der Workshop am 16. November 2023 wurde von dem Literaturwissenschaftler Mathias Sasse geleite, der selbst dreizehn Jahre lang in Mexiko gelebt hat und verschiedene Bücher zum Thema Mexiko ins Deutsche übersetzt hat.

Ausgehend vom in Mexiko weit verbreiteten Sprichwort „Jede Regierung ihr eigenes Drogenkartell“ beleuchtete Mathias Sasse in dem Workshop die verschiedenen Regierungen im Mexiko der vergangenen Jahre und die jeweilige Situation im Kampf gegen die Drogen. Neben den blutigen Verteilungskriegen zwischen den Drogenkartellen ist in Mexiko auch der Staat selbst am Drogengeschäft beteiligt. So schützen zum Beispiel Militärs oft die Handelsrouten für Drogen und bis 1970 waren auch Politiker*innen in den Drogenhandel involviert. Erschwert wurde der Kampf gegen die Drogen auch durch das politische System, innerhalb dessen sie die Partei „PRI“ 70 Jahre lang an der Macht hielt, was unter anderem daran lag, dass sie Oppositionsparteien unterdrückte und Wähler*innenstimmen erkaufte. Wichtig zu betonen ist aber, dass in Mexiko stets auch Aspekte der Sozialpolitik eine große Rolle spielten und vor allem zu Zeiten der „PRI“ viele Exilant*innen aus anderen lateinamerikanischen Ländern in Mexiko aufgenommen wurden.

Neben einem Einblick in die Maßnahmen der verschiedenen Regierungen bekamen die Teilnehmenden auch Input zu den Vorgehensweisen der verschiedenen Drogenkartelle und ihren jeweiligen Anführern. Mathias Sasse wies dabei auch auf die Unterscheidung zwischen organisierter Kriminalität und Drogenkriegen hin, da die Drogenkartelle nicht gegen die Bevölkerung vorgingen, sondern lediglich gegen „Konkurrenz“ bei ihren Geschäften. Im Bereich der organisierten Kriminalität hingegen wird auch gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen, zum Beispiel in Form von Entführungen. Thematisiert wurde in dem Kontext die Entführung von 43 Studierenden im Jahr 2014, die bis heute verschwunden sind. In der Zivilgesellschaft spielt die Erinnerung an diese 43 Studierenden eine große Rolle, sie wurde auch im Film thematisiert, der später am Abend zu sehen war.

Diesen eher düsteren Eindruck von Mexiko kontrastiere Mathias Sasse mit einem Einblick in die Geschichte der mexikanischen Aktivistin Gabriela Brimmer. 1947 mit Cerebralparese geboren, konnte sie sich nicht bewegen, mit der Ausnahme ihres linken Fußes. Ihr Leben lang setzte sie sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein und konnte so ein Umdenken in der mexikanischen Gesellschaft bewirken. Ihr beeindruckendes Engagement wurde unterstrichen durch die Lesung einer Textstelle aus ihrer Autobiografie „Zu leben, zu kämpfen und wir selbst zu sein“, die in der deutschsprachigen Übersetzung in der BUXUS EDITION zu erwerben ist.

Nach der Pause und einer kleinen Stärkung wurde in der Fritz Bauer Bibliothek der Film „Silence Radio“ gezeigt. Er begleitet die Protagonistin Carmen Aristegui, eine mexikanische Journalistin, die aufgrund ihrer Recherchen, die einen Korruptionsskandal rund um den mexikanischen Präsidenten Peña aufdecken, als Radiojournalistin entlassen wird. Die Kamera begleitet sie bei ihrem Weg zu ihrer eigenen Internetsendung und in ihrem Kampf um Meinungs- und Pressefreiheit. Trotz stetiger Kampagnen gegen sie, die versuchen, sie zu diskreditieren und den vielen Morddrohungen und Ermordungen anderer Journalist*innen gibt Carmen Aristegui nicht auf und macht gemeinsam mit ihrem Team weiter. Viele der im Workshop angesprochenen Themen fanden sich im Film wieder und ließen sich daher gut einordnen. Wenn der Film auch vor allem die schwierigen Umstände ihrer journalistischen Arbeit porträtiert, gibt es dennoch Hoffnung. So spricht Aristegui am Ende des Films davon, dass Optimismus eine moralische Pflicht sei. Mit diesen Worten im Kopf ging der letzte Workshop-Abend der Lateinamerika-Reihe im Fritz Bauer Forum zu Ende.

Vortrag und Diskussion mit Dr. Juan Garcés: „Der Kampf gegen die Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Chile“

Dr. Juan Garcés (c) Fritz Bauer Forum | BUXUS STIFTUNG, Richard Lensit

Mit dem Vortrag des spanischen Juristen, Anwalts und Verfassungs-, Politik- und Wirtschaftswissenschaftlers Dr. Juan Garcés endete unsere gemeinsam mit der Amnesty International Ko-Gruppe Bochum durchgeführte Veranstaltungsreihe „Memoria Viva | Lateinamerika im Aufbruch“. Anders als bei den vorherigen Veranstaltungen sprach Juan Garcés diesmal nicht in der Fritz Bauer Bibliothek, sondern im Bochumer Justizzentrum, dessen Vizepräsidentin Christiane Kroll damit erneut die erfolgreiche Zusammenarbeit bestärkte. Wie schon bei der Vorstellung der interaktiven Webseite über Fritz Bauer zu Beginn des Jahres waren die Gäste auch diesmal zahlreich. Begrüßt wurden sie von Landgerichtspräsidentin Christiane Kroll, von Staatssekretärin Dr. Daniela Brückner, von Knut Rauchfuss von der Medizinischen Flüchtlingshilfe sowie von der Leiterin des Fritz Bauer Forums Dr. Irmtrud Wojak.

Seinen beeindrucken Vortrag Begann Juan Garcés rückblickend mit der Dokumentation eines parteiübergreifenden Protest-Telegramms chilenischer Abgeordneter an Adolf Hitler, mit dem diese gegen die Judenverfolgung am 9. November 1938 protestierten und das auf Initiative Salvador Allendes zustande kam. Der Jurist zeigte damit die demokratischen Geschichte Chiles auf, der mit dem Putsch des Generals und Verräters Augusto Pinochet ein brutales Ende gesetzt wurde.

Anhand von einschlägigen Dokumenten zeigte der Jurist Juan Garcés auf, wie seitens der USA nach dem Wahlsieg von Dr. Salvador Allende und noch bevor überhaupt dessen Regierung die Arbeit am 4. November 1970 aufnahm, bereits ein Putsch geplant wurde und die entsprechenden Stellen in Chile hierfür mobilisiert und aufgerüstet wurden. Während Salvador Allende drei Jahre lang versuchte, einen Bürgerkrieg in Chile zu verhindern, setzten die USA und schließlich auch ein Teil des Militärs, das die Regierung im Stich ließ und verriet, alle nur denkbaren Hebel in Bewegung, um die Regierung von Allende und dessen friedlichen Weg zu einer sozialeren und ökonomisch gerechteren Gesellschaft zu destabilisieren und so schnell wie möglich zu stürzen. Auf geradezu groteske Weise schürten sie die Angst vor einem Übergreifen des demokratischen Weges Chile auf Länder in Westeuropa, insbesondere auf Italien und Frankreich, was aus Sicht der USA  eine Schwächung der NATO bedeuten würde.

Juan Garcés verdeutlichte die Spirale der Gewalt, die von den der amerikanischen Regierung Nixon und seines Beraters Dr. Henry Kissinger in Gang gesetzt wurde und wogegen die Regierung Allendes in Chile – eines Landes mit damals 11 Millionen Einwohner*innen – letztlich chancenlos blieb. Die Demokratie in Chile endete nach dem Militärputsch 1973 brutal mit tausenden Ermordeten, Abschaffung der Kunst- und Meinungsfreiheit, Verbot der Gewerkschaften und der demokratischer Parteien. Anstelle der pluralen und auf den Freiheitsrechten beruhenden Verfassung, die Allende und sein politischer Berater Juan Garcés in Chile bestärken und ausbauen wollten, trat 1980 die das autoritäre Militärregime stärkende Verfassung der Diktatur, mit der zugleich die Implementierung einer neoliberalen Ökonomie bestärkt wurde.

Dass auf Grundlage dieser Verfassung eine juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur nach deren Ende und dem Plebiszit von 1989 von Anfang an nicht vorgesehen war, vermag nicht zu überraschen. Umso wichtiger und völkerrechtlich bedeutsamer war der Erfolg des Anwalts und ehemaligen Beraters Allendes, Juan Garcés, als es ihm schließlich 1998 vor dem Hintergrund des beendigten Kalten Krieges und aufgrund der Besonderheiten des spanischen Rechtssystems gelang, einen internationalen Haftbefehl gegen den in London weilenden Ex-Juntachef Pinochet zu erwirken.

Alles was danach kam, ist Geschichte und weiterhin hoch aktuell. Pinochet wurde in London inhaftiert und auch wenn er später wieder nach Chile zurückkehren konnte, war dies der Anfang der Straflosigkeit für den von ihm begangenen Verrat und für die unter seiner Führung begangen Verbrechen. Juan Garcés, der im Namen der Opfer Anklage gegen Pinochet erhob und dafür tausende Dokumente und Zeugenaussagen sammelte (er ist Präsident der Fundación Salvador Allende in Madrid), setzte neue Maßstäbe für die internationale Gerichtsbarkeit und den Kampf gegen die Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschheit. In Chile, wo die Gerichte aufgrund der personellen Kontinuität nach der Militärregierung – vergleichbar Deutschlands nach der NS-Diktatur –  jahrzehntelang den Opfern und Überlebenden verschlossen blieben, öffneten sich diese nach der Verhaftung Pinochets für die Opfer und Überlebenden, die endlich die Verantwortlichen vor Gericht sehen wollten. Zurück in seinem Heimatland starb Ex-Juntageneral Pinochet im Hausarrest. während die Gerichte, die zu Komplizen des autoritären Systems geworden waren, jetzt begannen, Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur zu verurteilen. (Bereits 2010 hatten Chiles Richter mehr Offiziere und Offizielle der Militärdiktatur verurteilt, als jedes andere lateinamerikanische Land mit einer ehemaligen Militärregierung.)

Was ein einzelner Anwalt leisten kann, wenn er die Gunst der politischen Stunde erkennt, das bestehende Recht anwendet und eben auch den Zufall nutzt – in dem Fall, dass Pinochet nach London reiste – machte Juan Garcés in seinem Vortrag mit Humor und in allen Details deutlich. Wieviel Aufopferung dazu gehört, wieviel Kenntnis und was dies für etwas mehr Gerechtigkeit für die Opfer und Überlebenden von Verbrechen gegen die Menschheit bedeutet, lässt sich nach diesem Abend nicht mehr nur erahnen, sondern dürfte auch Unbeteiligten hoffentlich klar geworden sein.

Juan Garcès wurde 1999 für seine Bemühungen, Pinochet vor Gericht zu bringen, mit dem Right Livelihood Award ausgezeichnet. Er sei, formulierte Staatssekretärin Dr. Brückner, „ein lebendes Vorbild und beeindruckendes Sinnbild dafür, dass es sich lohnt, den Kampf gegen die Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzunehmen und zu führen, dauere es auch noch so lange und sei es auch noch so schwierig.” Weiter erklärte sie: „Herrn Garcés gilt mein aufrichtiger und größter Respekt für seine jahrelange, herausragende Tätigkeit und seinen unermüdlichen Einsatz im Kampf gegen die Straflosigkeit der in Chile während der Militärdiktatur von Augusto Pinochet und seinem Machtapparat begangenen entsetzlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.

Foto im Header: Richard Lensit

Kommende Veranstaltungen:

8. Dezember, 18:00 – 21:00 Uhr: Tag der Menschenrechte „Meinung. Freiheit. Meinungsfreiheit?“, Anneliese Brost Musikforum. Weitere Infos hier.

12. Dezember, ab 18:00 Uhr: Vortrag und Gespräch mit Hajo Funke „Solidarität am Rande des Abgrunds“, Fritz Bauer Bibliothek. Weitere Infos hier.

18. Januar, ab 17:30 Uhr: Vortrag und Diskussion mit Moshe Zimmermann „Solidarität und Staatsräson“, Justizzentrum Bochum. Weitere Infos hier.

1. Februar, 18:00 – 19:30 Uhr: Workshop zu Martin Luther King Jr. mit Julia Machtenberg, Fritz Bauer Bibliothek. Weitere Infos hier.

7. Februar, 16:00 – 17:30 Uhr: Mittwochsgespräche mit Anja Stuckenberger und Irmtrud Wojak zur Situation in Israel und Palästina, Fritz Bauer Bibliothek. Weitere Infos hier.

16. Februar, 18:00 – 19:30 Uhr: Die Unsichtbarkeit schwarzer Frauen im Aktivismus mit Rahab Njeri, Fritz Bauer Bibliothek. Weitere Infos hier.

29. Feburar, 18:00 – 19:30 Uhr: Workshop zu Audre Lorde mit Julia Machtenberg, Fritz Bauer Bibliothek. Weitere Infos hier.

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